Karen Kaye: Ignoriert



Schon wiederholt habe ich Artikel dieser außergewöhnlichen US-amerikanischen Bloggerin veröffentlicht (bei Interesse in die Suchfunktion – Sidebar rechts – den Autorennamen eingeben).

Auch beim vorliegenden Beitrag wäre es schade, wenn dieser nur wegen der Fremdsprache bei uns unbekannt bliebe. Darum habe ich ihn (mit freundlicher Genehmigung der Kollegin) übersetzt.

Karen Kaye ist eine sehr sensible und selbstkritische Person, die dennoch den Mut zu klaren und direkten Aussagen hat. Diese Mischung kann durchaus Widerspruch provozieren, aber den wird sie dank ihres Selbstbewusstseins wohl gut aushalten.

In der letzten Zeit erhalte ich verstärkt Rückmeldungen von Tangoanfängern, welche sich über asoziale Züge in der angeblich ach so rücksichts- und respektvollen Szene beklagen. Gerade deshalb hoffe ich, der Text wird einiges Interesse finden und Tangokrisen zumindest verringern.

Nun aber hat Karen Kaye das Wort:


Ignoriert

Meine Tangoreise startete wie die vieler vor mir: Indem ich ignoriert wurde.

Ich begann mit dem Tango in einer anfängerfreundlichen Szene. Die meisten Leute waren liebenswürdig. Aber ich merkte schnell, dass ich eindeutig für bestimmte Menschen unsichtbar war. Manche waren fortgeschrittene Tänzer, die ihre Missachtung offen zeigten. Eine war Lehrerin, die offen jeden schnitt, der gerade bei ihr keine Kurse belegte. Andere waren Freunde, die auf Abstand gingen, als sie sich ernsthafter mit ihrem Tanzen beschäftigten – sie zögerten plötzlich, „Hallo“ zu sagen, in der Angst, das würde in einer gefürchteten Aufforderung enden. 

In manchen Fällen ignorieren einen die Leute nicht lange… Manche beginnen zu unterrichten oder Veranstaltungen zu organisieren. Dann erkennen sie bald, dass die Personen, welche sie schnitten, letztendlich einen Wert bedeuten. Diese Leute können Eintritt bezahlen, Workshops besuchen, Posts teilen und so an ihrem Image eines Szene-VIPs mitarbeiten.

He, ich bin mehr als eine 15 Dollar-Eintrittskarte und ein Körper, der in einem Kurs den Platz ausfüllt! Ich bin ein menschliches Wesen, das eine elementare Höflichkeit verdient – selbst wenn ich von dir keine Privatstunden nehme, deinen Event weder besuche noch die tänzerischen Fähigkeiten eines Rockstars besitze! Unsere Tanzgemeinschaft beruht auf Verbindung. Sie basiert nicht auf der opportunistischen Benutzung von Menschen.
  
Ein guter Tänzer zu sein berechtigt nicht dazu, auf gute Manieren und Höflichkeit zu verzichten. Es bedeutet tatsächlich, dass dir klar werden muss, wie du deinen Abend taktvoll verbringst, wenn neunzig Prozent der Gäste deine Zeit, Energie und Aufmerksamkeit beanspruchen. 

Ich bin weit davon entfernt, alle zu grüßen – manchmal sind meine Gedanken sonst wo oder meine introvertierte Seite überwiegt mein Verlangen, sozial zu sein. Und es ist meine Schuld, Leute abzuschreiben, die offensichtlich nichts mit mir zu tun haben wollen. Aber, um ehrlich zu sein: Es ist immer Zeit, zu lächeln und „Hallo“ zu sagen.

Mir ist klar, warum ich nicht stets eine warme Begrüßung erhalte. Nachdem ich es mit dem Tanzen ernst meinte, begann ich die Aufmerksamkeit der besseren Tänzer auf mich zu ziehen. Und da merkte ich den Unterschied zwischen Ignorieren und mich nicht wirklich Wahrnehmen. Manche waren schlicht fokussiert auf Tanzende, welche besser zu ihrem Fähigkeitsniveau und ihren Interessen passen.
 
Nicht jeder geht aus sozialen Gründen zum Tanzen. Nicht alle wollen alle im Saal grüßen. Manche konzentrieren sich einfach auf die Leute, die sie schon kennen, auf ihre engsten Freunde und Lieblinge. Manche wollen zu keiner längeren Begegnung einladen, wenn sie schlicht zum Tanzen da sind, womöglich mit ihren Lieblingspartnern. Ich nehme das alles nicht persönlich. 
  
Wie dem auch sei: Manchmal IST es Absicht.

Ignoriert zu werden heißt manchmal, dass derjenige sich ein Urteil über deinen Wert, deine Akzeptanz bildet. Ich habe viele Fälle erlebt, wo sich jemand sehr verletzt, von einer Breitseite getroffen oder sogar verhöhnt vorkam. Ich habe eine Menge schlimmer Geschichten gehört. Und manchmal ist es eine passiv-aggressive Methode der Vermittlung, dass du zu gering bist. Unwert. Unerwünscht. Unwillkommen.

Keiner will dorthin gehen, wo er ignoriert wird. Überprüfe dich selbst, deine Freunde. Überprüfe deine örtliche Kultur, die Zentralfiguren deiner Szene. Es geht nicht darum, mit jedem im Raum zu tanzen oder jeden persönlich zu kennen. Es geht schlicht darum, freundlich und höflich zu sein.

Vor Jahren schrieb ein Bekannter: „Wir vergessen NIE diejenigen, welche uns ignoriert haben.“ Der Tänzer, den du heute schneidest, kann morgen derjenige sein, welcher zu unvorhergesehener Popularität oder ungeahnten Fähigkeiten kommt – der zum gefragtesten Tänzer im Saal wird oder sogar zum perfekten Tanzpartner für dich. Heute besitzt dieser Bekannte den Titel einer Tangomeisterschaft. Dieser Junge hatte die Kraft, einen Narren aus denen zu machen, welche ihn ignorierten.    

Daher macht es mir nichts, ignoriert zu werden. Weil ich an meinem Tanzen weiter arbeiten werde, das Licht und die Liebe, die ich der Gemeinschaft entgegenbringe, verstärken will. Mich jeden Tag anstrenge, eine besseres, mitfühlenderes, liebenderes menschliches Wesen zu werden – und, hey, wenn alles klappt, eine Tänzerin, die sehr gefragt ist.

Wenn du dich also ignoriert fühlst, geh und „mache einen Narren aus diesen Leuten“. Werde der bestmögliche Tänzer. Werde bekannt dafür, etwas Tolles zu tun oder zu sein. Habe eine phänomenale Umarmung, eine tadellose Balance, eine glänzende Musikalität oder ein exquisites Caminar. Wenn Tanzen nicht deine hauptsächliche Stärke ist, werde bekannt dafür, ein außergewöhnlicher Mensch zu sein, einen brillanten Witz, das wärmste Herz, die besten Geschichten zu haben – über tiefe Weisheit, außergewöhnliche Einsichten, einen urkomischen Sinn für Humor oder einen unschätzbaren Freund zu verfügen.

Und vergiss diese Leute. Lass deine Begabungen ihr Verlust sein. Und richte deinen Blick auf die vielen schönen, warmherzigen und liebenden Seelen unserer Gemeinschaft.


Ich kann diese Erfahrungen nur bestätigen: Nach einigen Jahren im Tango fiel mir zunehmend auf, dass wir von manchen Leuten – insbesondere argentinischen Zentralfiguren der Szene sowie Veranstaltern und Tangolehrern  konsequent missachtet wurden (ich prägte damals den Begriff „Alien-Verhalten“). Insbesondere, als wir 2007 mit unseren öffentlichen Milongas begannen, merkten wir, dass hinter sehr süßlicher Zuwendung manchmal ebenfalls nichts Echtes steckte.

Mein damaliger Vorsatz gleicht dem von Karen Kaye: Uns im Tango so weiter zu entwickeln, dass man uns nicht mehr übersehen konnte. Mein Motto „irgendwann kriegen wir sie alle“ betraf das Tanzen und später ebenso das Schreiben: Nicht den anderen (oder irgendwelchen Trends) hinterherlaufen, sondern selber Maßstäbe und Themen setzen. Diese Idee hat sich glänzend bestätigt.

Und auch die positiven Aspekte sehe ich ähnlich: Ich habe beim Tango Menschen und Situationen erlebt, die mir sehr viel gegeben haben. Mein Leben wäre weitaus ärmer ohne diese Erfahrungen.

Dennoch muss man gerade einem Anfänger unmissverständlich sagen: Der Tango ist dir nichts schuldig – nicht einen einzigen „überirdischen“ Tanz, keine Rettung aus der Beziehungskrise, keinen Traumpartner, weder Geld noch Ruhm und Ehre. Solltest du ein wenig vom einen oder anderen bekommen, dann nur geschenkt!  

P.S. Hier der Originaltext:
https://karenkaye.net/2017/02/16/%ef%bb%bfsnubbed/

Kommentare

  1. Markus Betz, WI21. Juli 2017 um 14:46

    Wunderbare Einsichten :-)

    "(..)Es geht schlicht darum, freundlich und höflich zu sein.(..)", habe ich schon von meiner Oma gelernt ;-)

    Und aber ja, die Angst jemand könnte sich dann ungewollt aufgefordert fühlen und somit in Erklärungsnöte zu geraten lauert stets am Rande mit, aber ich versuche dies dann auszuhalten...

    Als scheue und eigentlich introvertierte Person tut mir nun wirklich jede-/r potentielle Tanzpartner-/in leid, die sich eventuell von mir ignoriert fühlt, gefühlt hat und noch fühlen könnte ��

    Aber ich kann einfach keine Gedanken lesen und sehr oft möchte ich auch einfach nur den anderen Zuschauen, um deren Interpretation zu einem Titel zu sehen, um andere zu studieren oder schlichtweg aus Faulheit, wegen einem anstrengenden Tag.

    Also liebe unbekannten, schon mal eine herzhafte Entschuldigung im Voraus!! ��

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  2. Die wird sicherlich angenommen, falls man sich nicht völlig abkapselt. Niemand kann (oder muss gar) mit allen tanzen - aber mit niemandem außer der festen Partnerin kommt einfach nicht gut an!

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  3. Hi Gerhard

    Danke für die Übersetzung.

    Tja: Ist eine Sichtweise. Es gibt auch genug andere Sichtweisen. ich tanze seit nun fast 20 Jahren und es gibt eine Menge Frauen, die ich nie auffordern werde. Denn auch unter denen gibt es genug, die mich ignorieren.

    Und wenn ich einen Stressigen Tag hinter mir habe, hab ich weder Bock auf einen Korb oder eine miserable Tanda.

    Da fordere ich nur Tänzerinnen auf, bei denen ich weis, was mich erwartet. Entweder weil ich Sie habe tanzen sehen, oder ich sie kenne.

    ist dann mein Laune etwas besser, verkrafte ich auch den mal eine schlechte Runde. Aber das hängt vom vorherigen Frustlevel des Tages ab.

    Manchmal sizte ich dann auch lieber eine Zeitlang und schaue nur.

    Grüße
    von tangomuechen.de

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    1. Hallo Jörg,

      danke für den Beitrag!

      Spontan hätte ich gesagt: Ja, solche Tage gab es bei mir auch schon…

      Aber im Ernst: Ist das auf die Dauer nicht etwas fad?
      Ich finde, von außen kann man nur sehr eingeschränkt voraussagen, wie es bei einem Tanz dann tatsächlich läuft. Ich habe da schon große Überraschungen (in jeder Richtung) erlebt – und dieses Spiel macht für mich einen Großteil der Faszination des Tango aus.
      Aber klar: Wenn man das Gefühl hat, sich „opfern“ zu müssen, sollte man nicht tanzen. Das ist auch für die beteiligten Frauen eine Zumutung.

      Beste Grüße
      Gerhard

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