Die Kipppunkte einer Milonga
Den Begriff „Kipppunkte“ kennen wir aktuell aus der Klimaforschung: Man bezeichnet damit kritische Schwellen, die zu abrupten und unumkehrbaren Veränderungen führen und oft weitreichende Katastrophen auslösen: Stürme, Überschwemmungen oder Wahlerfolge der Grünen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tipping-Point
Der Begriff („Tipping Point“) bezeichnet aber ganz allgemein eine kleine Änderung in einem System, die oft irreversible Folgen hat. Am Beispiel der „Broken Windows-Theorie“ habe ich den Effekt schon einmal beschrieben: Werden eingeschlagene Fenster nicht repariert oder Scherben auf der Straße nicht schleunigst entfernt, kann sich der Charakter eines ganzen Viertels verändern: Eher bürgerliche Bewohner verlassen die Gegend, ein unerwünschter Personenkreis etabliert sich im öffentlichen Raum, das „Stadtbild“ verändert sich. Friedrich Merz lässt grüßen…
https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/10/von-pseudonymen-und-zerbrochenen.html
Ein weiteres Beispiel habe ich gerade wieder auf meinem Blog kennengelernt: Wird die Kommentarfunktion dazu missbraucht, dumme Sprüche zu klopfen, folgen zwei Effekte: Ebenso gestrickte Nachahmer werden angelockt, um dort ähnlich Bescheuertes unterzubringen – und ernsthaftere Naturen verzichten zunehmend darauf, ihren Geist an einem Ort zu verschwenden, welcher dafür nutzlos erscheint.
Was sich sammelt, nennt der Bayer „Gschwerl“ (aus mittelhochdeutsch geswæhere - „angeheiratete Verwandtschaft“): Der Blog mutiert zum „Glasscherbenviertel“.
Wer Scherben verhindern will, muss bereits die Flaschen vertreiben!
https://de.wiktionary.org/wiki/Gschwerl
Auch auf Milongas erlebe ich immer wieder solche „Kipppunkte“, welche eigentlich schöne, von viel Enthusiasmus getriebene Veranstaltungen ins Schlingern bringen.
Ein Beispiel ist die eigentlich sehr soziale Idee, die Gäste um mitgebrachte Speisen zu bitten. Das kann die ersten anderthalb Stunden einer Milonga killen: Gemeinsames Essen führt regelmäßig zur biologisch unsinnigen Kombination von Schluck- und Atemreflex bei gleichzeitiger Anströmung der Stimmbänder. Sprich: Es wird unerträglich laut, man hört kaum noch die Musik, das Parkett bleibt leer. DJs reagieren darauf oft damit, ihre besonders schönen Stücke für später aufzuheben. Es hört ja eh keiner zu. Der Anreiz zum Tanzen verkleinert sich so weiter.
Einen anderen Effekt beobachte ich gerade bei DJs, welche sich als eher progressiv empfinden: Während sie zunächst ganz schöne, moderne Tangomusik spielen, geraten sie nach längerer Zeit auf die irrige Idee, Popmusik aus ihrer Jugendzeit aufzulegen, was das gleichaltrige Publikum zu einem Sturm aufs Parkett motiviert. Oder sie entschließen sich, lieber gar keine Tangos mehr aufzulegen, was unweigerlich in Richtung „Amélie“ führt:
https://www.youtube.com/watch?v=gcOJbcMuJYs&list=RDgcOJbcMuJYs&start_radio=1
Gerne kommt dann noch viel in der Preislage Annett Louisan und anderes Bingelbangel – bis den meisten klar wird: Das mit dem Tango war eh eine Scheiß-Idee – lasst uns daher schwofen!
Das ist dann der Moment, an dem ich meine Siebensachen packe und die Ü60-Party verlasse.
Ein anderer Kipppunkt ist die Besucherzahl. Dazu stelle ich gerne die Scherzfrage: „Zu einer Milonga erscheinen 10 gute Tanzpaare. Mit der Zeit kommen noch weitere 50 Gäste dazu. Wie viele außergewöhnlich Tanzende sind dann anwesend? Antwort: Immer noch 10 Paare.“
Eigentlich wäre hinzuzufügen: Mit der Zeit weniger, weil sie das immer mehr von Untoten zugestellte Parkett frustriert!
Dazu kommt, dass DJs dann immer mehr auf „Förderschul-Musik“ umstellen, um dem aktuellen Publikum keine Probleme zu bereiten – was natürlich noch mehr normal eher Überforderte aufs Parkett treibt, bis dort überhaupt kein Durchkommen mehr ist. Je voller eine Milonga ist, desto schlechter wird getanzt. Weil sich dann auch die trauen, welchen genügend Platz Schwierigkeiten bereiten würde.
Und weil nun eh alle da sind, gibt es in dieser Phase noch hochwichtige An- und Durchsagen, um mich zuverlässig aus der Tangostimmung zu reißen. Na klar, wir haben ja alle Zettel und Stift parat, um uns die ganzen Termine zu notieren, die aber meist eh im Internet zu finden sind!
Wenn man besonders viel Pech hat, gilt es noch einen oder gar mehrere Geburtstage zu feiern, auf dass wir bestätigt sehen dürfen, dass manche einen Vals auch auf leerer Fläche kaum hinkriegen. Hätten wir gar nicht erwartet! Das wiederum kann zur Verteilung von Häppchen und Prosecco führen. Schlimmstenfalls sogar Sahnetorten.
Je mehr „Programm“ auf einer Milonga geboten wird, desto mehr motiviert das andere, dazu auch noch etwas beizutragen – stets höchst wirksame Kipppunkte! Tango tanzen? Kann man ja später immer noch erledigen…
Sehnlichst erwarte ich die folgende Einladung zu einer Tangoveranstaltung:
„Sorry, zum Programm ist uns diesmal gar nichts eingefallen! Lasst uns einfach tanzen!“
Ein Traum…
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