No risk, no fun


Jüngst stellte eine Tänzerin in unserer Facebook-Gruppe eine sehr interessante Frage, die ich hier in Auszügen wiedergebe. Sie spricht über zwei Arten von Führenden, die sie kennengelernt habe:

„Einerseits sind da die Übervorsichtigen', die auf Nummer sicher gehen und mit einer unbekannten oder offensichtlich noch unerfahrenen Tanguera nur gaaaaanz einfache Schritte tanzen (frei nach dem Motto ‚bloß keine gröberen Patzer oder gar Stolpern auf der Tanzfläche riskieren‘).
Andererseits gibt es als das andere Extrem die ‚lässigen Draufgänger‘, die auch mit einem Neuling wie mir die wildesten Sachen ausprobieren und darauf vertrauen, dass ihre Führung gut genug ist, um die mangelnden Fertigkeiten der Tanzpartnerin aufzufangen. Und wenn es doch daneben geht, dann ist es auch nicht schlimm, sondern man übergeht es mit einem Lächeln und versucht es einfach nochmal.
(…)
Mir persönlich sind prinzipiell die ‚lässigen Draufgänger‘  weitaus lieber, und meine bislang schönste Tanda hatte ich genau mit so einem Tanguero. (Übrigens: Die Sachen, die ich beim ersten Mal vermasselt habe, sind mir dann meistens beim zweiten Versuch tatsächlich gelungen und wir haben uns gemeinsam darüber gefreut.)
Mein zutiefst subjektiver Appell an alle Tangueros lautet also: Riskiert was :-)

Aber ich habe auch schon von anderen (Männern wie Frauen) gehört, dass ihnen die ‚Übervorsichtigen‘ weitaus lieber sind, weil sie den Tango nur dann genießen können, wenn sie sich sicher fühlen; Patzer hingegen würden sie aus dem Tanzfluss herausreißen. Klingt ja irgendwie auch nachvollziehbar, oder?

Wie seht ihr das?“

Die Fragerin erhielt eine Reihe von Antworten, die eigentlich alle in dieselbe Richtung gingen. Fazit: Die „Übervorsichtigen“ sind in unserer Gruppe nicht vertreten (oder äußern sich kaum).

So hieß es von Führenden:

„Ich gehöre auch zum Typ lässig, immer mal wieder gemeinsam kleine Grenzerfahrungen zu schaffen. ‚Gute‘ Einfühlung ermöglicht mir meistens, das kurz vor der totalen Konfusion der Tanzpartnerin abzustellen und in vertrauten Bahnen zu tanzen. (…)
Und in der Gestaltpsychologie gibt es den Satz: Kontakt entsteht (erst wirklich) an der Grenze.“

„Bin auch eher der ‚lässige‘ Tänzer, aber wenn etwas zweimal nicht klappt, dann schalte ich lieber 'nen Gang zurück, bevor es zu frustrierend wird.“

„Klar, die Evolution findet immer am Rande des Biotops statt, nicht im gemütlichen Zentrum.“

„Ich fange einmal einfach an und teste aus, wie die Partnerin mitgeht und reagiert. Wenn von ihr neue Impulse/Ideen kommen, wage ich mich auf komplizierteres Terrain.“

Die Damen sehen es ähnlich, wobei man allerdings schon Wert darauf legt, dass die Tänzer nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen:

„Ich mag es am liebsten, wenn am Anfang des Tanzes so getanzt wird, dass man sich aufeinander einstimmen und einstellen kann. Wenn dann der Kontakt hergestellt ist, kann man auch Schritte und Figuren zusammen tanzen, die der/die folgende nicht kennt.“

„Langsam anfangen und dann steigern finde ich spannend. Immer nur die gleichen 5 Schritte sind langweilig. Ich will mit meinem Partner kommunizieren, dazu gehört eine gewisse Steigerung der Komplexität während einer Tanda.

„Aber auch wenn frau schon besser/länger tanzt, und meist beobachten Tanzpartner das vorher, dann ist es mir persönlich lieber, wenn man sich erst mal mit den üblichen Schritten und Kombinationen aufeinander einschwingt. Meist ist ja während des ersten Tangos schon klar, was ‚geht‘. Und dann ist es doch wundervoll, wenn man sich miteinander ‚steigert`.“

Unangenehm finde ich solche Tänzer, die von 0 auf 100 hochfahren und mit wenig oder keiner Empathie ihren ‚Stiefel durchziehen‘. Das verursacht mir zu viel Stress.“

Darf bzw. soll man einer Tänzerin Hinweise geben, damit etwas doch noch klappt, was zunächst nicht funktionierte? Da ist man beiderseits eher aufgeschlossen:

„Aber bei mir darf man es gerne auch ein drittes Mal versuchen oder vielleicht auch kurz sagen, was ich hätte tun sollen.“

„Aber gerade für Neulinge, die noch nicht mir so vielen verschiedenen Partnern getanzt haben, liegt das Problem manchmal einfach darin, dass sie das Führungssignal nicht erkennen (obwohl sie die Figur eigentlich beherrschen) – weil eben jeder etwas anders führt. Ein kleiner dezenter Hinweis reicht dann meistens.“

„Wenn der/die Folgende allerdings wissen will, wie ich mir das wohl gedacht habe, dann erkläre ich's natürlich und probiere es noch mal. Allerdings finde ich auch, dass Milongas keine Übungsstunden sind, denn dabei kommt die Musik zwangsläufig zu kurz und verkümmert zum Metronom.“

Ich habe mich über die wirklich vernünftigen Ideen sehr gefreut. Ich halte sie beim Tango jedoch nicht für repräsentativ.

Sicherlich gibt es in dieser Hinsicht zwei Typen von Menschen: Die einen stürzen sich nach dem Motto „no risk, no fun“ in Abenteuer und ziehen ihren Lustgewinn daraus, während die anderen bereits Nasebohren für ziemlich riskant halten und dazu lieber vorher einen Workshop besuchen. Das Tragische hieran ist: Die einen sind vor mehr als hundert Jahren an den Rio de la Plata ausgewandert und haben den Tango erfunden, die anderen tanzen ihn heute – speziell auf den hierfür entwickelten „traditionellen Milongas“.

Sicherlich liegt die Realität oft irgendwo dazwischen, aber ich stimme dem Eindruck der Fragestellerin zu, dass man solche Unterschiede ziemlich deutlich spürt.

Niemand wird es verwundern, dass ich mich (zumindest beim Tanzen) zur ersteren Gruppe zähle: „Evolution“ ist hierfür ein gutes Stichwort – ich will mit einer Tänzerin nicht in öde Routine verfallen. „The same procedure as last year“ überlasse ich Freddie Frinton.

Soll ein erfahrener Tänzer also „Figuren führen, die eine Anfängerin noch nicht kennt“? Ich finde, diese Frage greift nicht weit genug. Wenn ich einen Tanz beginne, interessiert es mich überhaupt nicht, ob und welche choreografischen Muster meine Partnerin kennt oder durch meine „Führung“ entschlüsseln kann.

Was ich jedoch schnellstens herauskriegen muss (wenn ich es nicht schon durch vorherige Beobachtung ahne): Wie sind die technischen und mentalen Voraussetzungen? Achse, Balance, Fähigkeit, länger auf einem Fuß zu belasten, Ruhe im Oberkörper, Verbindung, um deutliche Signale geben und empfangen zu können? Wie steht es um die Musikalität? Hört mein Gegenüber Stakkato- und Legato-Passagen, Pausen, dynamische Höhepunkte, überhaupt die Eins, um Phrasierungen umzusetzen? Möchte die Tanguera eigene Impulse setzen oder tanzt sie nur passiv mit? Und vor allem: Wie steht es um die Stressresistenz? Spüre ich Abwehrspannungen und Verkrampfungen? Wie ist die Reaktion auf Missverständnisse: Lachen oder seelische Krise?

Den entsprechenden Level muss man zunächst vorsichtig austesten, dann ergibt sich eine Bandbreite dessen, was funktionieren könnte. Der Rest ist Probieren – und wenn meine Partnerin etwas „missversteht“, dann tanze ich schlichtweg das mit, was ihr dazu einfällt.

Daher beantworte ich Fragen, „was denn nun richtig gewesen wäre“ oder „was ich denn gemeint hätte“ meist mit „hab ich schon wieder vergessen“ oder „keine Ahnung, tanz einfach, was du meinst“. Glaubt zwar keine, ist aber die reine Wahrheit! Sollte die Dame genügend Humor haben, füge ich noch hinzu: „Ich bin doch nicht wahnsinnig und überlege mir dauernd, was du tanzen sollst!“

Eine Ausnahme gibt es: Wenn die Tänzerin mit dem Oberkörper nach hinten hängt, kann das richtig gefährlich werden. Mein Standardsatz ist dann: „Belaste bitte nach vorne – wenn dann was schiefgeht, fällst du auf mich drauf. Das dürfte für dich wesentlich angenehmer sein als das Gegenteil!“

Tanzrunden, bei denen eine Steigerung fühlbar wird, sind natürlich die schönsten. Dennoch gilt für mich das eherne Gesetz: Der Spaßfaktor darf nie auf unter 50 Prozent sinken! Ich fordere ja niemanden auf, um Angst und Schrecken zu verbreiten – oder irgendein vermessenes Leistungsdenken umzusetzen. Sobald ich also eine zunehmende Verspannung fühle (kann ich meist schon an den ausgestreckten rechten Fingern der Dame oder der Kompression meines linken Daumens erkennen), ist es höchste Zeit zum Runterfahren und für „vertrauensbildende Maßnahmen“.

Jedenfalls sollte ein Tanz nicht so enden wie dieser:


Und, was ich für viel wichtiger halte als irgendwelche komischen Aufforderungsrituale: Ich überlege mir nach einer Tanzrunde sehr genau, ob es meiner Partnerin wirklich Spaß gemacht hat. Wenn ja, werde ich mich sicherlich einmal wieder um eine Tanzrunde mit ihr bemühen. Bei Zweifeln warte ich lieber weitere Signale von ihr ab – oder überlasse sie gerne Tänzern, mit denen sie besser harmoniert.

Ich glaube nämlich durchaus nicht, für jede Tanguera der Richtige zu sein – und umgekehrt. Ich habe einmal beschrieben, wie ich persönliche Traumtänzerinnen erkenne: Wenn die Musik einsetzt, muss ich ein grünliches Leuchten in ihren Augen wahrnehmen, das mir zeigt: Sie sucht die Herausforderung. Nur zur Unterscheidung: Es muss Nacht sein! Tagsüber könnte es sich auch um die Sonne handeln, welche von hinten durch die hohle Birne scheint.

Also, Jungs: No risk, no fun!


P.S. Wer die ganze Diskussion lesen möchte, kann sich gerne um Aufnahme in unsere Facebook-Gruppe bemühen:

Kommentare

  1. Lieber Gerhard, habe gerade Deine Datenschutzerklärung gelesen...perfekt. Habe damit begonnen, etwas Ähnliches zusammenzuklicken. Die Idee ist ja, den worst case der Datenspeicherung so wortreich zu beschreiben, daß der Leser nach maximal 20% narkotisiert "ja, okay" denkt und explizit oder konkludent zustimmt. Da ich von Natur aus faul bin, frage ich hiermit höflich an, ob ich Deinen Text verwenden darf.

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    1. Lieber Yokoito, na klar, die Textbausteine kannst Du Dir auf der Seite des verlinkten Rechtsanwalts zusammenklöppeln. Sind ja eh nicht von uns!

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