Let’s have a Party!

In einem Facebook-Forum für Tango-DJs werden immer wieder interessante Fragen diskutiert. Neulich zum Beispiel diese:

„Seit einigen Jahren stelle ich fest, dass sich die Grundidee einer (lokalen) Milonga verändert hat. War es früher verpönt, die Cortinas mit Tanzmusik aus anderen Genres (Salsa, Swing, Rock n' Roll) zu spielen, so bemüht man sich jetzt, die Milonga als Party zu organisieren. Laut aufgedrehte Musik, jede Menge D' Arienzo, 3-Minuten-Cortinas mit Rock n' Roll, damit die Paare auch dazu tanzen und der ruhigen Stimmung des Tangos entfliehen können. Gestern hat der DJ eine ganze 3-Lieder-Tanda mit Rock n' Roll, Jive und dann Disco Fox (M. Jackson) aufgelegt und behauptet, dass sie das in Buenos Aires machen. Siehst du auch diese Veränderungen? Was haltet ihr von der Milonga als Party?“

Irgendwie, so fürchte ich, haben traditionelle DJs derzeit ein Identitätsproblem: Auf der einen Seite dürfen sie natürlich nicht bemerkbar von den Códigos abweichen, mit denen sich ihre Zunft definiert – Regeln zur Tanda-Zusammenstellung und Abfolge, pflichtgemäß aufzulegende Goldene Orchester sowie vorgeschriebene Cortinas. Andererseits scheint man zu spüren, dass aus dem seit vielen Jahren in Endlosschleife aufgelegten EdO-Gedudel irgendwie die Luft raus ist.

Mehr oder weniger heimlich streut man daher zeitgenössische Orchester ein, die möglichst die alten Arrangements nachspielen – halt vielleicht ein wenig lebendiger. Oder man spielt als Cortina keineswegs Nicht-Tanzbares, sondern im Gegenteil Stücke, die möglicherweise mehr Lust aufs Parkett machen als das Hauptprogramm. Und lässt diese sogar in voller Länge laufen, wenn Gäste dazu tanzen wollen.

Als ich die obige Frage las, erwartete ich eigentlich einen Shitstorm: Das wäre ja noch schöner, wenn man aus einer Milonga eine Tanzparty machen würde! Tatsächlich kam diese Kritik nur von wenigen:

„Ich hasse es, wenn ich zu einer Milonga gehe und sie sich als Party mit ein bisschen Tango entpuppt. Schrecklich!“

„Du hast den Teil ausgelassen, in dem der Organisator ankündigt: ‚nuevo tanda‘ - Stichwort Oblivion; die Tanzfläche leert sich, und die Mehrheit der Leute sitzt 20 Minuten lang bei einer Art Neo-Tango-Jazz-Prog-Rock-Interpretation...“

„Bei formellen Milongas hängen nostalgische Gefühle und traurige Gedanken über der Tanzfläche, und die Leute ziehen sich auch formell an. Es ist irgendwie rituell. Hardcore-Tangomusik und Texte wie Troilo, Pugliese, Gobbi können natürlich KEINE unbeschwerte Partyatmosphäre erzeugen. Das passt einfach nicht, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie wissen, was ich meine.“

Chacarera mitten in der Milonga wirft die Energie des Tango in den Müll – um später Troilo zu tanzen, musst du die Milonga von vorne beginnen.“

„Ich wünsche mir, eines Tages auf eine Salsa- oder Peña- oder Lindy-Party zu gehen und dort Tango zu tanzen. was für ein Umschwung!"

Na ja, der Unterschied liegt wahrscheinlich schon darin, dass auf diesen Events auch Musik nach 1960 gespielt wird…

Andere wollen es nur unter der Bedingung einer genauen Vorankündigung gelten lassen:

„Gegen solche Party-Varianten habe ich nichts einzuwenden, solange die Praxis vom Veranstalter frühzeitig angekündigt wird, damit Tango-Puristen wie ich nicht hingehen. (…) Da ich ein Purist im Tango bin, erwarte ich auch, dass Cortinas Cortinas sind und nichts anderes.

Erstaunlicherweise gibt man sogar offen zu: Auch in Buenos Aires spielt man auf den Milongas nicht nur Tango:

„Es stimmt, dass die Milonga-Struktur, wie wir sie heute kennen, ein Konstrukt war, das sich an die Touristen in Buenos Aires richtete. Die Einheimischen hatten schon immer Spaß an Tandas mit anderen Musikstilen, und der Tango kam nur bei jeder dritten oder vierten Tanda vor. Heute spielen einige der traditionellsten Milongas in Buenos Aires - darunter Cachirulo – Salsa, Cumbia, Chacarera, Zamba usw. Vielleicht nicht eine ganze Tanda, aber sicher das ganze Stück. Wenn die Mehrheit Salsa mag, warum dann nicht ein ganzes Stück spielen, oder vielleicht mal testen, wie viele aufstehen und tanzen, dann kann man es immer ausblenden und zur nächsten Tango-Tanda übergehen.“

„Stimmt. In traditionellen Milongas von Buenos Aires werden neben dem Tango viele andere Genres getanzt, auch karibische Tandas, Rock, Jazz (wie sie es nennen), Cumbias. Es ist normal, viele verschiedene Genres zu tanzen. Ist das in Europa sinnvoll? Meiner Meinung nach nicht, und es macht keinen Sinn, das, was sie in Argentinien tun, dummerweise zu kopieren, als wäre es Gottes Gesetz. Aber die Milonga muss ein Ort der Unterhaltung sein, kein ora et labora'-Kloster, also habe ich überhaupt nichts gegen fröhliche Cortinas jeglicher Art. Ich habe auch kein Problem mit ein oder zwei tanzbaren Cortinas (…); die Leute zahlen, um sich zu amüsieren, und wenn sie diese Dinge zu schätzen wissen, warum nicht? Ohne zu übertreiben, höchstens eine oder zwei.“

Tja, bloß nicht übertreiben! Amüsant finde ich es vor allem, dass man sich in der traditionellen Szene nicht mehr darüber klar ist, ob denn nun das argentinische Mekka die Blaupause für den Rest der Welt darstellt oder nicht. Viele Jahre hat man das so gesehen – nun aber mehren sich die Zweifel:  

„‚Das ist es, was sie in Buenos Aires tun...‘ Die ultimative Jokerkarte.“

Die Mehrzahl der Kommentatoren meint jedenfalls: Wenn die Leute Spaß daran haben, ist doch alles in Butter!

„Warum nicht? Eine Milonga mit anderen Tänzen zu lockern und sich dann wieder auf den Tango zu konzentrieren. Es spielt keine Rolle was, Volkstanz, Rock 'n Roll, Salsa, Cumbia. Ich mag diese Idee.“

„Vielleicht tanzen die Leute in Buenos Aires andere Stile oder reden sogar (!) während einer Milonga, weil sie zur Milonga gehen, um einfach zu tanzen und eine gute Zeit zu haben, und nicht, um ihr Lebenspotenzial auf der Tanzfläche zu verwirklichen, wie es in Europa geschieht.“

„Ich finde es lustig, dass die Menschen in der Fremde versuchen, den Tango ‚reiner‘ zu sehen als die Porteños.“

Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 27.9.22)

Persönlich meine ich: So lange die Tango-Charakteristik einer Milonga erhalten bleibt, habe ich nichts gegen Experimente. Die Grenzen habe ich in einem früheren Artikel beschrieben:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/01/ich-habe-fertig.html

„Bleibe im Leben tanze die Cortinas" war schon vor Jahren das Motto eines argentinischen Veranstalters, der die eingestreuten Non Tangos in voller Länge ausspielte. Und ein anderer Gastgeber drehte einmal sogar den Spieß um, indem er zwischen Tandas mit tangoferner Musik Tangos als Cortina auflegte. 

Worum man sich in der konservativen Szene ewig herumdrückt: Wieso tanzen denn etliche Gäste begeistert zu Cortinas mit andersartiger Musik? Ich fürchte: Weil die in den Tandas gebotenen Titel oft grottenlangweilig sind! Das Problem sind daher nicht die Cortinas, sondern die Stücke dazwischen.

Voraussichtlich wird diese Erkenntnis sich bei den Verantwortlichen nur millimeterweise durchsetzen. Aber immerhin: Seit einiger Zeit bröckeln althergebrachte Vorstellungen, wonach auf Milongas weniger getanzt wird denn Rituale zelebriert werden.

Wenn es denn hilft: Let‘s have a Party!

Den gleichnamigen Hit brachte 1957 Elvis Presley heraus – und drei Jahre später die für damalige Zeiten ungewöhnlich wild agierende Wanda Jackson. Und ja: Dazu würde ich gerne einmal tanzen, notfalls bei der Cortina:

https://www.youtube.com/watch?v=7ksBcV-qrgo

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.