Beinahe-Cabeceos

 

Beim Tango unterscheidet man grob zwischen offiziellen und realistischen Sichtweisen. Ein schönes Beispiel zu einem Szene-Dauerthema fand ich neulich in einem Kommentar der DJane Dana zu Thomas Kröters neuem Tango-Artikel:

„Noch zum Cabeceo: Ich habe mich lange dagegen gewehrt, fand es affig und altmodisch. Doch inzwischen schätze ich diese Art der Aufforderung mehr als alle anderen. Leider ist es nämlich oft nicht so, wie du es beschreibst mit ‚Magst du tanzen‘? Stattdessen steht – oft genug erlebt – plötzlich ein Herr ganz nah vor dir und streckt wortlos seine Hand aus. Und ist dann beleidigt und/oder pikiert, wenn die Dame darauf nicht eingehen möchte. Eine entwürdigende Situation für beide! Ein Cabeceo kann ganz locker über die Bühne gehen und sogar Spaß machen.“

http://kroesflanaden.de/aktuelles/neue-musik-und-alte-taenzer-in-den-milongas-von-heute-und-morgen-ueberlegungen-aus-anlass-von-zwei-ausgaben-der-tangodanza/?unapproved=76&moderation-hash=0b45a5817b3efa7dd140484f68c32fc4#comment-76

Nun ging es streng genommen im Artikel gar nicht über dieses Thema, sondern um den Altersdurchschnitt und den Einfluss der Musik. Aber offenbar gilt vielen der Cabeceo als Allheilmittel. Er dürfte gefühlt also auch bei musikalischer Gehörlosigkeit, Gefühlsarmut und Kindbettfieber helfen. Sozusagen als „Placebo-Cabeceo“.

In der Realität erlebe ich es dagegen sehr oft anders: In der Zwickmühle, dass direktes Auffordern nicht gerne gesehen wird, der Cabeceo jedoch vielfach nicht gut klappt, erfindet man Ersatzhandlungen.

Beispielsweise fixiert ein Tänzer sein weibliches Opfer schon von Weitem mit starrem Blick und tappt dann wie ein Untoter aus einem Kettensägen-Movie auf sie zu, bis die Dame es kapiert oder jedenfalls nicht mehr so tun kann, als hätte sie es nicht bemerkt. Ich habe das als „Hypnoceo“ bezeichnet.

Geschickter, da unauffälliger, finde ich dieses von mir schon einmal beschriebene Verhalten:

„In einer Ecke des Tanzsaals steht ein Tisch mit einem Büfett – es gibt Getränke und kleine Knabbereien. Dessen Umgebung ist recht bevölkert, während die Stühle auf der gegenüberliegenden Seite fast leer bleiben.

Auffallend ist nun, dass sich die Damen nach fast jeder Tanzrunde zur Essensseite begeben, um sich eine kleine Portion in den Mund zu schieben oder einen Schluck zu trinken. Die Herren folgen ihnen in gewissem Abstand, nehmen jedoch kaum Nahrung oder Flüssigkeit auf. Die Tangueras sind zu Beginn der neuen Tanda fertig mit Runterschlucken und drehen sich zum Parkett hin um, wodurch meist der nächste Tänzer schon vor ihnen steht und sie auf die Fläche geleitet.“

Ich nenne dieses an das Balzfüttern bei Vögeln angelehnte Verhalten den „Büfettceo“.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/03/liebes-tagebuch-55.html

Varianten finden sich auf vielen Milongas. Merkmal ist, dass häufig Sitzplätze frei bleiben, während man sich an „Verkehrs-Knotenpunkten“ wie Eingang oder Bar herumdrängt. Ziel ist natürlich, zu Beginn der neuen Tanda wie zufällig neben dem Wunschpartner zu stehen und ihn so unauffällig auffordern zu können. So viel zum vielseitig anwendbaren „Rumstehceo“!

Deutlich lästiger finde ich die momentan grassierende Variante, den „Arschoceo“: Während der Tänzer wenig attraktive Damen nicht mal mit der Kehrseite anschaut, schiebt er den hübscheren Ausgaben sein Hinterteil so lange zu, bis es auf einem Platz neben der Wunschkandidatin landet. Mit der fängt er dann, auch wenn er sie gar nicht kennt, einen launigen Plausch an, bis eine Musik einsetzt, die ihn nicht überfordert. Dann kann er gesprächsweise seinen Tanzwunsch äußern, den die Frau natürlich, da man einander ja schon fünf Minuten kennt, kaum ablehnen wird.

Bei dem Verfahren habe ich schon drollige Abläufe erlebt, beispielsweise, weil neben der begehrten Tänzerin kein Platz mehr frei ist – manchmal, weil ich neben der sitze. Blöderweise landet der Aspirant dann auf meiner anderen Seite und muss irgendeine Floskel an mich richten, guckt dabei aber ständig Richtung Frau. Wie sind wir alle froh, wenn es ihm endlich gelingt, diese auf sich aufmerksam zu machen und seinen Tanzwunsch anzubringen!

Das alles ist durchaus lustig, zeigt aber bei ernsterer Betrachtung die ganzen Nöte, welche eine oft schwer praktikable Aufforderungsweise verursacht und die Tanzenden in skurrile Situationen bringt. Doch wir wären nicht beim Tango, wenn wir einfachen, undogmatischen Lösungen den Vorzug gäben!

Warum eine Glocke läuten, indem man am Strick zieht? Schließlich kann man ja auch am Turm wackeln!

Die eingangs zitierte DJane hat ja zu Protokoll gegeben, dass sie den Cabeceo anfangs „affig und altmodisch“ fand. Oft ist halt der erste Eindruck der richtige.

Dennoch muss in vollem Ernst gesagt werden, was früher so ähnlich auf jedem Geldschein stand:

Wer Cabeceos nachmacht oder verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft und in Verkehr bringt, wird mit einer Satire von nicht unter 500 Wörtern bestraft!

https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/08/codice-de-tango-de-gerardo.html

Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/08/tango-regelkunde-fur-anfanger.html

P.S. Und wer sich noch der Hoffnung hingeben sollte, junge Menschen auf traditionelle Milongas zu kriegen:

https://www.youtube.com/watch?v=FifhEfzFL70

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.