Tango-Schabrackendämmerung

 

„Verantwortliche, die sich selber suchen, finden sich in der Regel nicht“ (Werner Schneyder)

Auf der Facebook-Seite der Zeitschrift „Tangodanza“ las ich gestern die Ankündigung eines Artikels des DJs Olli Eyding mit dem Titel:

„TangoYoung – ... und andere Initiativen gegen die Überalterung der Tangoszene“

Hier der Text:

„Als 25 Jahre alter Student entdeckte ich in Regensburg den Tango zusammen mit vielen gleichaltrigen Studenten. Meine Leidenschaft war entfacht, der Tango, der damals gerade aus einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf erwachte, war unter uns Jüngeren ‚in‘. Die älteren Semester ignorierten wir. Das ist nun 30 Jahre her. Heute kann man uns, die Generationen 50+, 60+ und 70+, in der deutschen Tangoszene nicht mehr ignorieren. Wir Boomer sind der Tango. Überall graues Haar, gereifte Menschen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheinen die einzigen Jungen die argentinischen Tanzlehrerpaare zu sein. Die Generation nach uns fehlt scheinbar, dabei wäre sie als Bindeglied für Neueinsteiger so wichtig.

Weiterlesen in www.tangodanza.de/099

Tja, leider fehlt sie nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich!

In der Diskussion auf der genannten Facebook-Seite wird nun vorwiegend um Wörter gestritten: Die Autorin Lea Martin brandmarkt den Begriff „Überalterung“ als „Ageism“. Sprich: Die Ollen protestieren dagegen, alt genannt zu werden. Schon das ein Zeichen, dass man sich dem Tango-Problem nicht inhaltlich nähern möchte.

Gut: Nennen wir es „steigender Altersdurchschnitt“ – was wird dadurch anders? Als gelernter Biologe weiß ich: Wenn hinten nichts mehr nachkommt, ist vorne irgendwann Schluss. So einfach ist das! 

Die Situation ist ja nicht neu: Bereits in den 1970er Jahren wäre der Tango in seinem Entstehungsland beinahe abgeschmiert. Während die Senioren zu damals bereits mehr als 30 Jahre alten Aufnahmen im Kreis einher trabten, wandte sich die Jugend den internationalen Pophits zu. Wäre die Musik Piazzollas nicht gewesen, die in den großen Tangoshows auch Jüngere begeisterte und zum Tango zog, hätte es das europäische und später weltweite Revival dieses Tanzes nicht gegeben. Dennoch war Tango auch damals eine Randsparte – und ist es geblieben. Schon darum sollten wir den Mund nicht allzu voll nehmen!

In einem Podcast-Interview wurde ich vor einiger Zeit gefragt, wie man wieder neue Generationen für den Tango gewinnen könne. Ich nannte damals zwei Faktoren:

·       Die Musik:

Ich bin zwar wahrlich kein Fachmann für das, was heute in den Clubs für junge Menschen aufgelegt wird. Schon, weil ich dazu kaum einen Bezug habe. Ich weiß nur: Man könnte solche Läden in Windeseile leeren, wenn dort plötzlich Musik aus alten UFA-Filmen erklänge. Selbst in „normalen“ Tanzschulen legt man keine Musik von Orchestern aus der goldenen deutschen Tonfilmzeit der 1930er und 40er Jahre auf. Nur im Tango meint man, mit Antiquitäten junge Leute hinterm Ofen hervorlocken zu können!

Musik muss doch das Lebensgefühl der Gegenwart – und gerade der Jüngeren – ansprechen. Vor knapp 90 Jahren mag das am Rio de la Plata D’Arienzo gewesen sein. Heute eher Taylor Swift! Daher brauchen wir moderne Ensembles, welche sich an neuen Hörgewohnheiten orientieren.

·       Die Reglements

Einen Club mit jungem Publikum könnte man zuverlässig auch mit der Durchsage räumen:

„Hey Leute, dürfen wir an unsere Tanzregeln erinnern? Wir bewegen uns bitte in zwei Spuren gegen den Uhrzeigersinn ums Parkett. Nicht überholen oder zwischen den Bahnen wechseln! Die Füße bleiben in Bodennähe. Und denkt an das Auffordern nur mit Blickkontakt – bitte keine direkte Ansprache!“

Gerüchteweise habe ich gehört, junge Menschen wollten in ihrer Freizeit Spaß haben, auch mal wild tanzen und Kontakte zum anderen Geschlecht selber erproben. Daher ist wohl auch kein Disco-Betreiber so bescheuert, ihnen mit engstirnigen Vorschriften zu kommen. Eher gilt wohl das Minimum: Wer besoffen ist und/oder Stress macht, fliegt raus.

Olli Eyding dürfte wohl etwa zur selben Zeit in Regensburg den Tango entdeckt haben wie wir. Und es ist zu befürchten, dass er ihn in derselben Schule erlernte. Von daher müsste er wissen, dass damals niemand Begriffe wie Tandas, Cortinas oder Cabeceo kannte. Kein Mensch über starre Reglements nachdachte. Und man auf den Milongas nicht nur historische Tangoaufnahmen, sondern teilweise recht wildes Zeug hörte. Der Kontrast zu heute müsste sich doch geradezu aufdrängen! Er kennt sicher die Milonga „Tango im Fluß“ samt der Veranstalterin Christiane Solf, die mir vor einiger Zeit schrieb:

„Ist diese zunehmende Regelwut und Rechthaberei vielleicht auch eine Alterserscheinung? Kann es sein, dass Frust, Schmerz, Enttäuschung und Trauer über die verlorene Jugend in verbalen Attacken ein Ventil finden? (…) Wenn die Kluft zwischen Anspruch und tänzerischem Können mit den Jahren immer grösser wird, wenn die einstige Leidenschaft einer gepflegten Langeweile gewichen ist, dann möchte man sich wenigstens die Deutungshoheit über tanzbare oder untanzbare Musik bewahren.
Angesichts nachlassender Spannkraft und schwindender Begeisterungsfähigkeit will man sich zumindest moralisch noch überlegen fühlen dürfen, indem man strikten Regeln folgt und alle, die einen anderen Tanz- oder Musikstil bevorzugen, nach Kräften abwertet und beleidigt.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/08/spurensuche-in-ruinen.html?showComment=1692805195721#c1410162488956977120

Heute ist Regensburg, was die Vielfalt des Tangoangebots betrifft, ein totes Pflaster. Es herrschen die Vertreter des Althergebrachten.

Nun weiß ich, dass Olli Eyding nicht zu den schlimmsten Vertretern der konservativen DJ-Zunft zählt und auch mal Aufnahmen neuer Orchester gelten lässt. Und ich habe von seinem Artikel nur in der Zusammenfassung gelesen, weil ich das Abo der „Tangodanza“ schon vor Jahren gekündigt habe. Aber vielleicht lässt man mir ja ein Rezensionsexemplar zukommen, auf dass ich noch Geistesblitze des Autors entdecken könnte.

Ich nehme an, uns wird noch irgendeine „junge“ Tangoinitiative vorgestellt, die es sicher auch irgendwo gibt, und mit der man davon ablenken kann, dass trotz spärlicher Verschönerungsversuche der Mainstream des „Retrotango“ bei Weitem dominiert. Und dass auch DJs und Veranstalter, die ahnen, wohin es gehen müsste, nicht die Traute haben, das zahlreiche und zahlungskräftige betagte Publikum zu verprellen.

Selbst, wenn man es nun wirklich ernst meinte, wäre der Trend, da in über 20 Jahren festgefahren, kaum mehr umzudrehen. Und in weiteren zwei, drei Jahrzehnten wird der Tango bei uns den Löffel abgeben und zu einer exotisch-spinnigen Beschäftigung einer kleinen Gruppe von Historien-Pflegern werden.

Dabei hätte ich mich als alter Zausel so gefreut, im Sitzen auf meinen Hackelstecken gestützt, junges Volk zu bewundern, das auf dem Parkett seine Energie und Kreativität austobt. Das andere habe ich bereits als Zivi im Altenheim erlebt.

Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein neuer Piazzolla erscheint und den Tango noch einmal aus dem selbstverschuldeten Geriatrie-Ghetto holt! So wie man mit solchen Genies umgesprungen ist, hätte er es auch nicht verdient.

Daher sage ich: Wenn Leute wie Olli Eyding wirklich etwas für die Verjüngung des Tango tun wollten, sollten sie ihren Platz hinter dem Apple räumen, auf dass junge und hoffentlich risikobereite DJs den Tangopelz waschen, indem sie ihn kräftig nassmachen.

Aber das ist nicht zu erwarten, da Verantwortliche… siehe Eingangszitat!

Eine „Götterdämmerung“, also der Untergang der alten Gottheiten, auf dass eine neue, schönere Welt entstehe, ist im Tango nicht in Sicht.

Daher das Titel-Wortspiel, mit dem ich Kritikern die Chance gebe, sich wieder um Begriffe zu streiten statt über Problemlösungen nachzudenken!

So, wie wir’s im Tango stets machen…

P.S. Diesen herrlichen Fund verdanke ich Manuela Bößel, die mich auf die Kabarettistin Tina Teubner aufmerksam machte. Nachfolgend lässt sich die Künstlerin über den „Jugendwahn“ aus. Ich sage voraus. Würde diese Frau Tango tanzen, müssten wir uns über Langeweile nicht beklagen!

https://www.youtube.com/watch?v=WWdZF8Wk51U

Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/08/muss-der-tango-altern.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/10/wie-die-alten-sungen.html

Kommentare

  1. In die Debatte über „Altersdiskriminierung“ auf FB hat sich nun auch die berühmte Nicole Nau eingeschaltet. Zwar arbeite sie auch sehr gerne mit jungen Menschen, aber:
    „Der Tango mit seiner tiefen Ernsthaftigkeit ist mit gewisser Reife verbunden (…) Worauf ich Wert lege: Von Überalterung im Tango Argentino zu sprechen, ist ein Absurdum. die Überalterung kann es hier gar nicht geben, weil er eine Kultur ist, die sich aus Reife nährt. Eine Reife ist sicherlich nicht gebunden an das Alter, aber nimmt in der Regel mit diesem zu. Ein Faktum unserer argentinischen Tango Kultur ist, dass diese von Themen der Erwachsenen handelt.“
    Ich überlege mir gerade, wie alt Nicole war, als sie ihre Tangokarriere in Argentinien startete? Mitte Zwanzig? Hätte sie ihre großen Erfolge auch erreicht, wenn sie doppelt so alt gewesen wäre?
    Und ist es nicht das typische Abwehr-Argument der Ollen, Jüngere mit der Botschaft abzuspeisen: „Das können erst wir Älteren wirklich verstehen“?

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  2. Hmmm.....also im Idealfall kann ich Nicoles Argument nachvollziehen. Als reifer Tänzer habe ich ein ausreichend großes Schritt-Repertoire, genügend Musikverständnis und Selbstvertrauen, um improvisieren zu können. Solche reifen Tänzer sehe ich allerdings sehr selten auf Milongas, was für mich zeigt, dass Reife nichts mit dem Alter zu tun hat.
    Außerdem ist man doch angeblich mit 18 erwachsen und kennt genügend "Erwachsenenthemen".
    Vielleicht sollte man mal darüber nachdenken, wie man den Unterricht verändern könnte, um auch Jüngere anzusprechen.
    Liebe Grüße
    Carmen

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    1. Es stimmt schon, dass man die tieferen Aspekte mancher Tangos erst erkennt, wenn man im Leben einiges durchlitten hat. Aber solche Stücke werden ja wenig aufgelegt – stattdessen lieber pflegeleichte Schlagermusik.
      Außerdem: Wenn man im Tango „reifen“ soll, wäre es gut, früh genug damit anzufangen. In den Berichten „alter Milongueros“ lese ich oft, dass sie schon als Kinder von ihren Eltern und Geschwistern zu den Milongas mitgenommen wurden.
      Und ja, der Unterricht… Auch den könnte man gerade für Jüngere so präsentieren, dass er vor allem Spaß macht – statt sich bierernst dem Exerzieren irgendwelcher Schrittkombinationen hinzugeben. Und wo bleiben in den Kursen Übungen zum Improvisieren, zum kreativen Tanzen bei entsprechend moderner Musik?
      Insgesamt müssen sich im Tango vorwiegend die Jungen den Älteren anpassen. Das wird nicht funktionieren.
      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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