Tango-Götterdämmerung?

 

„Nordische Mythologie: der Untergang der Götter im Weltenbrand, aus dem eine schönere Welt hervorgeht“

https://de.wiktionary.org/wiki/G%C3%B6tterd%C3%A4mmerung

Im Tango erlebte ich schon früh, dass Lehrkräfte oft geradezu vergöttert wurden, obwohl sie Verhaltensweisen zeigten, die ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte.

Ich erinnere mich beispielsweise an ein regionales Instruktoren-Paar, das sich auf den (meist eigenen) Milongas mit einer unglaublichen Aura umgab. Wir haben es nie gewagt, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, da dies wohl nur einigen Tango-VIPs gestattet war. Selbstredend tanzte der Maestro ausschließlich mit seiner Hulda und nicht mit irgendwelchen dahergelaufenen Frauenzimmern. Als es ein nicht prominenter Tänzer einmal wagte, die Frau Lehrerin per Aufforderung abzudestillieren, rief ihm der Meister nach: „Aber ned kaputtmachen, gell?“

Gerade argentinische Kurs- und Vortanzpaare vermieden auf den Veranstaltungen jeden Kontakt mit den Eingeborenen, an denen sie mit leerem Blick vorbeimarschierten. Und nach der (selbstverständlich bejubelten) Show zogen sie sich an einen Tisch in der Ecke zurück und parlierten allenfalls mit den Veranstaltern. Das Parkett mieden sie dann konsequent.

Ein befreundetes Tangopaar erzählte uns einmal von einem Workshop, wo beim Eintanzen der argentinische Maestro sie gefragt habe: „Soll das etwa Tango sein?“

Mit der Zeit lernten wir, dass es zum Markenzeichen von Tango-Lehrkräften gehörte, mit glasigem „Alien-Blick“ durch den Tanzsaal zu schweben und keinerlei Notiz vom „gemeinen Volk“ zu nehmen. Bestenfalls tanzte man mit anderen Honorablen wie Veranstaltern oder DJs. Meine Bereitschaft, solch abgehobenes Volk auch noch mit Kursgebühren zu alimentieren, schwand sehr bald – insbesondere auch, da ich durch Abschauen und Ausprobieren selber durchaus Lernfortschritte hinbekam.

Als Buchautor und Blogger erreichten mich aus dieser Experten-Kaste immer wieder heftige Abqualifizierungen: Ich hätte keine Ahnung vom Tango und könne natürlich auch nicht tanzen. Und kritische Anmerkungen zu hochgelobten Stars grenzten an Majestätsbeleidigung. Zu freundlichen Beziehungen führte das eher nicht.

Das Lieblingsargument eines altgedienten Tangolehrers zur eigenen Existenzberechtigung lautete immer wieder, gute Tanzende fielen schließlich „nicht vom Himmel“. Das führt mich zu der Frage, ob man diesen Beruf ergreift, weil man arrogant ist – oder es dabei erst wird. Wobei man natürlich nicht vom Himmel fällt, sondern dort residiert.

Ich glaube, die Kundschaft hat einen hohen Anteil an dieser Entwicklung: Bekannte Tanzpaare und Lehrer werden in der Szene geradezu als Gottheiten verehrt. Gerade bei größeren Veranstaltungen macht man ein Gewese um sie, das in die Nähe von Vatikan-Inszenierungen reicht. Obwohl ich mich von solchen Heiligen Messen möglichst fernhielt, kriegte ich öfters mit, wie Showtanzpaare für eine halbwegs ordentliche Vorführung bejubelt und geherzt wurden, als hätten sie gerade den Tango erfunden.

Ich war Zeuge, als ein Veranstalter den engagierten Profi-Showtänzer als „Tango-Gott“ vorstellte. In der Szene gibt es anscheinend eine nach oben offene Dämlichkeits-Skala für blind Glaubende.

Auf einer Milonga fragte mich einst ein Tango-Kollege: „Welche Schule vertreten Sie?“ Tatsächlich definieren sich zahlreiche Tänzerinnen und Tänzer nicht dadurch, was sie können, sondern, bei welchen Meistern sie lernten. Offenbar muss das reichen. Und auch auf den Webseiten von Schritte-Anbietern findet man oft lange Listen mehr oder weniger berühmter Stars, die man für die eigene Ausbildung verantwortlich macht – auch, wenn man damals in Buenos Aires nur ein paar Privatstunden bei ihnen buchte.

Mir dagegen ist es piepegal, bei welchen Gurus jemand in tänzerischer Untermiete logierte, ob er seine Fähigkeiten intensiver Praxis auf dem Parkett verdankt oder schlicht ein Naturtalent ist. Das Ergebnis zählt. Punkt.

Es scheint so, als könne jemand, der vor knapp 30 Jahren mal in einem tollen Tangofilm mitgewirkt hat, im restlichen Leben kaum mehr etwas falsch machen. Alles, was er sagt und tut, wird als der Weisheit letzter Schluss unter Schwenken des Weihrauchkessels bejubelt und verehrt.

Zur Causa Naveira schrieb eine Tänzerin, diese Probleme breiteten sich von oben nach unten aus. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht umgekehrt ist: Verehrung kann auch Gottheiten schaffen.

Ist es dann ein Wunder, wenn dieses Personal schließlich selber an die eigene Unfehlbarkeit glaubt und irgendwann überschnappt? Klar,  Abstürze wie neulich in Los Angeles führen zu punktueller Desillusionierung. Das System ändert sich dadurch nicht.

In der Politik sehe ich schon längst Parallelen: Das Volk will Stars, die es anbeten kann – und keine nüchternen Pragmatiker, die schlicht ihre Arbeit machen. Das wirkt extrem unsexy. Nur so ist es zu erklären, dass eine ehemalige Kommunistin, die noch keine Sekunde praktisches Regierungshandeln vorweisen kann, dafür aber über eine tolle Ausstrahlung und Rhetorik verfügt, aus dem Stand zweistellige Ergebnisse erzielt, obwohl sich nicht mal direkt zur Wahl stand. Glücklicherweise sieht Frau Weidel nicht halb so gut aus – es könnte einem sonst angst und bange werden.

Lange schon plädiere ich für einen Tango auf Augenhöhe: Auch ein Weltstar muss es ertragen, dass ihm ein Anfänger kritische Fragen stellt. Der kann nämlich durchaus beurteilen, ob ihm der Unterricht etwas bringt oder nicht. Mehr noch: Die Kunden verdienen eine respektvolle Antwort. Und auch eine Tanzgottheit darf sich keine Übergriffigkeiten welcher Art auch immer leisten – und sollte im Fall des Falles eins auf die Finger kriegen. Stattdessen dürfte ein Lehrender gerne mal mit Schülerinnen und Schülern tanzen, anstatt gescheit daherredend vorzumachen, dass er es kann.   

Aber ich fürchte, daraus wird nichts. Das Volk möchte nicht unter Gleichen lernen, sondern erschauernd die Gesetzestafeln frisch vom Berg Sinai entziffern.

Ich will jedoch nicht verallgemeinern: Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich gerne, dass es im Tango auch Lehrende gibt, die sich auf eine Stufe mit den Lernenden stellen, einen Kurs als gemeinsames Projekt verstehen.

Die Götter müssen ja nicht im Weltenbrand untergehen, sondern sollten lediglich ihren Thron verlassen!

Auf ihrer Facebook-Seite hat die von mir viel kritisierte Melina Sedó einen Text verfasst, den ich durchaus lobenswert finde:

„Nach einer kurzen Überlegung heute Morgen habe ich die Liste der Tangolehrer aus unserer Biographie gestrichen. Im Nachhinein betrachtet waren zu viele der männlichen Lehrer die besten Beispiele dafür, wie man NICHT tanzen, unterrichten oder sich generell verhalten sollte. Ihre Partnerinnen kamen oft gar nicht zum Zug. Ich habe daher den Abschnitt, der bereits unsere wichtigste Aussage enthielt, erweitert:

‚Wir haben bei vielen argentinischen Milongueros, den Ikonen des Tango Nuevo, aber auch bei europäischen Tangolehrern gelernt. Wir könnten sie natürlich aufzählen wie viele unserer Kollegen auch. Aber die Wahrheit ist: In unseren prägenden Jahren wurde im Unterricht selten Wissen über Musikalität, Kommunikation und Improvisation vermittelt. Sehr oft haben wir eher gelernt, wie wir nicht tanzen oder unterrichten wollen. Sowohl unser Tango als auch unsere Pädagogik haben sich in erster Linie durch Forschung, Versuch und Irrtum, die Erfahrung auf dem gesellschaftlichen Tanzparkett und den Unterrichtsprozess selbst entwickelt. Deshalb sind wir unseren Schülern dankbar, die uns mit ihren Fragen und Ideen inspiriert haben. Ihr wart unsere wichtigsten Lehrer, und wir werden weiterhin von euch lernen!“

https://www.facebook.com/melina.sedo/posts/pfbid02ocAuLMDuGaV7LjrTDMKoMukkEGmMR1ooZeZ17HJryMRh5MwAMo5MFjDNWMCMvMHxl

Na, dämmert’s?

Illustration: www.tangofish.de

 

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