Leidfaden für Neo-DJs

Präambel

Die Tangoszene hierzulande ist ziemlich klein, sie umfasst geschätzte 50000 bis 100000 Personen. Die übrigen 84 Millionen Einwohner unseres Landes haben mit diesem Tanz weniger bis gar nichts am Hut – zu 50 Prozent schon deshalb, weil sie männlich sind. Gleichzeitig erregt der exotische Begriff „Tango“ große Aufmerksamkeit. Wenn es Ihnen also gelingt, die überwältigende, eher tangoferne Mehrheit anzusprechen, steht Ihnen ein ungleich größerer Kundenkreis zur Verfügung!

Die eigentliche Tangoszene leidet an einer Schwemme von Personen, welche scharf darauf sind, aus einem Repertoire von ungefähr 2000 historischen Musikaufnahmen aufzulegen. Der Grund für das Überangebot ist klar: Jeder, der einen Computer besitzt, kann das. Er oder sie sitzt dann meist auf einem erhöhten Platz im Saal, wird von allen bewundert und muss nicht tanzen.

Daher mein Rat: Werden Sie Neo-DJ und sprechen Sie so unter dem Label „Tango“ die große Mehrheit der Bevölkerung an! Erhöht sitzen dürfen Sie ebenfalls.

Nach über 3000 Milongabesuchen in 24 Jahren kann mich nichts mehr schocken. Somit darf ich Ihnen die folgenden Tipps für Ihre Musikkarriere ans Herz legen.

1.    DJ stellt hierzulande keine geschützte Berufsbezeichnung mehr dar – im Gegensatz zum staatlich lizensierten „Schallplattenunterhalter“ in der einstigen DDR. Jeder ist berechtigt, sich so zu nennen, wenn ihm sein inneres Gefühl sagt, er sei einer. Schlimmer noch: Er kann diesen Eindruck auch schrankenlos ausleben.

2.    Als Neo-DJ müssen Sie um ein alternatives Image bemüht sein. Und was ist die Alternative zum Tango? Richtig: kein Tango. Dieser scheinbare Widerspruch wurde durch eine geniale Wortschöpfung aufgelöst: Non Tango. Man versteht darunter Klänge, welche kein Tango sind, wozu aber in einer derzeit noch überschaubaren Szene, aus welchen Gründen auch immer, Tangoschritte getanzt werden. Oft genug, ohne es wirklich zu können. Hier liegt für Sie eine riesige Marketing-Option!

3.    Bei der Auswahl ihres Musikprogramms lassen Sie sich zunächst vom Grundsatz leiten: Tango spielt in einem schrecklich traurigen Milieu. Suchen Sie also nach Aufnahmen, welche nicht nur traurig, sondern vor allem schrecklich sind. Pop- und Weltmusik sowie Folklore bieten da ungeahnte Möglichkeiten! Hören Sie einmal genau hin, welche Musik im Supermarkt an der Käsetheke oder im Hotel-Aufzug dudelt – oder tätigen Sie einen Anruf bei einem Telefonservice: Verwenden Sie das Geplürre zwischen den regelmäßigen Ansagen: „Leider sind alle unsere Mitarbeiter gerade im Kundengespräch“. Diese niederschmetternde Botschaft sollte auf dem Parkett hör- und sichtbar werden!

4.    Gerade zu Beginn einer Milonga ist es entscheidend wichtig, eintretende Gäste akustisch sofort mit einem Hauch von Verwesung zu umfangen. Dann wissen sie gleich: Das wird nicht lustig! Dazu eignen sich hervorragend synthetisch verzerrte Studioklänge, welche anscheinend bekiffte Tonmeister durch Drehen an den Reglern kreieren und abwechselnd nach Bandoneon, dem Umfallen einer Reisschale, einem lockeren Stecker oder einer rausgeflogenen Sicherung klingen.

5.    Als angehender Neo-DJ müssen Sie vor allem eins sein: originell. Da Ihre Kollegen aus dem traditionellen Segment immer wieder dieselben Titel abspielen, lautet Ihre Devise: Ja nichts auflegen, was Ihren Gästen auch nur andeutungsweise bekannt vorkommt! Ihr Vorteil: Das musikalische Schaffen der Welt ist zu 99 Prozent völlig tangofrei – sie haben also eine riesige Auswahl! Von den Gesängen der Buckelwale über die Kriegsweisen der Maori bis zu Verzweiflungslauten aus den chilenischen Anden bieten sich unzählige Optionen, welche Sie missbrauchen können.

6.    Sie müssen nur darauf achten, dass die Aufnahmen niemals eine Melodie enthalten, die man sich merken kann oder gar möchte! Wichtig ist allein die intellektuelle Anmutung verzerrten Gewabers, welches natürlich nicht durch musikalische Impotenz, sondern auf Grund einer tieferen Absicht entstand, die eh keiner kapiert. Das ist vergleichbar mit der Relativitätstheorie, welche mächtig was hermacht, auch wenn sie kaum jemand erklären kann.

7.    Weiterhin sollten Sie die Finger von größeren Orchestern lassen, welche stets die Gefahr mit sich bringen, den Raum mit satten Klängen zu füllen. Kleinere Ensembles minimieren dieses Risiko. Ideal sind beispielsweise patagonische Volkssänger, welche ihr verstorbenes Haustier besingen, während sie dazu unmotiviert an ihrer Guitarre herumzuppeln: „Hilfe, mein Lama ist tot, es spuckt nicht mehr…“

Gerne genommen werden auch griechische Trauerballaden in der Machart von „Wir liegen am weißen Strand und saufen billigen Rotwein“. Oder spanisch klingende zittrige Klagelieder mit der Botschaft: „Ich hab auf Ibiza eine Boutique aufgemacht, und jetzt hat mein Lover Costa mich sitzenlassen“. Also „Nixcosta Reisen ohne Wiederkehr“. Sorgen Sie so dafür, dass bei Ihren Gästen die Balkongeländer niedriger werden!

https://www.youtube.com/watch?v=AIR5XPWK3Vk

8.    Ansonsten ist von Musikstücken mit Text eher abzuraten. Er könnte zusammenhanglosen Tonfolgen einen Rest von Sinn verleihen! Notfalls genügt die ständige röchelnde Wiederholung der Wörter „Bandoneón“ und „Corazón“ im Laufe von fünf Minuten. Unverzichtbar hingegen ist ein durchgehender Vierviertel-Stampfrhythmus, wie man ihn von den Ü50-Partys auf Kreuzfahrtschiffen kennt. Ein Vergleich, welcher dem realen Personal auf solchen Milongas entsetzlich nahekommt. Aber nachdem Tony Marshall nun tot ist, fällt Ihnen diese Aufgabe zu!

9.    Da Sie ja eh kaum Tangos auflegen, können Sie auch auf Milongas und Valses weitgehend verzichten. Unbedingt zu vermeiden sind die oft schmissigen und dynamischen Walzer aus historischen und sogar aktuellen Quellen. Die Gefahr, dass dabei Stimmung aufkäme, ist riesig! Für den Dreivierteltakt eignen sich weit besser die zittrigen Walzerchen, mit welchen Sängerinnen wie Annett Louisan (alias Annett Päge aus Havelburg) Ihre Gehörknöchelchen in Schwingung versetzen:

 


https://www.youtube.com/watch?v=K-IMNBCj15A

Oder: Haben Sie den „Valse d‘ Amélie“ schon aufgelegt? Dann wird’s aber Zeit!

10. Bleiben Sie bei der Musikauswahl stets unberechenbar – das sind Sie Ihrem künstlerischen Ruf schuldig! Dazu dürfen Sie die Gäste sogar mal mit einem klassischen Tango aufs Parkett locken, um ihnen anschließend eine suizidale Ballade aufs Ohr zu drücken. Aber eines dieser Fünf Minuten-Stücke dürfte kaum reichen – besser sind drei bis vier hintereinander. Ein wenig Kohärenz muss schon sein… Sollten Sie also mal zu historischen Aufnahmen greifen: Es muss stets das schlimmste Geplürre aus den 30er Jahren sein. So beweisen Sie die ästhetische Überlegenheit Ihrer sonstigen Ohn-Tango-Musik!

11. Die technische Seite des Auflegens wird meist überschätzt – vor allem beim Neotango. Ob die klanglichen Verzerrungen zum Stück selber gehören oder von einem wackligen Stecker beigesteuert werden, ist eh nur für Fachleute erkennbar. Und die besuchen solche Events nur, wenn sie es bezahlt kriegen. Und wenn die auch künstlerisch überforderte Tonanlage im Lauf eines Abends mehrfach abkackt: Manche Besucher sind vielleicht ganz froh über solche Momente der Stille – sie genießen es, mal ohne Ihr Musikattacken zu tanzen. Und manche kriegen es eventuell gar nicht mit. Endlich kann man sich ungestört unterhalten – und die Musik wird ja beim Tango generell überschätzt…

Epilog:

Als ich den Text heute Vormittag einer meiner Testleserinnen vorlegte, verzog sie ihr Gesicht kein einziges Mal. Auf meine Frage „Findest du die Pointen denn gar nicht lustig?“ antwortete sie: „Welche Pointen? Du hast doch nur die traurige Wirklichkeit beschrieben!“

Da hat sie leider Recht: Satire lebt ja von Übertreibung und Zuspitzung. Beim Tango ist das nicht immer möglich…   

Kommentare

  1. Hallo Herr Riedl,
    merci beaucoup für diese Wort. Sie haben den Elend perfekt beschrieben. Deswegen werden mich keine 10 Pferde zu einer nicht-traditionellen Milonga bringen. Jamais. Dort gibt es fast nur passende und gute Musik. Jedes stück ist anders und inspiriert mir mit seinen vielen Ebenen.

    herzlich,

    Davide Utrottel

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    1. Lieber Herr Utrottel,

      Ihre Vorlieben bleiben Ihnen natürlich unbenommen. Vielen Dank auch für Ihr Lob. Ich möchte nur falschen Beifall vermeiden:

      Ich kenne auch sehr gut auflegende DJs, die ein vielseitiges, modernes Musikprogramm bieten - und Kollegen aus dem konservativen Sektor, die Langeweile verbreiten. Ich glaube, es kommt nicht auf die musikalische Epoche an, sondern auf das künstlerische Gespür des Betreffenden.

      Beste Grüße
      Gerhard Riedl

      P.S. Beim letzten Mal (am 7.7.22) haben Sie sich "Utrotel" geschrieben. Kann es sein, dass sich Ihr Name inzwischen geändert hat?

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