Lass doch der Jugend ihren Lauf!
Warum nur ist der Tango für junge Menschen so wenig attraktiv?
Thomas Kröter hat auch dieses Thema neulich in einem Beitrag angesprochen. Auf seiner Facebook-Seite ergab sich dazu eine lichtvolle Diskussion:
Kollege Helge Schütt wiederholt dazu sein bekanntes Argument: Kröter wohne „musikalisch gesehen wohl in der falschen Gegend“. In der „Rhein/Main/Neckar-Region“, insbesondere in Worms, gebe es schließlich auch Non Tango. Und an der TU Darmstadt werde sogar „immer eine Stunde ‚freies Tanzen‘ angeboten. Wow – da ist ja noch keiner zuvor draufgekommen! Kaum wirbt man beim „Uni-Sport“, kommen Studierende – welche Überraschung! Und siehe da: Junge Menschen stehen nicht direkt auf Tanzmusik aus den 1940er Jahren – wer hätte das gedacht?
Christian Rothschild dagegen meint: „Ich glaube auch nicht, dass allein durch bunter gemischte Musik eine Milonga, oder gar der Tango, für jüngere Leute attraktiver wird.“ Nein, aber man kann ihnen ja noch antiquierte und langweilige Verhaltensregeln aufdrücken, dann wird’s schon werden!
Und vor über 20 Jahren sei der Tango „schwer in“ gewesen – die Medien hätten viel darüber berichtet. Es habe mehr Tangoschulen gegeben. Na ja, da hat man auch noch wildere Musik aufgelegt!
Dennoch: Es gab bei uns damals kaum Unterricht – und zu den wenigen Events musste man oft weit fahren. Olay, das tun junge Leute auch heute noch, wenn sie Popfestivals oder Konzerte besuchen.
Der Berliner Jürgen Kühne wendet ein, Tango argentino sei „eben ein sehr schwieriger Tanz“. Es brauche „ein paar Jahre Frust, Geld und Durchhaltevermögen“, ehe man „durchschnittlich tanzen“ könne. Da lernten junge Leute „lieber in 14 Tagen Salsa oder ähnliches und haben jede Menge Spaß dabei“.
Vorsicht
– mit dem Begriff „Spaß“ kann man sich beim Tango einen
gewaltigen Schiefer einziehen! Schließlich ist bewegungsarme Versenkung
in der Ronda angesagt! Und die ist tänzerisch nicht wirklich schwierig.
Michael Dettmann berichtet, er „habe einmal gelesen, dass Tango gerade deshalb besonders attraktiv für ältere Menschen ist, weil vor allem die Rumpfmuskulatur beansprucht wird – und diese ist die letzte, die im Alterungsprozess abbaut. Das scheint mir ein plausibler Grund zu sein.“
Klar, die Beinmuskulatur kann es nicht sein – das sieht man auf jeder Milonga!
Seine Töchter habe der Schreiber sogar mal in einen Technik-Kurs geschickt. Deren Feedback: „Papi, wie hältst du das mit diesen älteren Damen aus? Sie wirken doch alle sehr frustriert."
Ich finde es eine geniale Idee, pubertäre junge Mädels mit Tango-Technik zu molestieren. Da hatten die sicherlich viel Freude! Und was die älteren Damen anbetrifft: Mit einer muss man es möglicherweise sogar zu Hause aushalten…
Andreas Lange stellt schließlich die kleingeschriebene Gretchenfrage: „was können wir tun, das tänzer:innen auch auf diesem weg schon bei ihren besuchen von milongas freude und genuss empfinden können?“
Ich schlage vor, ihnen schon mal einzureden, dass Tango ein sehr schwieriger Tanz sei – und sie in Technik-Workshops zu schicken. Als ehemaliger Lehrer kann ich bezeugen: Die Jungen lieben alles, was nach Unterricht schmeckt!
Quelle: https://www.facebook.com/thomas.kroter.5 (Post vom 12.10.24)
Vor einiger Zeit hatte ich auf einer Milonga ein Erlebnis, über das ich länger nachdenken musste:
Als Cortina spielte der DJ einmal einen Rock’n’Roll. Einen der Tänzer, sicherlich mindestens in meinem Alter, nenne ich insgeheim „Gentleman Host“: Ein edel gekleideter Galan, wie sie auf Kreuzfahrtschiffen zur Begleitung und Betanzung älterer Damen unter Vertrag sind. Er kann so gut wie alles tanzen – zumindest täuschend ähnlich. Und so legte er mit seiner jüngeren Partnerin eine sehenswerte Performance hin – glücklicherweise ließ der DJ das Stück weiterlaufen! Klar sah man seinen Moves an, dass die Arthrose deutliche Spuren hinterlassen hatte. Aber er agierte so lässig und cool, dass ich beim Zuschauen hellwach wurde. Wir provozierten einen kräftigen Schlussapplaus.
Peter Welikij hat im obigen Post für dieses Thema die richtigen Worte gewählt:
„Wenn ich mit Jüngeren tanze, kommt das meiste Feedback nach ‚coolen Moves‘, bei Älteren nach besonders harmonisch gelungenen Bewegungen. Da ich zur Musik tanze, brauche ich für coole Moves auch passende Musik. Die fehlt bei den meisten Milongas. Woanders ist es dann cooler...“
Ich habe dazu ein schönes Video gefunden:
https://www.youtube.com/watch?v=rAnoJ_rdLW0
Tatsächlich
ist es wohl so, dass gerade junge Menschen sehen wollen, dass souverän
und lässig getanzt wird, Bewegungen entstehen, welche die Blicke
an sich ziehen. Die funktionieren aber nur mit einer Musik, die groovt.
Und man möchte sehen, dass die (gerne auch älteren) Leute auf dem Parkett jede
Menge Spaß haben. Auch wenn man den Aktionen das Alter ansieht
Die Atmosphäre eines Bestattungsinstituts, die auf vielen
Veranstaltungen herrscht, schreckt ab. Die Jungen brauchen Vorbilder,
die auch älter sein dürfen. Desto überzeugender könnten sie wirken!
Auf der anderen Seite können wir Ollen tausendmal fordern, „der Jugend ihren Lauf“ zu lassen. Falls die Ausstrahlung nicht passt, ist es halt vergeblich:
https://www.youtube.com/watch?v=woeZESXYgD8
Schlimm wird es ebenfalls, wenn die ältere Führungsriege meint zu wissen, wie die Jugendlichen zu sein haben. Dann kommen Filme wie dieser heraus:
https://www.youtube.com/watch?v=BEdJbinnSlY
Ein wunderbares Beispiel der Versuch des SED-Regimes, Ende der 1950er Jahre den Trend zur „verwestlichten“ Musik zu stoppen, indem man das synthetische Spießer-Gehuppse namens „Lipsi“ propagierte und kläglich scheiterte:
https://www.youtube.com/watch?v=0OW4IWQDvY4
Obwohl ich sagen muss: Diese Musik im 6/4-Takt hat mehr Schwung als vieles, was ich heute auf den Milongas höre. Entwicklungen der Jugendkultur zu ignorieren ist gefährlich.
Nun, man wird sehen, wie es im Tango weitergeht. Für die Mehrzahl scheint die Überalterung kein Problem zu sein. Ich kann dazu nur sagen: Im November 1989 betrug das Durchschnittsalter des DDR-Politbüros 60,8 Jahre. Die 11 Mitglieder waren alle männlich.
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Mitglieder_des_Politb%C3%BCros_des_ZK_der_SED
Einen Monat später war dann Schluss.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen