Von Tango- und Paartanzkultur

 

Vor einigen Tagen las ich zu Thomas Kröters neuem Artikel den Kommentar einer Tango-DJane, den ich sehr interessant finde. Die Schreiberin ist seit über 20 Jahren, auch als Veranstalterin und Lehrerin, in der Szene aktiv.

Sie sei sich aber immer bewusst, sich „in einem anderen Kulturkreis“ zu bewegen. Das erfordere ein hohes Maß an Respekt. „Und da überzeugen mich Aussagen wie ‚Ich möchte zu allem tanzen‘ einfach nicht. Ich hab ehrlich gesagt noch nie verstanden, wie man einen Tanz einfach aus seiner Entstehungsgeschichte, seinen besonderen ‚Vibes‘ rauslösen und ihn woanders reinpflanzen könnte.“

Mir fällt immer wieder auf, dass man in der Szene gerne mit Augenaufschlag von der hehren „Tangokultur“ schwärmt. Allerdings ist mir unklar, wie man sich als Mitteleuropäer wirklich in die „Gefühle“ von Menschen in einer weit zurückliegenden Epoche am anderen Ende der Welt hineinversetzen kann, wenn man nicht mal deren Sprache spricht. Oder gehören die Texte nicht zum Tango?

Zum normalen Weg fast aller Tänze gehört, dass sie Wurzeln haben, aus denen sich Weiterentwicklungen ergaben – und wenn sie erfolgreich sind, sehen die an verschiedenen Orten des Globus und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aus. Bekanntlich ist Tango ein „Weltkulturerbe“.

Ich fürchte, es ist genau umgekehrt: Wenn man einer Musik, einem Tanz diese Fortentwicklung verwehrt, ist die Gefahr groß, im historischen Ghetto zu landen.

Und was die „Wurzeln“ betrifft: Wer denkt heute bei einem Ball oder Brautwalzer an das Wien der Metternich-Ära und des Wiener Kongresses, an Johann Strauss? Oder welchen Tanzschülern ist bei der Rumba deren Abstammung aus der kubanischen Habanera bewusst (die übrigens auch eine Wurzel des Tango bildet)?

Für mich stammt das ewige Beschwören der „Tangokultur“ aus der Werkstatt von „des Kaisers neuen Kleidern“: Irgendwas ganz Tolles, das aber noch keiner gesehen hat.

Und betreiben wir dann nicht „kulturelle Aneignung“ sehr zum Missfallen der woken Szene?

Ich finde, wir sollten mal den Weihrauchkessel in die Ecke stellen und nüchtern konstatieren: Wir betreiben einen schönen Gesellschaftstanz – nicht mehr und nicht weniger. Der hat natürlich, wie die meisten anderen Tänze, seine Wurzeln, seine Entstehungsgeschichte, die wir respektieren, aber er entwickelt sich hoffentlich weiter. Das bewahrt ihn nämlich vom Aussterben. In den 1970er Jahren wäre das nämlich schon mal fast passiert. Was ihn davor rettete, war der Tango nuevo Piazzollas, später dann die neuen Formen wie der Elektrotango. Umtopfen kann nicht nur Zimmerpflanzen guttun.

Die Schreiberin spricht noch ein weiteres interessantes Thema an:

„Wir sind in den 80ern noch geschlossen als Schulklasse in die Tanzschule gegangen, mit allem was dann so da dranhing, Bälle, Tanzveranstaltungen. Das ist irgendwie verlorengegangen. Und wenn meine Tochter, die Anfang 20 ist, jetzt Tango lernen möchte – was sie gerne tun würde – dann ist die Suche nach einem Tanzpartner in ihrem Alter die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Möchte sie mit einem 60jährigen einen Tangokurs machen? Natürlich nicht.“

Und da kommt sie wieder, die weibliche Ausrede Nummer eins: „Ich habe keinen Tanzpartner“

Unsere Tanzkurse fanden Ende der 1960er Jahre statt, ebenfalls durch Kombination von Schulklassen. Vielleicht ein Viertel von uns belegte dann noch einen Fortgeschrittenen-Lehrgang. Nach zwei, drei Jahren waren vielleicht vier oder fünf noch in der Tanzschule oder auf Bällen aktiv. Die meisten hörten mit dem Tanzen auf, als sie eine Freundin hatten.

Daher meine ich, nur die Wenigsten betreiben den Paartanz als Selbstzweck, immerhin 25000 als Tanzsport. Im Vordergrund aber steht meist die Annäherung ans andere Geschlecht. In früheren Zeiten war der Tanz die einzig gesellschaftlich akzeptierte Form für dieses Tun.

Die Schultanzkurse waren und sind Kennenlern-Börsen. Heute haben aber junge Menschen unzählige Möglichkeiten, erotische Bekanntschaften zu machen. Und das meiste, was sie auf dem Milonga-Parkett sehen, ordnen sie nicht diesem Oberbegriff zu.

Für die Älteren dagegen bietet der heute meist getanzte Tango die Möglichkeit, auch bei Bewegungs-Einschränkungen und Kreislaufproblemen halbwegs übers Parkett zu kommen. „Senioren-Romanzen“ nicht ausgeschlossen, und schleppende Musik inklusive. Kein Wunder also, dass der momentane Tango eine ideale Betätigung für die Ollen ist. Und die werden sie mit gichtigen Fingern verteidigen.

Wenn die Autorin schreibt, sie persönlich „fände es ja wichtig, dass Menschen ÜBERHAUPT mal anfangen zu tanzen. Muss ja nicht immer Tango sein“, kann ich ihr nur zustimmen.

Ich finde es gruselig, wie adipöse Sechzehnjährige vor sich hin latschen. Da bin ich wirklich froh, schon deutlich älter zu sein und mich nicht mehr in solche Wesen verlieben zu müssen. Und nein, auch für mich wäre es kein Vergnügen, mit einer Zwanzigjährigen einen Tangokurs zu machen, da junge Frauen oft noch überhaupt nicht wissen, wer sie sind – oder was sie wollen. Da hoffe ich auf jüngere Tanzpartner für sie!

Ich finde es amüsant, dass die Schreiberin feststellt:

„Wie kann man in einem Land wie Deutschland eine Tanzkultur etablieren, die auch junge Leute wieder zum Tanzen lockt? Ich hab darauf auch keine Antwort.“

Das entspricht nun wirklich den Tango-Traditionen: Bei diesem Tanz wissen wir vor allem, was falsch ist. Und dass wir keinesfalls etwas am Bestehenden ändern dürfen. Die Gefahr, es könnte sich was tun, ist einfach zu groß!

Daher möchte ich wirklich nicht „zu allem tanzen“. Auch wenn DJs es mir immer wieder nahelegen: Hier tanzt man beispielsweise zu dem Tango „Champagne Bubbles“. Wer sagt, dass wir im Tango keinen Humor hätten?

https://www.youtube.com/watch?v=iwRH_Cmwn5c

P.S. Den Kommentar von „Dana“ findet man hier:

http://kroesflanaden.de/aktuelles/neue-musik-und-alte-taenzer-in-den-milongas-von-heute-und-morgen-ueberlegungen-aus-anlass-von-zwei-ausgaben-der-tangodanza/?unapproved=76&moderation-hash=0b45a5817b3efa7dd140484f68c32fc4#comment-76

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