Das Wort zum Samstag

 

Melina Sedó, die Grande Dame des historischen Tango, überrascht mich immer wieder mit Ansichten, von denen sie wohl kurz vorher noch nicht wusste, dass sie diese vertritt.

So schrieb sie am 26.8. dieses Jahres auf ihrem Facebook-Account (von mir übersetzt):

„Unsere Kurse sind nicht für jeden geeignet.

Sie bringen die Menschen aus ihrer Komfortzone heraus. Das ist per Definition unangenehm.

Wir haben eine Mission.

Manche sagen, dass diese Mission darin besteht, alles zu zerstören.

Ich sage: Wir wollen etwas Schönes errichten. Aber um unsere Tango-Kathedrale zu bauen, müssen wir manchmal ein altes Haus abreißen und ein neues Fundament bauen.“

Das klingt, wie bei Missionaren üblich, schon ziemlich klerikal. Ziel ist ja stets eine Art Bekehrung. Wie ich neulich beschrieben habe, ist traditioneller Tango heute kein Gesellschaftstanz, sondern ein Glaubensbekenntnis.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/08/lachen-beim-hochamt.html

Zum höheren Ruhm der Gottheiten kann man sicherlich auch Kathedralen errichten. Mir wäre eine Feldkapelle oft lieber. Hier klingt es eher nach Petrus, dem Fels, welcher als Fundament der neuen Kirche diente.

Offenbar merkte Melina etwas später, dass sie den Quark doch ziemlich dick aufgestrichen hatte – und relativierte:

„Noch eine kleine Anmerkung: Mein Beitrag ist natürlich etwas polarisierend: Normalerweise nehmen wir den Tango der Leute nicht auseinander, sondern bieten nur neue Möglichkeiten an. Ob sie diese dann umsetzen, ist ihre eigene Entscheidung.“

Eigene Entscheidungen beim konservativen Tango? Nun wollen wir nicht übertreiben…

Die Probe aufs Exempel gelang einem Kommentator mit der Anregung:

„Wie wäre es dann mit etwas Neotango?“

Da kehrte Frau Sedó denn doch die strenge Gouvernante heraus:

„Willst du mich verarschen? Was wir unterrichten, IST Tango Nuevo. Das ist es, was so viele Leute verwirrt. Sie kommen mit der Erwartung, kleine Milonguero-Schritte auswendig zu lernen, und dann müssen sie analysieren und dekonstruieren, ihre Bewegungen umdrehen, sie auf der anderen Seite zu tanzen, Spiralen verwenden und so weiter. Also: Wir unterrichten Tango Nuevo. Ich tanze einfach keine offene Umarmung, weil es mich langweilt und ich zu alt bin, um mit meinen Beinen herumzuwerfen. Das sieht einfach blöd aus, wenn man älter und schwerer als 40 ist.“

Na ja, wenn damit Kilogramm gemeint sein sollten, ginge es ja noch.

Halten wir also fest: Bei Melina lernt man Tango nuevo. Offenbar gibt es da einen zweiten Musik- und Tanzstil gleichen Namens, der von Piazzollas Kompositionen geprägt ist. Oder Frau Sedó gefällt einfach das Adjektiv „neu“, weil sie ja ihre Kathedrale auf einem freien Bauplatz errichten will. „Neo“, „nuevo“ oder was auch immer: Was der gläubige Kunde möchte, wird ihm versprochen. Kostet ja nichts. Jedenfalls dem Verkäufer.

Nicht nur semantisch galoppiert im heutigen Tango der Wahnsinn. Ich werde weiter berichten!

Quelle: Melina Sedó - Note: Our classes are not for everyone. They push... | Facebook

Foto: www.tangofish.de

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