Wenn nicht mehr Schritte und Figuren…


Kann schon sein, dass mir die Erfahrung fehlt: Immerhin habe ich seit über acht Jahren keinen Tangokurs mehr belegt – und dabei wird es sicher bleiben. Aber wenn Karin und ich zu einer Milonga sehr pünktlich erscheinen, kriegen wir öfters die letzten Minuten eines solchen Lehrgangs mit. (Tangolehrer überziehen gerne, denn sie werden halt nicht durch eine Klingel gestoppt, welche normale Schüler schlagartig zum lärmenden Sturm nach draußen bewegt – schade eigentlich…)

Erst neulich hörten wir schon beim Eintritt ins Gebäude, dass der Unterricht noch lief: Statt Musik war nämlich eine dozierende Stimme zu vernehmen. Diese hielt minutenlang an, während wir unsere Mäntel aufhängten, die Schuhe wechselten und den Eintritt bezahlten. Endlich Applaus – der Vortrag war zuende. Der Tangoabend konnte beginnen. Anfangs drehte sich ein Dutzend Schülerpaare im Kreis, natürlich zu schleppender Musik, was uns nicht zum sofortigen Tanzen animierte. Daher verfiel ich auf mein zweitliebstes Hobby: Tänzer beobachten. Na gut, die mangelnde Routine war verständlich – aber, da störte mich doch etwas grundsätzlich? Ein genaueres Durchzählen erhärtete meinen Verdacht: Sieben der zwölf Männer setzten die Vorwärtsschritte auf der Ferse an.

Auf die Gefahr hin, langjährige Tangoleute zu langweilen: Diese Bewegungsweise führt halt zumindest bei Anfängern unweigerlich dazu, dass die Männer mit den Beinen voraus gehen und dadurch ihr Oberkörper nach hinten fällt. So können sie niemals eine Präsenz der Führung durch den Andruck des Brustkorbs entwickeln – und das tangotypische schleichende Gehen erst recht nicht. Stattdessen kommt es zum sattsam bekannten Gezerre und Gewürge über Schultern und Arme. Ein Blick auf die Körperlinien bestätigte meine Befürchtung: Die Tanzenden standen (falls sie nicht nach hinten hingen) bestenfalls kerzengerade voreinander – von einer umgekehrt v-förmigen Position keine Spur. Dass man mit einer solchen Technik weder pointierte Impulse vertanzen kann noch gar die Sechzehntel bei schnellem Tempo hinbekommt, erschien mir beim konkreten Anblick bereits als Luxusproblem…

Schließlich machte ich meine Frau auf das Phänomen aufmerksam und bat sie, nachzuzählen. Doch der Prozentsatz stimmte leider, und er bewegte sich im Laufe des Abends bei zunehmender Gästezahl nur wenig nach unten – kein Wunder, viele der Besucher waren wohl ehemalige Schüler (und wenn nicht derselben, so doch der gleichen Lehrer…). Schließlich gab mir Karin, wohl zur Aufheiterung meiner Stimmung, zu bedenken: „Vielleicht tanzt man das heute so?“ Das wollte ich jedoch vom Meisterpaar persönlich erleben, welches (heute eher unüblich) auch auf der eigenen Veranstaltung gelegentlich das Tanzbein schwingt. Bei einem temperamentvollen Stück war es endlich soweit – und was sahen wir? Belastung auf dem Ballen im Milonguero-Stil! Na klar, wie auch sonst, wenn man es toll hinbekommen will!

(Damit mir nun nicht wieder zahllose Videos als Gegenbeispiele vorgehalten werden: Meister dürfen natürlich belasten, was sie wollen oder in Hausschlappen tanzen...)

Wohlgemerkt, im gerade beendeten Kurs wurden keine Anfänger unterrichtet, und die betreffenden Lehrer gelten in der Szene – wohl nicht zu Unrecht – als sehr kompetent und erfreuen sich einer großen Zahl von Kursteilnehmern. Warum aber bringt man es dann nicht fertig, Schüler, die man monate-, vielleicht schon jahrelang unterrichtet, von solchen technischen Behinderungen zu befreien? Es müsste doch ohne riesigen Zeitaufwand möglich sein, durch wiederholte Hinweise diese simple Fußtechnik weiterzugeben und so eine besser geeignete Körperhaltung zu erreichen!

Freilich, bei der üblichen, energiearm dahinplätschernden Begleitmusik zu den Tangostunden geht es notfalls senkrecht und auf der Ferse – und damit sind wir bei einem weiteren Punkt, den ich nie verstehen werde: Wieso sorgt man durch anspruchsvollere Beschallung nicht dafür, dass eine bessere Technik zu deren Interpretation zwangsläufig nötig wird? Auch im modernen Schwimmunterricht ist man inzwischen davon abgekommen, die Anfänger via Korkreifen und Angel vor eigenen Anstrengungen zu bewahren!

Aber es geht noch weit gruseliger: Wir bekommen ja, wenn überhaupt, stets das Ende einer Unterrichtseinheit mit, und da erscheint es nicht unangemessen, nach einem gewissen Effekt des Gebotenen zu fahnden. Meist ahnen wir düster, was gerade unterrichtet wurde: Gerne, auch bei wenig erfahrenen Tänzern, eine relativ komplizierte Schrittfolge – soweit wir dies an den Bodenkontakten ausmachen können. Die restlichen Körperteile allerdings hängen oft planlos irgendwo, und an den Frauen wird so lange herumgezerrt und geknetet, bis sie die geforderte „Figur“ – eher spastisch herumeiernd denn anmutig-elegant – hinter sich gebracht haben. Bei diesem Anblick ahnt man zwar, dass der Tango gelegentlich verboten war, vermutet aber als Grund weniger die überbordende Erotik denn eine versuchte Körperverletzung! Und wie sollen Männer die Führung erlernen, wenn die Frauen eh „wissen, was kommen sollte“? Fragen über Fragen...

In meiner frühen Tangozeit durfte ich einmal bei einer Einführungsstunde als Springer aushelfen. Nachdem ich mich schon einige Jahre durch die berüchtigte „Basse mit Kreuz“ nebst anschließenden Variationen gequält hatte, lernte ich dort das Gehen (Caminar) in drei Spuren und zwei Systemen (parallel und gekreuzt). Plötzlich war alles einfacher, und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, in eigenen Kombinationen zur Musik zu tanzen. Das hatte eine einzige Stunde bewirkt – und bei einer solch positiven Einschätzung kann es nicht schaden, den Namen des Lehrers zu nennen: Ralf Sartori.

Zweifellos wird auf den heutigen Milongas weit schlechter getanzt, als es nötig wäre.
Ob dies zu ändern ist, weiß ich nicht. Die Voraussetzungen jedoch ahne ich, nämlich eine Veränderung bei Angebot und Nachfrage gleichermaßen: Es müsste einerseits Schluss sein mit der Werbung, Tango sei ein simpler Tanz, welcher nichts anderes verlange als halbwegs im Rhythmus übers Parkett zu latschen. Mehr als einmal las ich in Ankündigungen, nach der „Schnupperstunde“ finde eine Milonga statt, auf der man dann „schon ein wenig mittanzen könne“. Nein, kann man nicht! Den Reiz dieses Tanzes machen nicht festgelegte Schritte, sondern die Improvisation zur Musik aus – und daher spielt die Technik eine überragende Rolle. Lernende, die mit dem einspurigen Gehen, Balance, Achse und Umarmung noch auf Kriegsfuß stehen, mit irgendeinem ziselierten Rückwärtseinsteiger zu beglücken, ist grotesk. Gute Tangos handeln von Blut, Schweiß und Tränen – und um sie adäquat zu tanzen, muss man dies alles auch vergießen.

Andererseits weiß ich natürlich, dass sich Tangolehrer oft genug gedrängt fühlen, Schritte zu verkaufen statt grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln – die Schüler kämen bei „langweiligen“ Themen nicht. Mag sein, dass dies auf jenen Teil zutrifft, der meist eh nicht allzu lange bleibt. Den Rest würde es allerdings umso mehr an den Tango binden, wenn er nicht auf fast jeder Milonga mit der Persiflage dieses wunderbaren Tanzes gequält würde.

Ich weiß, dass es inzwischen auch Kursangebote in der von mir bevorzugten Richtung gibt. So las ich neulich das Workshop-Thema: „Vielfalt, Präzision, Klarheit und Sanftheit in der Führung und im Geführtwerden“. Die Zeit? 13 bis 15 Uhr. Wohlgemerkt: zwei Stunden, nicht Wochen oder Monate, denn ab 15.30 Uhr sind dann die „rhythmischen Salidas“ dran…

Tango ist eine Körpersprache, die man sich nicht via verkopfte Anweisungen und „Schrittmusterbögen“ erwirbt, sondern durch haptischen Kontakt mit einem (möglichst erfahrenen) Tanzpartner. Somit ist die Hauptaufgabe der Lehrenden nicht das „Vormachen“, sondern das direkte Üben mit den Schülern. Wenn man dann das Großhirn (welches eh nicht tanzen kann) ausschaltet und fühlen statt führen lernt, sind jene Glücksmomente möglich, welche der Dichter Novalis – ohne den Tango zu kennen – schon 1800 beschrieben hat:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.


Puppenspieler * www.tangofish.de


Kommentare

  1. endlich mal frischer Wind in die muffigen blogs selbsternannter Weltkulturerbebehüter desTA - aber: schau doch mal bei youtube nach Carlitos Espinoza - wunderbare Fersenschritte, und dann mal Engel/Sedo, die Ballenschritte von D. Engel finde ich gruselig. Da sehe ich Diskussions- bzw. Klärungsbedarf

    Gruß von Andreas Toelke

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    1. Lieber Andreas Toelke,
      Vielen Dank für das Kompliment, da hat man doch Spaß dran, weiterzumachen!
      Ich habe mir von den zitierten Beispielen einige Videos auf YouTube angeschaut. Tatsächlich sieht man bei beiden sowohl Fersen- als auch Ballenschritte, allerdings tendenziell bei Engel mehr von letzteren. Was Dir (und mir) bei ihm nicht gefällt, ist wohl, dass er zwischen den Schritten (wenn sie denn mal größer sind) hochsteigt und dann wieder landet (sieht man auch bei gewissen Schreitvogelarten).
      Espinoza bleibt unten und zieht seine großen Schritte wunderbar verzögert und doch dynamisch durch.
      Aber die Fußtechnik ist ja nur einer von vielen technischen Aspekten - daran allein kann man es nicht festmachen. Espinoza tanzt in vielen Hinsichten besser.
      Aber vielleicht sollte ich mich mit Kritik an Sedó & Engel zurückhalten: Es ist unfair, Menschen, die sich wenig bewegen, mit tänzerischen maßstäben zu bewerten...
      Ich hab mir dann noch einige meiner Lieblingspaare angeschaut (Cappussi/Flores, Arce/Montes, Los Hermanos Macana): fast nur Ballenbelastungen.

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  2. Das ist halt Milongero-Stil. Hast du selbst gesagt ... Merke: Tangolehrer sind dazu da, Geld zu verdienen, nicht den Jungen beizubringen, was echter Tango ist. Das müssen die leider selber rausfinden!

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  3. Diese Schattenseite der Professionalisierung findet man nicht nur beim Tango!
    Zur Frage, ob es nicht anders ginge, ein Zitat aus „Heikvaldo: Tango Argentino 4“ (Kindle E-Book): „Also, liebe Lehrer, bitte nehmt euch Zeit und bringt uns das Laufen detailliert bei. (…) Ihr meint, die Schüler wollen etwas anderes lernen? Seid ihr die Lehrer oder wir? Ihr wisst, was wichtig ist. Also könnt ihr mich „formen“. (…) Ich will Erfolgserlebnisse. (…) Ist mir doch egal, ob ich die bei einem Ocho habe oder eben bei schönerem Gehen.“

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  4. Ein lesenswerter Beitrag von Veronica Toumanova zu "Führen und Folgen" findet sich auf dem Blog "JochenEnglish": http://www.jochenenglish.de/?p=10362
    Es ist eine Übersetzung des englischen Originals "Why we often misunderstand the words 'lead‘ and ‚follow'“.

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