Wenn das Schlechte liegt so nah
In der Tangoszene findet gerade ein mittleres Erdbeben statt. Wenn ich den Ablauf per Video richtig mitgekriegt habe (ansonsten möge man mich korrigieren):
Die internationalen Tangostars Gustavo Naveira und Giselle Anne sollten beim „Gavito Tango Festival“ in Los Angeles zu einer modern klingenden Tangoballade tanzen. Irgendwas (ob Musik oder Partnerin) schien den Maestro aber ziemlich zu nerven. Mehrmals sagt er während der Show etwas wohl Unfreundliches zu seiner Partnerin, einmal gerät er ein wenig aus dem Gleichgewicht. Ziemlich lustlos tanzt er weiter; sie versucht, durch schöne Bewegungen zu retten, was zu retten ist, kann aber offenbar seine Säuernis nicht überwinden. Schließlich verlässt Naveira in rhythmischem Schritt das Parkett, was Giselle immer noch als Tanz interpretieren möchte. Ohne Energie werden abschließend einige Tangofiguren angedeutet – am Ende lässt der Meister seine Gattin auf dem Parkett stehen und entschwindet.
https://www.facebook.com/monica.orca.1/videos/2248888025475935
Weitere Tänze kamen offenbar nicht mehr zustande, da Giselle sich weigerte. Naveira wurde anschließend vom Festival ausgeschlossen, seine Frau dagegen blieb und wurde hymnisch gefeiert. Zu Recht.
Auf der Facebook-Seite des Festivals herrscht dazu peinliches Schweigen.
https://www.facebook.com/Gavitotangofestival
Maestro Naveira ging heute auf seiner Facebook-Seite tief in die Knie und entschuldigte sich „millionenfach“ bei der Partnerin und allen möglichen anderen. Kostprobe:
„Giselle, meine Lebens- und Tanzpartnerin seit fast dreißig Jahren, Mutter von zwei meiner Kinder, die beste Tangolehrerin und die beste Tangotänzerin, mit der ich je getanzt habe, musste ein Verhalten meinerseits ertragen, das absolut verwerflich war und jeglicher Professionalität entbehrte.“
Dass er seine Gage zurückzahlt (an wen auch immer), wird nicht angesprochen. Aber lesen Sie selbst:
Persönlich ist mir das zu viel Wortgeklingel. Aber jeder nach seinem Gusto (oder Gustavo).
Natürlich ist mir Naveira durch den Film „The Tango Lesson“ in bester Erinnerung. Was er inzwischen tänzerisch treibt, finde ich nicht mehr so toll:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/06/lieber-tango.html
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/09/und-es-dreht-sich-doch.html
Um auf den Show-Aussetzer zurückzukommen: Im Netz hagelt es nun tausendfach Kommentare, die grob zwischen „Ende der Karriere“ und „Fehler kann doch jeder mal machen“ liegen.
Was ich nicht verstehe, ist das Entsetzen,
welches aus vielen Wortmeldungen spricht. Ich dagegen sehe nur die kleine Spitze
eines altbekannten Eisbergs. Und da kommt es nicht auf den Namen Naveira an.
Ich weiß nicht, wie viele Artikel ich in den Jahren schon über die Starallüren, den Machismo nicht nur argentinischer Tangolehrer geschrieben habe. Mein Tangofreund Peter Ripota äußerte einmal in einem Kommentar:
„Du kennst die Lehrer nicht. Ich habe Gustavo Naveira und Pablo Veron kennengelernt, letzteren sogar auf einem Seminar. Das, was sie hauptsächlich ausstrahlen, ist Langeweile und Verachtung. Sie hadern mit ihrem Schicksal, diesen dumpfbackigen Europäern was beibringen zu müssen, was die eh nie lernen werden. Wozu sich dann anstrengen? Wie war der Rat in der Zeit Königin Viktorias an frisch verheiratete Frauen? Augen zu, und denk an die Königin. Ersetze ‚Königin‘ durch ‚Honorar‘, dann weißt du, wie diese Persönlichkeiten ticken.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/09/und-es-dreht-sich-doch.html#comments
Ich fürchte, man muss da nicht mal unbedingt was ersetzen…
Ähnliches wusste vor einiger Zeit Jochen Lüders zu berichten:
https://jochenlueders.de/?p=17055
Aber wir müssen gar nicht in die Ferne schweifen, liegt das Schlechte doch so nah: Ebenfalls viele Male habe ich über die strukturelle Dominanz des „starken“ Geschlechts auch im hiesigen Tango berichtet: Immer noch führt der Mann, die Damen haben sich beim Auffordern auf zarte Augenaufschläge zu beschränken – und sich mit der geschlechtlichen Quotierung von Kursen und Milongas abzufinden. Und müssen sich beim (selbstverständlich engen) Tanzen gerne auch „unabsichtlich“ begrapschen lassen. Und wenn ein Tangopaar Erfolg hat, liegt es selbstredend an ihm, nicht an ihr.
Ein Blogger-Kollege wollte einmal von mir wissen, wie ich „meinen Tanzstil“ beschreiben würde. Dass daran regelmäßig noch eine zweite Person beteiligt ist, war ihm anscheinend entfallen. Und Naveira spricht von „meinen Kindern“, die er offenbar durch Ableger erzeugt hat.
Dominantes, rücksichtsloses Verhalten gegenüber Frauen hat meist eine lange Vorgeschichte und fällt nicht plötzlich während eines Showtanzes vom Himmel. Und jede Kripobeamtin im entsprechenden Dezernat kennt die männlichen Entschuldigungsschwüre, nachdem ein Kerl mal wieder seine Aggressionen nicht in den Griff gekriegt hat. Glücklicherweise waren in Los Angeles genügend Zeugen vorhanden, um Schlimmeres zu verhüten.
Nein, im Tango müsste sich nicht nur in der Hinsicht vieles grundlegend ändern. Doch die Empörung wird verebben, Naveira wird nach einer Sühne-Pause weiter unterrichten und vortanzen – vielleicht auch mit neuer Partnerin. Schließlich wird das Ganze als „Einzelfall“ vergessen.
Die Tangolehrerin Flavia Cristaldo schreibt dazu aktuell auf Facebook:
„Was für viele Menschen ein ‚Jeder macht mal einen Fehler‘ ist, ist für mich und viele andere die Qual und Demütigung, die ein Mann einer Frau während einer Show dieser Kategorie zufügt. In einem Kommentar schrieb ich, dass mich das nicht überrascht, denn es ist ein weiterer von vielen Akten geschlechtsspezifischer Gewalt, die in der Tangoszene gesehen, kommentiert, totgeschwiegen und sogar versteckt werden. Zum Glück hat sich das geändert.“
https://www.facebook.com/cristaldo (Post vom 8.10.24)
Recht hat sie. Ihren Optimismus würde ich gerne teilen.
Lasen wir noch die unvergessene Ursula Herking Kurt Tucholskys „Lamento“ singen. Der Text stammt aus dem Jahr 1931 – so langsam ändern sich die Zeiten!
https://www.youtube.com/watch?v=35aa93QSFcg
Auf YT war kurz ein Video online, in dem Gustavo vorab ankündigte beweisen zu wollen, dass die Musik von Piazzolla tanzbar ist. Okay, damit ist er wohl spektaktulär gescheitert. Aber ein fehlgeschlagener Beweis ist ja noch kein Unmöglichkeitsbeweis, viellecht schafft das irgendwann ja noch irgendwer. ;-)
AntwortenLöschenPrognosen welche die Zukunft, auch seine Zukunft, betreffen sind bekanntlich schwer. Aber ich glaube nicht, dass die "Sisterhood" ihn mit so einer Nummer durchkommen lässt, denke der Typ ist beruflich erledigt. Habe mir die Sache für in einem Jahr auf Wiedervorlage gelegt, melde mich dann hier.
P.S.: Gerhard, aufgrund welcher Vergangenheit kenntst Du "jede Kripobeamtin im entsprechenden Dezernat" - oder war das nur eine Übertreibung?
Lieber Martin,
Löschenich äußere mich nicht zu Videos, die ich nicht kenne und die nicht mehr verfügbar sind.
Dass man zu Piazzollas Musik tanzen kann, beweisen Hunderte von Videos zum Beispiel auf YouTube. Aber manche glauben halt auch gerne an die Erde als Scheibe.
Wenn sich im Tango mal die „Sisterhood“ durchsetzen sollte, würde mich das freuen.
P.S. Dass Männer ihre Grenzüberschreitungen gegenüber Frauen verharmlosen, leugnen oder wortreich bis zum nächsten Übergriff bereuen, ist längst Stand der kriminologischen Forschung und der Polizeiarbeit. Ich habe mir dazu viele Dokumentationen angesehen. Sehr empfehlenswert!
Der Typ gefällt sich nicht erst seit gestern in der Rolle des gelangweilten Zuchtmeisters, da sind wir uns einig, Gerhard. Welcher Festivalveranstalter möchte es riskieren, dass Pfiffe durch den Saal gehen? Sein Festivalauftritt am kommenden Wochenende ist schon gestrichen, weiteres wird man sehen. Und erwiesenermaßen geht Beziehungsgewalt in 80%-90% der Fälle von Männern aus, keine Frage.
LöschenIm YT-Kanal "Left Foot Right Foot" wird in einer Art Augenzeugenbericht ziemlich am Anfang auch seine Piazzolla-Ansprache besprochen. Na ja, augenscheinlich hat er sich leicht übernommen und vielleicht hat die melancholische Musik seine eh zu schwach dimensinierten Sicherungen mit durchbrennen lassen?
Lieber Martin,
Löschenglücklicherweise haben Gustavo Naveira und Giselle Anne bereits letztes Jahr auf diesem Festival zu "Oblivion" getanzt:
https://www.youtube.com/watch?v=ikwZGl_rst4
Piazzolla scheint also nicht schuld zu sein.
Heute erreichte mich per Mail der folgende Kommentar von Peter Pöllmann:
AntwortenLöschenLieber Gerhard,
nun habe ich mir das Video der Tanzvorführung von Giselle und Gustavo auf Deinen Hinweis hin ein paar Mal angeschaut.
Wenn ich wissen wollte, was Tango ist, das Beispiel hier wäre mir keine Hilfe. Ich will’s ja auch gar nicht wissen, nur immer wieder versuchen, rauszufinden. Was ich im Video sehe, will ich kurz skizzieren.
Die beiden haben schon vor dem Tanz „was am Laufen“. Das wird mir klar, wenn ich wahrnehme, wie schwierig es für beide ist, zu Anfang in die Tanzhaltung zu finden. Er weicht aus, sie weicht aus, sie finden sich nicht voreinander. Es ist von Anfang an keine Verbindung da. Wie soll es da ein schöner Tanz werden? Ich halte das nicht für unmöglich, später noch über die Musik zueinander zu finden, aber es ist nichts daraus geworden.
In den ersten paar Schritten gibt es einige vom Timing her, von der „Musikalität“ her schöne Bewegungen, aber sie geschehen jede/r für sich, ohne Verbindung.
Später sehe ich dann, was ich eigentlich nicht mehr sehen kann … das Naveira-Typische, zB sie ruckartig in eine Richtung reißen, natürlich nur optisch angedeutet, nicht real vollzogen, sonst gäbe es ausgekugelte Schultern. Also: sie ruckartig irgendwohin reißen, so seitlich vorbei, dann entgeistert in die andere Richtung stieren, um nach einer Kopfwendung sie wieder zu finden… Was soll das? Ich kann’s nicht mehr sehen. So tanze ich nicht.
Auch das „Pumpen“, schnelle vertikale Auf-Ab-Bewegungen in den frei gehaltenen Armen, induziert vom Führenden… Was soll das?
Naja. Die beiden genannten Muster sind einfach Naveira. Was aber im Video raus kommt: Der Tanz, vielleicht Tango, wirkt wie ein Brennglas auf die Stellen, die in der Beziehung nicht stimmen.
Es gehört viel Mut dazu, mit ner Wut im Bauch eine Vorführung durchzuziehen. Ich kann die beiden (ja genau: es gehören zwei dazu) nicht allzu sehr dafür tadeln. Es war halt auf dem Programm.
Ich wünsche den beiden, wieder zu innigen, herzverbundenen Tänzen zu finden. Das muss ja nicht öffentlich geschehen.
Liebe Grüße von hier,
Peter
Lieber Peter,
Löschenich mag diesen Auftritt nicht nach tänzerischen Kriterien beurteilen. Offenbar war Naveira völlig von der Rolle, und das hat natürlich auch seine Partnerin beeinflusst. Du beschreibst treffend, dass die beiden kaum eine Verbindung zueinander aufbauen konnten.
Der Unterschied ist: Sie hat die Krise professionell in den Griff gekriegt, er nicht. Von Alter und tänzerischer Erfahrung her hätte es eher umgekehrt sein müssen.
Den „Naveira-Stil“ kann man mögen oder auch nicht. Aber diese missglückte Show eignet sich nicht zu einer Generalabrechnung damit. Gustavo gilt als Wegbereiter des modernen Tangotanzes, Giselle und er haben Tausende von Fans, die ihren Unterricht in den höchsten Tönen loben. Das verdient Anerkennung.
Man könnte aber aus der Affäre lernen, dass die im Tango übliche geradezu religiöse Verehrung von „Maestros“ (die „Maestras“ vergisst man meist) gefährlich ist. Wer würde da nicht abheben und ein Ego entwickeln, das kaum noch durch die Tür passt?
Ich plädiere seit langer Zeit für einen „Tango auf Augenhöhe“. Darin haben Gurus keinen Platz. Aber das Publikum steht leider auf Anbetung. Daher trägt es eine Mitverantwortung für Fehlentwicklungen.
Danke für Deinen Kommentar und herzliche Grüße
Gerhard
Heute erreichte mich ein Kommentar von Peter Ripota, in dem ich allerdings ein „böses Wort“ gelöscht habe:
AntwortenLöschenDass Naveira in die gleiche Kategorie gehört wie Pablo Veron, ist doch klar: Beide traten im gleichen Film auf, beide halten sich für die Könige des Tango, beide sind arrogante (…). Dass es auch anders geht, hier als Beispiel für das Gute in der Welt: Ich durfte einmal einen Kurs beim Ehepaar Gloria & Eduardo Arquimbau mitmachen (im ehemaligen "Corazon"). Zur Erinnerung: Die beiden lernten sich im Sandkasten kennen und bauten später eine gemeinsame Tango-Karriere auf, wo sie - typische Argentinier, klein und dick - hauptsächlich wirklich fetzige Milongas tanzten und unterrichteten. Bei dem besagten Seminar über Milongas sprach meist der Meister. Einmal hatte sie was zu sagen, doch die Kursteilnehmer hörten nicht richtig zu. Da schrie er die Kursteilnehmer an, sie sollten gefälligst ruhig sein, wenn seine Frau was zu sagen hat. Und da war Ruhe, und was sie sagte, war wirklich wichtig. So kann man(n) mit der eigenen Gattin in der Öffentlichkeit auch umgehen!
http://peter-ripota.de/tango/
-Peter-