Offener Brief an ein Vereinsmitglied

 

In meinem Artikel „Von der stets gleichen Vielfalt“ habe ich die „Machtverhältnisse“ in einem Tangoverein durchbuchstabiert, wo einige wenige (auch) modern auflegende DJs einer Fülle von Leuten gegenüberstehen, die unverdrossen ihr allseits bekanntes konservatives Programm abnudeln. Ich durfte mich erst kürzlich an einem Beispiel davon überzeugen.

Mein treuer Leser Rainer Lehmann hat mir darauf geschildert, dass es dort durchaus auch andere Ansätze gebe. Sein Resümee:

„Auf jeden Fall sind wir in Bewegung, und Veränderungen brauchen Zeit. Es ist immer schwierig, alle mitzunehmen und zu überzeugen.“

Später setzte er hinzu:

„Die Veränderungen finden statt. Mir persönlich auch zu langsam. Aber ich bin auch mit kleinen Veränderungen zufrieden. Für größere braucht es in so einem Verein halt auch immer Mehrheiten.“

https://www.facebook.com/profile.php?id=100014360957851 (Post vom 5.10.24)

Ich habe mich entschlossen, darauf mit einem Offenen Brief zu antworten:

***

Lieber Rainer,

ich kann deine Einstellung sehr gut verstehen. Vor zwanzig und mehr Jahren hätte ich sie noch geteilt.

Auf deinen speziellen Verein möchte ich nicht genauer eingehen, da meine Informationen fast nur auf dessen Website beruhen. Daher will ich lieber von meiner eigenen Tangoentwicklung sprechen:

Mein Glück war es vielleicht, dass es Anfang der 2000er Jahre in meinem Umfeld (mit einer Ausnahme) keine Tangovereine gab. Fast alles, was in der Szene passierte, war das Ergebnis von Initiativen Einzelner.

Und auch der Name „Tango libre“ deutet ja darauf hin, dass es einst wohl um anderes ging.

Um das Jahr 2005 bemerkten wir, dass sich im Tango bei uns der Wind drehte: Die ersten Wallfahrer kamen aus Buenos Aires zurück und berichteten von der „authentischen, traditionellen“ Machart unseres Tanzes – nebst der passenden Musik. Da mir dieser neue Trend nicht behagte, schrieb ich meinen ersten Tangotext, der die verschiedenen „Tango-Typen“ aktuellen Stils satirisch beleuchtete. Ich sandte das Manuskript an die Zeitschrift „Tangodanza“ und bot es zum Abdruck an.

Tatsächlich hat das Bielefelder Blatt darauf mit donnerndem Schweigen reagiert. Jahre später wurde diese Passage Bestandteil meines Tangobuches – und ich weiß nicht mehr, wie oft ich auf diesen Abschnitt – freundlich oder feindlich – angesprochen wurde. Bis heute ist das so.

Im Rückblick finde ich es schon amüsant, dass die „Tangodanza“ sich damals diesen Text entgehen ließ. Möglicherweise hätte man damit eine deutliche Auflagen-Steigerung hinbekommen.

Als ich 2009 den „Milonga-Führer“ schrieb, war mir klar, dass ich das Buch in einem Bezahlverlag selber veröffentlichen würde. Ich hatte keine Lust, es bei den üblichen Verlagen wie saures Bier anzubieten.

Wider Erwarten wurde der „Milonga-Führer“ ein ziemlicher Erfolg und erreichte drei Auflagen. Mein Vorteil war, dass ich niemanden fragte, ob ich ein solches Buch herausbringen solle. Mehrheitlich hätte man mir wohl davon abgeraten.

Die wichtigen Entscheidungen meines Lebens habe ich nie von der Einstellung anderer abhängig gemacht. Klar, manchmal lag ich schwer daneben, aber erstaunlich oft klappte etwas, von dem mir die Mehrzahl abgeraten hätte. Das trifft auch auf mein Blog zu.

Warum ich dir das alles schreibe?

Ich glaube, das Wort Kurt Tucholskys „Gegen einen Ozean pfeift man nicht an“ gilt auch für die heutige Tangoszene. Die Mehrheitsverhältnisse sind klar geregelt. Soll ich jahrelang in einem Tangoverein Überzeugungsarbeit leisten, damit ich dann gnädigst und ausnahmsweise gegen Mitternacht mal „Libertango“ oder „Verano Porteño“ auflegen darf?

Ich fürchte, eher würde erst an meinem Grab eine Vereinsdelegation einen Kranz zu den Klängen von „Oblivion“ niederlegen. Und selbst diese Voraussage halte ich für optimistisch.

Mir war stets die Aussage von Groucho Marx sympathisch:

„Ich würde nie in einen Verein eintreten, der bereit wäre, mich als Mitglied aufzunehmen.“

Klar, ich habe in meinen aktiveren Jahren ebenfalls versucht, in öffentlichen Veranstaltungen für mein Musikprogramm zu werben und Stücke von Villoldo bis Gotan anzubieten. Und wir waren nach unseren bescheidenen Kriterien sogar halbwegs erfolgreich. Aber es war zunehmend ein Kampf gegen den Mainstream-Trend. Und wir mussten es ertragen, dass Tangolehrer ihren Schülern von unseren Milongas abrieten und Konkurrenztermine zu unseren Events festlegten. Dass wir im Netz herablassend als „Provinztango“ klassifiziert wurden. So what?

Ich meine daher, man sollte seine Kräfte nicht damit vergeuden, einer Mehrheit, die „Ganz in Weiß“ möchte, mit „La vie enrose“ zu kommen – Roy Black contra Edith Piaf. Das wird nicht funktionieren.

Du schreibst, Veränderungen brauchten Zeit. Ich habe vor vielen Jahren erlebt, wie schnell in Tangovereinen der Rücksturz in die 1940er Jahre organisiert wurde, wie kurzerhand unliebsame Vorstandsmitglieder und DJs rausgeekelt wurden. Oder neu gegründete Gruppen gleich mit konservativen Zielsetzungen auftauchten – und seit langer Zeit dabei bleiben. Auf bessere Zeiten dagegen kann man lange warten.

Ich glaube, man fährt besser damit, selber initiativ zu werden statt auf die Erleuchtung der Mehrheit zu warten – in welcher Form auch immer. Wir haben in Pörnbach viel Spaß damit, uns im kleinen Kreis zu treffen und zu der Musik zu tanzen, die man sonst nirgends auflegt. Gestern haben wir es unter anderem mit Piazzollas „Ave Maria“ und „Tristezas de un Doble A“ versucht:

https://www.youtube.com/watch?v=JB9YOvIDUxA

Verrückt, gell? Aber uns war es ein Bedürfnis, unsere milonga-geplagten Ohren einmal mit solcher Musik durchzuspülen. Und unseren Beinen auch wieder Abwechslung zu bescheren.

Lieber Rainer,

keinesfalls will ich deine sicherlich ehrenwerten Anstrengungen herabwürdigen. Aber es ist ja manchmal nicht ganz verkehrt, sich die Sinnfrage zu stellen – wie immer dann die Antwort ausfällt.

Und sollte es dich mal in unsere Gegend verschlagen, bist du auf dem Pörnbacher Wohnzimmer-Parkett herzlich willkommen. Wir organisieren dann einen spontanen Tanztreff.

Viel Erfolg und herzliche Tangogrüße

Gerhard

P.S. Wem der Begriff „Doble A“ nichts sagen sollte: Er bezeichnet die in der Manufaktur von Alfred Arnold im erzgebirgischen Carlsfeld hergestellten Bandoneons, die mit ihrem einzigartigen Klangbild als die „Stradivaris“ dieser Gattung gelten. Alle großen Bandoneon-Spieler benutzten und benutzen diese „Doble A’s“. Der Betrieb wurde in der DDR 1948 enteignet, die Konstruktionsunterlagen verschwanden. Die Nachbauten des „VEB Klingenthaler Harmonikawerke“ erreichten diese Qualität nicht mehr. 1964 wurde die Produktion eingestellt Auch in dieser Geschichte schwingt ein Hauch von Traurigkeit

https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Arnold_(Unternehmen)

Kommentare

  1. Hallo Gerhard, vielen Dank für den Brief. Nun bin ich erst 6,5 Jahre beim Tango und weiss so langsam um die Entwicklung des Vereins seit 1997. Damals noch Tango Argentino Club Konstanz.
    Aus Erzählungen von Daniel Ferro, Rolf Schneider und Günther Maldoff weiß ich um die Dissonanzen. Auch wenn mir persönlich die Szene zu "traditionell" ist haben wir hier schon einige Möglichkeiten abwechslungsreich zu tanzen. Und auf einige konservative Milongas gehe ich auch gerne.
    Rolf Schneider und Daniel Ferro haben immer noch eigene Milongas. Rolf ist im Kellertheater Winterthur noch aktiv und sucht abwechslungsreich die DJs aus. Im Moment habe ich noch Spaß an der Mitwirkung im Verein. Ich habe mir da aber auch meine Grenze gesetzt. Ich bin gespannt wo die Reise hingeht. Die Especial zeigt uns, dass wir entgegen manch negativen Stimmen eine richtige Entscheidung getroffen haben. Immerhin kommen 90 bis 130 Gäste zum tanzen.
    Und vielen Dank für die Einladung. Ich habe vor Corona tatsächlich überlegt anzuklopfen. Waren wir doch damals bei Egon Wenderoth ein paar Tage zu Gast. Hat aber terminlich leider nicht gepasst. Vielleicht kommen wir auf das Angebot nächstes Frühjahr zurück. Herzliche Grüße vom Bodensee Rainer Lehmann

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    1. Lieber Rainer,
      natürlich kannst du vor Ort die Verhältnisse besser beurteilen. In meinem Artikel habe ich ein paar allgemeine Gedanken geäußert, die mich bei diesem Thema beschäftigen.
      Vor Jahren waren wir im Urlaub öfters am Bodensee und haben auch Milongas besucht. Nach unserem Eindruck ging es meist ziemlich konservativ zu. Als tolles Gegenbeispiel haben wir das "Lagerhäusle" kennengelernt, das es noch heute an anderem Ort gibt. Warst du da mal zu Gast?
      Ich wünsche dir jedenfalls, dass die erhofften Veränderungen klappen. Vielleicht sehen wir uns ja mal in Pörnbach. Würde mich sehr freuen!
      Herzliche Grüße
      Gerhard

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    2. Ja beim Lagerhüsli waren wir öfter. Schade dass es sie nicht mehr gibt. Die Ersatzmililonga wird aber nicht mehr von Barbara bespielt. Auf der Seeseite geht es schon eher konservativ zu. Da müsste ich schon nach Ulm oder Ravensburg fahren.

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  2. Hallo Gerhard,
    Ich meinte natürlich das Lagerhäusle. Die Ersatzveranstaltung, die nur im Winter stattfindet ist jetzt auch eher konservativ geprägt. Barbara und ihr Mann legen da nicht mehr auf. Für mich ist es dann einfacher nach Winterthur oder Zürich zu fahren als nach Ulm oder Ravensburg. Alles andere ist zu weit weg. Ja wir schauen mal nächstes Jahr. Wir wollten in Polen noch auf Ahnenforschung gehen und ein paar Örtlichkeiten besuchen. Das wäre eine Gelegenheit bei euch einen Stopp einzuplanen. Viele Grüße Rainer Lehmann

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    1. Lieber Rainer,
      würde mich sehr freuen, wenn es mal klappt!
      Von Barbara habe ich vor einiger Zeit noch Einladungen erhalten. Dass sie die Milonga abgegeben hat, wusste ich nicht.
      Schade, eine weitere tolle Veranstaltung, die den konservativen Weg geht. Ich sag ja: Mainstream...
      Beste Grüße
      Gerhard

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  3. ...Vielleicht bin ich da aber auch nicht auf dem aktuellen Stand. Ist das die Milonga in der Camphill Schule Föhrenbühl? Unterhalb Schloss Heiligenberg?

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  4. Ok dann ist das so wie beschrieben. Viele Grüße

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