Gastbeitrag von Peter und Alessandra Seitz
Peter Seitz habe
ich vor deutlich mehr als zehn Jahren beim Augsburger Tango kennengelernt – als
fantasievoll auflegenden DJ und hervorragenden Tänzer. Vor allem die Abende in
der Kultkneipe „Kervansaray“ werden
mir unvergesslich bleiben. Wenn Peter und seine damalige Partnerin „ganz
normal“ auf dieser Milonga tanzten, ergaben sich oft magische Momente. Wir
hatten damals wenig persönlichen Kontakt (was wohl an unserer gemeinsamen
Eigenschaft liegt, lieber zu tanzen als zu reden) – aber heute muss ich es
gestehen: Er war für mich ein tänzerisches Vorbild, dem ich auch in meinen
Tangobüchern ein Denkmal gesetzt habe (mehr wird nicht verraten – einfach mal
suchen…).
Irgendwann verschwand
Peter von dieser Milonga – was blieb, waren Langeweile und Gerüchte, man habe
ihn rausgeekelt. Der Liebe wegen sei er nach Wien gezogen, hieß es dann später.
Über Manuela Bößels Blog hat sich nun ein
neuer Kontakt ergeben. Auf ihrer Seite und im Wiener Pendant von Alessandra und Peter erschienen Gastbeiträge:
Seit Jahren hatte ich
den Wunsch, von Peter einmal zu erfahren, wie es damals wirklich war, was ein
„Tango-Urgestein“ von den Anfängen und dem später einsetzenden Trend zum
„Schmalspur-Tango“ zu erzählen weiß. Ich freue mich riesig und bedanke mich
herzlich, dass er dies nun getan hat und Alessandra es aufschrieb:
Gut, darüber
gesprochen zu haben…
Oder: Wie der Tango
nach Augsburg kam vor etwa zweiundzwanzig Jahren
Alles
begann mit Piazzolla und einem Flyer, der an eine Kneipenwand geklebt war: „Tango
Argentino: Kurs für Anfänger". Abgehalten von einem Regensburger
Lehrerpaar. Und irgendwas über Piazzolla stand auch noch dabei.
Peters
damalige Freundin meinte: „Ach, lass uns
das doch mal probieren...", und eine Idee war geboren. Die
Vorstellung, sich zu den Klängen von Piazzolla geschmeidig auf der Tanzfläche
bewegen zu können, war schier verlockend, wenngleich noch wenig konkret.
Und
los ging es, das Wochenende mit Tango im evangelischen Pfarrsaal! Gelehrt wurde
die Basse (daher kam in Folge der Spruch: „Ich
hasse die Basse!") in einer aneinander
gelehnten Tanzhaltung, die selbstständiges Stehen unmöglich machte. Der
Unterricht war vielleicht ein klein wenig desillusionierend, aber es fanden
sich noch zwei Paare, die unerschrocken genug waren, weitermachen zu wollen.
Augsburg
war zu der Zeit ein weißer Fleck auf der Tango-Landkarte, also beschlossen
diese drei Paare, selbstständig weiterzumachen. (Es gab damals kein Internet,
wo man sich hätte schlau machen können über Unterricht, Milongas oder sonst
etwas.)
Peter
arbeitete zu der Zeit für den Stadtjugendring und konnte den Saal im Jugendzentrum
für sonntägliches Üben organisieren. Voll motiviert legten sie los: Wochenlang
die Basse („eine Kopfgeburt für
Lehrer", wie Peter es später mal so treffend formulierte), weil Übung
ja den Meister macht.
Dann
luden die drei unverdrossen Paare besagte Lehrer nochmal ein, denn andere
kannten sie nicht. So konnte die Linksdrehung und die Rechtsdrehung erfolgreich
ins Repertoire aufgenommen werden. Es wurde fleißig weiter geübt und geübt und
geübt, und nach etwa einem Jahr und noch einigen Besuchen der Lehrer wagten
sie sich auf ihre erste Milonga in München. In Augsburg gab es ja keine. Es war
damals in München das einzig regelmäßig stattfindende Tangoevent, veranstaltet
von Mundo. Aufgelegt wurden CDs – es gab immer noch kein Internet, Downloads,
YouTube oder dergleichen. Mundo, selbst Musiker, legte unter anderem auch
Piazzolla auf, und wenn er gelegentlich selbst live spielte, gab's schon auch
mal „smoke on the water".
Aber
zurück zur ersten Milonga unserer drei Tanzpaare: ein epochales, ein prägendes
Erlebnis für jeden Tanguero – ein Fiasko!
Die
Milonga war voll, das bedeutete etwa 20 Paare, auch auswärtige Gäste waren
darunter. Alles begnadete Tänzer, aus der Sicht eines ahnungslosen Anfängers!
Ausgerüstet
mit der Basse, war es für Peter nicht wirklich ein Vergnügen, sich auf der
vollen Tanzfläche zu bewegen, um es gelinde auszudrücken. Auch seiner Partnerin erging
es nicht besser, als sie von einem „fremden Herren" aufgefordert wurde.
Ein Milonguero aus Hamburg, der „das rote Hemd" genannt wurde. Er stand
mit ihr eine gefühlte
Ewigkeit auf der Tanzfläche, ehe er den ersten Schritt tat. Vielleicht um sich
mental auf sie einzustimmen, oder weil er die „Eins" im Musikstück nicht
gleich fand. Jedenfalls
war sie einer Ohnmacht nahe, leider nicht aus Verzückung, sondern ob ihrer
Ohn-Macht und vor lauter Angst...
Unseren
anderen vier Tänzern erging es ebenfalls nicht viel besser, und so stellten sie
sich am Ende des Tages ernsthaft die Frage: Aufhören mit Tango oder weitermachen?
Sie
machten weiter, jeder Einzelne wahrscheinlich aus anderen Gründen. Peters Grund
war: „Das kann nicht alles sein, was
Tango zu bieten hat, da muss es noch viel mehr geben, und das will ich finden!"
Die
sonntäglichen Übungsstunden gingen weiter, die Lehrer kamen wieder, und
es wurden weiterhin Milongas besucht. Peter begann alles zu lesen, was ihm über
Tango argentino in die Finger kam, und auf den Milongas in München, Ulm,
Nürnberg und Stuttgart (jeweils wöchentlich vielleicht eine in jeder Stadt, da es
immer noch nicht mehr gab) fand ein reger Erfahrungsaustausch statt, der unsere
Tänzer schon mal ein Stück weiter brachte, nämlich dahin, dass es durchaus
möglich und erlaubt war, aufrecht und selbstständig stehend zu tanzen. Das
eröffnete völlig neue Perspektiven und ungeahnte Möglichkeiten.
Das
und ein Film, der sicher keinen Tanguero unberührt ließ: „A Tango Lesson"! Mit
Pablo Verón war ein neuer Tanzstil geboren. Wen wundert es, dass Peter ihn zum „virtuellen Lehrer" erkor und das Video mit der „stop and
go"-Taste studierte?
Wir
befinden uns immer noch in etwa in den Jahren 1996/97, und die Milongas in den
oben genannten Städten würden heute vermutlich unter „mixed Milongas"
laufen. Es wurde auch Piazzolla aufgelegt und halt alles, was die CD-Kiste der
DJs hergab. UND es wurde NICHT über die Musik diskutiert! Es wurde getanzt, und
nicht jeder, der einen Tipp parat hatte, avancierte gleich zum Lehrer.
Übrigens, Begriffe wie „cabeceo", „mirada", „código" hörte man
damals auch noch nicht...
Zu
unseren drei Paaren aus Augsburg gesellte sich ein viertes, und es wurde
ein Verein gegründet: „tango lun´azul". Peter war Vorstand des Vereins und konnte von der Stadt
Augsburg Fördermittel akquirieren. TA war offiziell in Augsburg gelandet! So
wurde eine Musikanlage angeschafft, neue Lehrer konnten eingeladen werden, und
Einzelunterricht wurde finanziert. Das Regensburger Lehrerpaar protestierte
gegen Fremdlehrer (sic! gab es damals schon) und drohte mit Fernbleiben, was
auch postwendend akzeptiert wurde.
Sehr
bald darauf organisierte Peter das erste Tangofest in Augsburg. Im legendären
Café Eickmann. Und es gab Live-Musik. Er hatte „Quadro Nuevo" eingeladen,
eine damals
noch eher unbekannte Band. Worauf sich der Ruf begründete: „Die Augsburger
tanzen auf alles!" (sic!)
Das
erste Augburger Tangofest jedenfalls war ein Erfolg, und der Verein gewann
etliche neue Mitglieder. Es gab regelmäßig Milongas, und die
Gründungsmitglieder wechselten
sich als DJs ab. Immer noch wurde nicht über Musik diskutiert, obwohl sich
schon unterschiedliche Stilrichtungen herauskristallisierten, sowohl beim Musikgeschmack
als auch beim Tanz. Peters Vorlieben waren Piazzolla, moderne,
experimentelle Musik und Pablo Veróns Tanzstil. Wie überhaupt viel experimentiert
und ausprobiert wurde zu jener Zeit.
Das
ging so über einige Jahre: Es wurden Gast-DJs zu den Milongas eingeladen, die
immer an wechselnden Orten stattfanden, an unterschiedlichen Stilen gearbeitet
mit immer
mal neuen Lehrern, bei Stadtfesten Showeinlagen getanzt, was wiederum neue
Leute zum Tango brachte; und es wurden viele Veranstaltungen im näheren und
weiteren Umland besucht. Jede Stadt hatte auch ein bissal einen eigenen Stil entwickelt,
und so fuhr man zum Beispiel nach Landsberg zur legendären Faschingsmilonga im
Foyer des Stadttheaters, wo man wunderbar zu „gemischter Musik"
tanzen konnte. Auch die Milongas in Ulm besuchte man gern, wenn man die
Abwechslung liebte. Ein „special" war die „Geheim-Milonga" in der
„Tanzschule im Deutschen
Theater". Dahin lud Olaf ein, nach Marinas megalangweiliger Milonga. Über
den Hinterhof in den Saal, und da galt : „Wir
tanzen, wie wir wollen und wir legen auf, was wir wollen!" (sic!)
Es
waren also etwa acht Jahre ins Land gezogen, als einige unserer sechs Tänzer
begannen, selbst zu unterrichten. Nicht für den Verein, sondern privat, und da
begann sich einiges zu verändern. Die einen fuhren die traditionelle Schiene,
alles sehr reglementiert, alles sehr „deutsch", wie Peter sagte. Plötzlich
war „Kohle" verdienen ein Thema, und damit wuchs auch langsam, aber stetig
der Futterneid.
Peter
tanzte Shows, unter anderem in Hamburg und Freiburg, und auch er unterrichtete.
Die andere Schiene: Modernen Tango, das „Tan-Do" Prinzip, das Führbarkeit
und Improvisation, Energie und den bewussten Umgang mit derselben zur Grundlage
hatte, sowie die Tatsache, dass die „kleinste Einheit" beim Tango eine Bewegung
ist. Vieles hatte er in der Zeit auch vom Ballett „abgeschaut", speziell
was die Energie betrifft, zum Beispiel bei Sprüngen.
Den
Verein gab es noch, aber Peter meinte, dass es nun an der Zeit für einen neuen
Vorstand wäre, und so geschah es… dass sich die „Rückwärtsrolle" vollzog,
hin zu strikt traditionell. Plötzlich wollte man Peter vorschreiben, welche
Musik er aufzulegen hätte, wenn er DJ machte. Plötzlich war festgeschrieben,
was „echter Tango" sei und was nicht. Die Geburtsstunde der
„Tangopozilei"! Bei Stadtfesten und Sommerfesten, die der Verein immer mit
Tango „bespielt" hatte, war „Tan-Do"-Tango vom Vorstand nicht mehr erwünscht,
weil „das ist kein Tango, was ihr da
treibt". Als der neue Vorstand bei einem dieser Feste zu Peter sagte,
er müsse froh sein, keinen Eintritt bezahlen zu müssen, traten er und seine
damalige Partnerin mit sofortiger Wirkung aus dem Verein aus. Was dann so
abging, würde man heute als "shitstorm" bezeichnen, und zwar auf die
übelste Art, untergriffig und persönlich.
Und
„Tan-Do" war frei! Hat ja auch was... nein, ist das einzig Mögliche!
Die
Milonga wurde nach München verlegt, hieß „Experimentango" und war das
Vermächtnis von Alexander, der nach Berlin ging (nach Augsburg kamen nun eh
keine „Neos" mehr, und warum auch ...), Peter machte DJing, legte
„Gotan", „Cohen", „Piazzolla"
und Konsorten auf... und alles war gut. Es gab auch hier Gast-DJs im Sinne der
Vielfalt...
Es
wurde weiter experimentiert, zum Beispiel mit dem Schwert und Aikido.
Zwei
oder drei Jahre später veranstaltete „Tan-Do" ein modern tango festival in
Augsburg – „Step A", und es wurde ein Erfolg. („Step B" und „Step
C" folgten in den nächsten
Jahren).
Vereinsnahe
Lehrer legten ihren Schülern nahe, keine dieser Veranstaltungen oder Milongas
zu besuchen, um sich nicht ihren Tango zu „versauen". Und das war durchaus
ernst gemeint, wie einige „Abtrünnige" Peter dann versicherten - zum
Beispiel auf der ausverkauften Silvestermilonga „Dekadance" mit zwei dancefloors:
oben traditionell und unten neo! (sic! Man ist ja kein Taliban…)
Und
Peter hörte nicht auf zu experimentieren. Neue Partnerin, neuer Ansatz:
bondage! (Diesem Thema werden wir in unserem Blog eine eigene Serie widmen.)
Tango
und bondage... ist Führen und Folgen in beiden Fällen, die Begrenzung des
äußeren Raumes und die innere Freiheit. Bondage nicht als Selbsttherapie,
sondern als
Kunstform und Metapher, aber durchaus gefesselt getanzt. Und fesselnd, wie ich
meine...
In
diversen Foren brach ein Shitstorm los, der Seinesgleichen suchte: „Braucht unser Tango das???" „Das
versaut unsere Jugend!!!" (die so stark vertreten ist
beim TA…) „Schweinerei..." – und
nicht bloß das Löschen eines Erklärungsversuches (sprich: das Thema auf eine
inhaltliche Ebene zu bringen), sondern
der Rausschmiss der Person, sprich Peter und seiner Partnerin, aus diversen
Gruppen und Foren war die Folge.
Na,
macht auch nix .... Auftritte bei der „Dekadance" Milonga von Tan-Do in
Nürnberg (sehr gut besucht... ach !) und Workshops bei „Nackter Tango" in
Stuttgart und
immer weiter experimentieren... (und ja, Tangoschüler aus der SM-Szene lernten
schnell – Führen und Folgen).
Tja,
und dann kam ich... und Peter nach Wien, aber das ist eine andere Geschichte...
Eine
kleine Anekdote hab ich noch:
Nach
einem Auftritt wurden Peter und seine Partnerin gefragt:
"Wo lernt man so
Tangotanzen? In BA, oder habt ihr einen eigenen Argentinier?????"
Kein
Witz... die ernstgemeinte Frage einer Besucherin bei einem unserer Auftritte,
ausgelöst durch die Frage, wo man denn so Tango tanzen lernen könne.
In
BA oder eben der Argentinier aus dem Titel!
Von
da an ging's bergab:
Tango
gab einen kleinen, aber immerhin einen Markt ab, plötzlich hatte jeder
Argentinier (obwohl mindestens 97 Prozent aller Argentinier gar keinen Tango
können) den Tango im Blut und irgend einen Opa ausgegraben, der Tango getanzt,
und das natürlich an ihn vererbt hat, einschließlich der Schellacks, die
mangels Abspielgerät immer noch verstaubt sind.
Was
mich am meisten verblüffte, war nicht die Tatsache, dass aus dem Nichts ein Haufen
„Lehrer" auftauchte, die alle unglaubliche Vitae aufzuweisen hatten, nur
indem sie den Ausdruck „gelernt bei..." auf einzelne Workshops und ähnlich entwicklungsbefreite
Massenveranstaltungen anwandten und, das sei neidlos anerkannt, ein
ausgeprägtes Geschick für Marketing hatten.
Sondern,
dass die Masse der aufmerksam gewordenen Lernwilligen das glaubte und glaubt,
sich fast kritiklos in ein Tangoklischee pressen lässt, das marketingmäßig
darauf ausgerichtet ist, die meist dünnen Fähigkeiten der Geldempfänger als
fast mystische Sensibilität erscheinen zu lassen.
Aber
aufgemerkt, es gibt auch andere, wenn auch wenige, die sich ihren Tango
erarbeitet haben und nebenbei dem Tango hier eine Chance gaben (manche, noch wenigere,
haben auch finanziellen Erfolg, und der sei ihnen von Herzen gegönnt).
Der
Tango hat Wurzeln, vor und nach der EdO (Época de Oro), denen haben sich die meisten von den „anderen" verschrieben (Individualität, Bezug zum realen
Leben und dem individuellen kulturellen Background, Anarchie und einfach nicht
in eine Schublade passen zu wollen).
Der
Tango war nicht umsonst über weite Strecken in Argentinien verboten (seine
Akteure waren für die Diktatur mit ihrem Nonkonformismus und ihrer
anarchistischen Tradition zu gefährlich) und passen somit in guter alter
Tango-Tradition einfach nicht in das Tanzschulsystem.
Sie
gaben und geben grad mal ein wunderbares Feindbild ab... auch in alter
Tango-Tradition :-)
Zur
Belohnung gibt's Abende, da feiert sich der Tango mit all seiner Energie,
Lebensfreude und konspirativer Kraft... an einem wohlbekannten Ort… :-)
Alles
Liebe euch und ein Gruß aus Wien
Alessandra
& Peter SyS
(also
Seitz y Seitz, wie der Argentinier sagt!)
Und hier der Link, falls das Video nicht funktioniert:
https://vimeo.com/169441715
Die Augsburger Tangoszene war als ich vor ca. 15 Jahren dazu kam, so offen und tolerant, wie "des in Augschburg ja sonscht gar net findsch".
AntwortenLöschenRichtig lebendig, mit allen möglichen Querköpfen verschiedenster Ausrichtungen, die alle Platz hatten. Der eine mag's wild und der andere "sein Schrammel". So dachte ich - naiv wie ich war: wenn wir die Schrammelliebhaber ihr Zeugs hören lassen, dann gönnen die uns auch unser Vergnügen mit Piazzolla. Oder?
No! War nicht so. Peter "durfte" noch eine Zeitlang Kabelträgerhausmeister für den Tangoverein spielen. Dafür bekam er statt einem "Dankeschön" von der Schrammelfraktionvereinsvorständin den Piazzolla-Maulkorb von ganz oben gnädig heruntergereicht. Die Dame bestimmte fortan, "was Tango sei" und richtete "ihren"(?) Verein danach aus. Und ich werfe mir heute noch vor, die Situation damals unterschätzt zu haben.
Aber tangomundtot, tangofliegtot oder tangotanztot kriegt uns keiner! Das hab' ich auch gelernt!
Herzliche Grüße nach Wien!
Manuela
Zur Vereinfachung zitiere ich hier einen Kommentar, den ich soeben auch auf dem Forum "tanzmitmir" eingestellt habe:
LöschenVielleicht habe ich den Vorteil, diese Phase des Umbruchs im Tango vor zwölf und mehr Jahren noch persönlich erlebt zu haben. Ich möchte daher – anstatt mich darüber zu verbreitern, wer nun was und warum für traditionell oder fortschrittlich hält – lieber mal peinlich konkret werden:
Die Geschichte um den Augsburger Tango, die da im ursprünglichen Beitrag erzählt wird, habe ich damals „von außen“ mitbekommen. Die „Szene“ traf sich zu der Zeit wöchentlich in der Kultkneipe „Kervansaray“; es legten verschiedene DJs das gesamte Musikspektrum von 1920 bis 2005 auf. Der Laden war stets randvoll und lebendig. Dann kam innerhalb kurzer Zeit der Umschwung: Bestimmte DJs wie Peter Seitz verschwanden, es gab nun fast ausschließlich traditionelle Musik, die Besucherzahlen gingen zurück, eine große Zahl der besseren Tänzer blieb weg. Der Tango in der Fuggerstadt hat sich lange nicht von dieser Krise erholt.
Ich hörte damals gerüchteweise, man habe bestimmte Personen wie Peter Seitz „rausgeekelt“ – und daher habe ich ihn nun gebeten, einmal seine Version der Geschichte zu erzählen. Was er berichtet, deckt sich mit meiner Erfahrung an anderen Orten. Es stehen sich meist zwei Fraktionen gegenüber: Die eine versucht, es mit einem gemischten Musikprogramm allen recht zu machen, und hofft auf gegenseitige Toleranz. Die andere Abteilung zieht knallhart ihren Alleinvertretungsanspruch durch: Alles für sie, nichts für die anderen.
Manuela Bößel war zu der Zeit im Vorstand von „Tango lun’azul e.V.“. In einem Kommentar auf meinem Blog schreibt sie:
„So dachte ich - naiv wie ich war: wenn wir die Schrammelliebhaber ihr Zeugs hören lassen, dann gönnen die uns auch unser Vergnügen mit Piazzolla. Oder?
No! War nicht so. Peter ‚durfte‘ noch eine Zeitlang Kabelträgerhausmeister für den Tangoverein spielen. Dafür bekam er statt einem ‚Dankeschön‘ von der Schrammelfraktionvereinsvorständin den Piazzolla-Maulkorb von ganz oben gnädig heruntergereicht. Die Dame bestimmte fortan, ‚was Tango sei‘ und richtete ‚ihren‘ (?) Verein danach aus. Und ich werfe mir heute noch vor, die Situation damals unterschätzt zu haben.“
Diese „Kulturrevolution“ ging genauso wenig „vom Volk“ aus wie die in China, sie wurde von oben verordnet. Natürlich bilden sich dann mit der Zeit neue Mehrheiten, da die nicht mehr Erwünschten die Szene verlassen und eine andere Population nachrückt. Insofern verwirklichte sich treffenderweise gerade in der Brecht-Stadt eines der bekanntesten Zitate des Autors: "Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"
Wie man dann allerdings einen Rückfall in vergangene Musikepochen auch noch als „Weiterentwicklung“ verkaufen konnte – da hätte wohl selbst der in seiner Heimatstadt lange verpönte Autor gestaunt…
Ich bin noch nicht so lang beim Tango wie ihr Tangourgesteine. Und ich bin eigentlich grundsätzlich für leben und leben lassen, auch im Tango. Hab aber schon gemerkt, dass die Tradi-Fraktion sich häufig durchsetzt, obwohl nach meinem Eindruck viele Milongabesucher es gern zumindest gemischt hätten.
AntwortenLöschenNun die Gretchenfrage an euch Urgesteine: Warum sind die Tradis so militant? Und so durchsetzungsfähig? Auf diese Fragen habe ich noch keine für mich schlüssige Antwort gefunden. Vielleicht könnt ihr eine geben?
Also, wie sag ich’s jetzt möglichst diplomatisch?
LöschenIn meinen ersten Tangojahren fragte sich die überwiegende Mehrheit: „Was geht?“
Später lautete dann die Frage: „Wie geht das?“
Momentan ist man bei angekommen bei: „So geht das nicht!“
Kurt Tucholsky schrieb in seinem berühmten Artikel „Der Mensch“: „Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.“
Ich dreh die Gretchenfrage mal um: Warum sind die Militanten Tradis?
Mei Harry
AntwortenLöschenIch stehe immer wieder fassungslos vor dieser Frage und zweifle an mir. ( ich lebe hier in Österreich und erlebe gerade hautnah wie rechter Populismus atemberaubend Raum greift - Stichwort "Bundespräsidentenwahl" ) und Sicher ist auf jeden Fall die "Radikalen" sind die Minderheit aber sie sind laut, sehr laut und haben keine Skrupel Phänomene zu Tatsachen und diese als Basis für "Gesetze" zu stilisieren und sich als legitime Vertreter dieser "Wahrheit" darzustellen, inkl. Gesamtvertretungsanspruch.
Aber mich erschrecken nicht so sehr die Rattenfänger als die hinterherlaufende Masse die, wie du wohl zurecht beobachtest lieber ne Vielfalt hätten, aber dann doch lieber den "echten" Tanguero geben weil es doch so kuschelig ist im Moorbad ( oder ist es doch nur teurer Dreck? :-))
Und sie schließen die Augen bei der verzweifelten Suche nach der 1 ...
Man möge mir den Sarkasmus verzeihen, und in den ersten Satz des Kommentars gucken.
Zu Tucholsky wäre eine kleine Änderung bezüglich des Tango's angeraten, wie ich finde ... " er KANN nicht, also sollen die Anderen auch nicht "
LG aus Wien
Lieber Peter,
Löschender Hinweis auf die österreichische Bundespräsidentenwahl lag mir schon auf der Zunge – ich bin froh, dass Du es erwähnt hast… Und schlechte Verlierer sind die Brüder auch noch: Wenn die Mehrheit nicht zustimmt, kann das ja nur „Betrug“ sein!
Die Abänderung des Tucholsky-Zitats ist völlig richtig! Ein Wahnsinn: In allen möglichen Bereichen strebt man nach „schneller, höher, weiter“ – nur im Traditionstango gilt das olympische Motto: „langsamer, niedriger, kürzer“…
Herzlicher Gruß nach Wien!
Gerhard
Oha! Gleich zwei Stichworte, die mich sehr interessieren: Aikido und Bondage! Das ist ja sehr spannend! Zum Aikido werde ich hier demnächst mal auf Einladung von Gerhard einen Gastbeitrag schreiben, und auf Euren angekündigten Beitrag zum Thema Tango und Bondage warten wir (Helge und ich) mit großer Spannung. Ein wenig gestreift wurde dieses Thema ja auch schon in Gerhards Besprechung unserer HerzSchmerzMilonga.
AntwortenLöschenJedenfalls vielen Dank für Euren interessanten Beitrag! Ich werde jetzt auch Euren Blog regelmäßig lesen. Das Thema Traditionstango ist wirklich eigenartig, mich wundert es auch immer wieder, dass manche meinen, in diese Richtung missionieren und gegen alle andere Geschmäcker eifern zu müssen. Wir machen jedenfalls, was wir wollen. Wem es gefällt, der kommt, wem nicht, der bleibt weg.
LG Annette
Komisch, die Probleme hatte ich in München nicht. Meine erste Lehrerin, natürlich, wie sich's gehört, aus Argentinien, war Balletttänzerin und brachte uns "Showtango" bei, also interessante Figuren, ausgreifende Schritte und kreative Entfaltung, durchaus auch mit Piazzolla im Hintergrund. Das behielt ich bei, und als die Musik der anderen Milongas zu langweilig wurde, machte ich eben selber welche - in der Seidlvilla. Es gab allerdings Veranstaltungen, die ich frühzeitig verließ (Plattenauflegerin: Theresa F.) oder verlassen wollte (Plattenauflegerin: Birgit Pl.). Aber was soll's; zur Not kann man auch die Cortina tanzen und sich nachher hinterm Vorhang verstecken!
AntwortenLöschenTja, da hast Glück gehabt - oder warst einfach früh genug dran!
LöschenDass Du aber damals den Tango in der Seidl-Villa aufgegeben hast, tut mir heute noch leid. Die Stimmung war zauberhaft - und heute ist es eine der vielen austauschbaren Traditionsmilongas...
Na ja, Nostalgie gehört bekanntlich zum Tango!