Männer, Frauen und Naveira
Gestern habe ich in einem Artikel den Aussetzer des bekannten Tänzers Gustavo Naveira besprochen, der im Netz eine wahre Kommentar-Flut ausgelöst hat.
Was mich interessierte: Wie sehen Männer und Frauen diese Sache? Ich habe mir einmal Naveiras Facebook-Seite angesehen, wo er sich wortreich für seine Verfehlung entschuldigt. Derzeit gibt es dort zirka 700 Kommentare.
Mein Eindruck: Viele Männer bemühen sich, das Ganze herunterzuspielen. Eine kleine Auswahl:
„Ich bin überzeugt, dass Giselle, eine große Lehrerin und Begleiterin in Ihrem Leben, gestärkt zu Ihnen zurückkehren wird. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der Kriege zwischen den Völkern herrschen und Gewalt als tägliches Brot gilt. Wie schön, einen Beitrag wie diesen zu sehen. Das ist die beste Antwort auf diejenigen, die Ihre Steinigung wollten, ohne Sie überhaupt kennengelernt oder sich über Sie erkundigt zu haben.“
„Wenn es viel Kreativität und Genialität gibt, kann die Energie außer Kontrolle geraten... wie eine Bombe!“
„Ein Fehler, ein Moment der Schwäche, und plötzlich sind alle bereit, alles zu vergessen, was man im Laufe seines Lebens aufgebaut hat, alles Gute, das man in die Welt des Tangos gebracht hat. Ich glaube, dass das, was passiert ist, eine Lektion für uns alle war, mehr Empathie gegenüber unseren Partnern zu zeigen. Ich hoffe, dass du Frieden findest, dich versöhnst und so bald wie möglich auf die Bühne zurückkehrst.“
„Sie waren und sind immer noch ein Gentleman. Einmal mehr haben Sie Ihre Größe als Mensch gezeigt, ganz zu schweigen von Ihrer künstlerischen Leistung, und als Menschen verstehen wir, dass solche Situationen passieren. Wir haben das Recht, Fehler zu machen, um zu wachsen. Und wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Umarmung für Sie beide.“
„Es kann vorkommen, dass man aufgrund von Müdigkeit die Kontrolle über seine Nerven verliert, alles in allem ist nichts Unverzeihliches passiert“
„Wir alle haben im Leben aus vielen Gründen Fehler gemacht, aber wenn wir in der Lage sind, sie zu erkennen, zuzugeben und uns so öffentlich zu entschuldigen, wie Sie es getan haben, bedeutet das, dass wir Menschen sind, die mit Gefühl und Mut ausgestattet sind. Es tut mir leid und ich hoffe sehr, dass ich einen weiteren Kurs mit Ihnen und Frau Giselle machen kann.“
Und die Frauen? Der Anteil derer, welche die Geschichte verharmlosen, ist deutlich geringer. Viele Zuschriften sind aber sehr empathisch: Man bedauert den Vorfall und äußert sein Mitgefühl vor allem gegenüber Giselle Anne:
„Es tut mir sehr leid, was passiert ist, aber ich weiß deinen Beitrag zu schätzen. Eine Umarmung für euch beide, die ihr eine schwierige Zeit durchmacht“
„Ich werde für immer dankbar sein für das Privileg, Sie und Giselle Anne tanzen und unterrichten zu sehen. Kein einziger Vorfall (wie schmerzhaft er auch sein mag) kann die Magie auslöschen, deren Zeuge ich geworden bin: die Chemie, die Freude am Teilen, die liebevolle Komplizenschaft und der liebevolle Humor. Ich hoffe, dass Sie beide den Weg zurück zu diesem magischen Ort finden werden.“
Es gibt aber deutlich mehr Frauen als Männer, die mit Naveira teilweise ziemlich heftig ins Gericht gehen:
„Ich glaube nicht an Ihr Bedauern. Es gibt einen Kollateralschaden, der nie wieder gutgemacht werden kann. Es waren nicht die Nerven. Es handelt sich um Akte geschlechtsspezifischer Gewalt, und die sollte es nicht nur NICHT mehr geben, sondern man muss sich professionelle Hilfe suchen, und das erfordert Demut.“
„Giselle braucht Sie nicht für ihre Karriere.“
„Gewalttaten und die Misshandlung eines anderen Menschen verschwinden nicht einfach, indem man sich entschuldigt. Worte, Worte, Worte... Es ist offensichtlich, dass man um Vergebung bitten musste, aber das allein ändert nichts. Eine Psychotherapie könnte helfen, wenn man den Mut hat, sich seinen eigenen Lastern, Schwächen und Traumata zu stehen.“
„Eine Entschuldigung war notwendig, aber sie ist nicht genug... Du kannst ein Genie sein, aber das bedeutet nicht, dass du jemanden quälen kannst. Du bist ein Lehrer, du hast die Verantwortung, die Werte des Tangos zu vermitteln, und was hast du gezeigt? (…) Gott segne Giselle, ich hoffe, sie weiß wenigstens, was sie mit dem ganzen Schlamassel anfangen soll, den du angerichtet hast.“
„Hallo Gustavo: Ich habe das Video von einem Schüler bekommen. Die Wirkung, die es auf mich hatte, erinnerte mich an die vielen Male, die ich solche Dinge im Tango erlebt habe, besonders als ich Anfang zwanzig war und sie nicht erkennen konnte. (…) Liebe kann nie, aber auch nie aggressiv sein. Das, was passiert ist, führt mich also zu der Überlegung, dass das, was geändert werden muss, die Beziehung zu sich selbst ist. Wenn wir nicht an unseren Emotionen arbeiten können, müssen wir uns Hilfe holen. Entschuldigungen sind lobenswert, aber sie können auch Teil der Dynamik von Gewalt sein. Ich meine das nicht persönlich, sondern als ein Phänomen.“
Ich glaube, man macht es sich zu einfach, Gustavo Naveira abzuurteilen. Sein Verhalten ist lediglich ein Symptom für Dinge, die im nicht nur im Tango gerne ignoriert oder verharmlost werden. Der oft latente Machismo wird gerade von Männern nicht wahrgenommen respektive verdrängt. Die obigen Kommentare drücken es deutlich aus.
Daher wollte ich mit diesem Artikel einmal das Licht nicht auf die Bühne, sondern zum Publikum drehen. Weil meiner Ansicht nach dort das Problem liegt – und nicht bei irgendwelchen abgehobenen Profis.
Gerade wir Männer müssen sensibler auf „alltägliche“ Benachteiligungen von Frauen reagieren. Und Übergriffe nicht als bedauerliche „Einzelfälle“ abtun, sondern sie als Ergebnis von unheilvollen Entwicklungen verstehen. Und Frauen müssen klar kommunizieren, wo sie Grenzen ziehen. Eine Kommentatorin hat das nicht nur Gustavo deutlich ins Stammbuch geschrieben:
„Das Verhalten war zweifelsohne entsetzlich.
Die Entschuldigungen, die hoffentlich aufrichtig sind, sind gut geschrieben. Aber was soll dabei herauskommen?
Wir alle haben Erfahrungen mit Maestros und Tänzern im Tango gemacht, die mehr oder weniger ähnlich sind wie diese. Woher kommt das?
Ich glaube, dass es sich größtenteils von oben nach unten ausbreitet. Ich kann Maestros in Buenos Aires nennen, die in ihren Klassen ein toxisches Umfeld schaffen. Und trotzdem sind sie sehr beliebt. Ich kenne Tänzerinnen und Tänzer, die dafür bekannt sind, dass sie ihre Partnerinnen und Partner misshandeln, und dennoch werden sie von den Organisatoren als Freunde begrüßt. Es gibt einige Milongas, in denen Giftigkeit als Tangotradition akzeptiert wird.
Es könnte für die Gemeinschaft weltweit sehr vorteilhaft sein, wenn der Dialog beginnt und Maestros und Organisatoren anfangen, auf ihr Verhalten und die Botschaften, die sie senden, zu achten. Sie, der Sie so viel Ruhm und Bewunderung genießen, können die Gemeinschaft beeinflussen. Versuchen Sie, freundlich zu sein, und Ihre Schüler werden auch freundlicher sein. Maestros sollten die Kultur lehren, nicht nur Figuren.
Ich hoffe, dass Sie und Ihre Angehörigen sich von dem Stress dieser Situation erholen und dazu beitragen werden, eine bessere Kultur für uns alle aufzubauen.“
Tja, recht hat sie. Ich fürchte nur, man wird sich in der Szene nicht zu solch umfassenden Änderungen bequemen, sondern die Probleme unter den Teppich kehren. Ungeachtet dessen, was dort schon alles liegt...
P.S. Zum Abschluss lassen wir Giselle und Gustavo (ein Jahr zuvor auf diesem Festival) noch zu „Oblivion“ tanzen. Wenn es eines Beweises bedurft hätte: Piazzolla trifft keine Schuld!
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