Geht’s noch?

Gestern fand ich auf Facebook gar wundersame Zeilen, die der Autor etwas bescheiden als „Tango-Reflexionen“ bezeichnet. Ich habe mich entschlossen, eine Übersetzung ohne wesentliche Kürzungen zu versuchen, damit der dichterische Schmelz nicht leidet:

„Der Schritt und die Umarmung sind die Grundpfeiler des Tango Porteño, wesentliche Ausdrucksformen, welche die Seele dieses tief in der Kultur von Buenos Aires verwurzelten Tanzes definieren.

Der ‚Schritt‘ im Tango ist nicht einfach eine Art, sich von einem Punkt zum anderen zu bewegen, sondern eine echte Körpersprache. Jeder Schritt ist ein Akt der stillen Kommunikation zwischen den Partnern, ein subtiler Tanz des Gleichgewichts, der Spannungen und des Loslassens.

Im Tango bedeutet Gehen auch, mit der Musik, mit dem Partner, mit dem Raum zu verschmelzen. (…)

Das Gehen ist also in erster Linie eine Art und Weise, die Musik zu verkörpern, ihre Nuancen, ihren Rhythmus und ihre Emotionen in Bewegung zu übersetzen. Jeder Schritt kann so zu einer Antwort auf die Melodie und zu einer körperlichen Manifestation des musikalischen Tempos werden. Der Tänzer folgt nicht nur dem Rhythmus, sondern tritt in einen Dialog mit der Musik und interpretiert sie auf persönliche Weise.

Das Gehen wird so zu einer stummen Erzählung, in der die Kadenz der Schritte eine Geschichte erzählt, indem sie den Variationen des Tempos, der Spannung und Entspannung, der Beschleunigung und Pause folgt.

In diesem Zusammenhang ist die Stille zwischen den Noten ebenso wichtig wie der Klang selbst, und der Spaziergang respektiert dies, indem er innehält und den leeren musikalischen Raum mit einer Intentionalität füllt, die jeden Schritt in eine emotionale Aussage verwandelt.

Außerdem ist der Tango bekanntlich ein Paartanz par excellence, und der Schritt stellt – in Bezug auf den zweiten Aspekt – den Moment dar, in dem die beiden Partner zu einer Einheit verschmelzen. Das gemeinsame Gehen erfordert eine äußerst raffinierte Ebene der nonverbalen Kommunikation. Durch die Umarmung verbinden sich die Körper so, dass jede Bewegung für den anderen spürbar wird. In diesem Sinne gibt es kein starres Führen und Folgen, sondern einen ständigen Rollentausch, ein Geben und Nehmen, das auf Zuhören und Achtsamkeit beruht.

Der Spaziergang ist also ein Tanz im Tanz, ein Spiel des Gleichgewichts, bei dem sich die beiden Partner im Einklang bewegen, geleitet von einem tiefen und instinktiven Verständnis. Es ist, als ob die beiden in diesem Moment zu einem Wesen werden, das zusammen atmet, zusammen wahrnimmt, sich zusammen bewegt, in perfekter Synchronität.

Was schließlich den dritten Aspekt, die Verschmelzung mit dem Raum, betrifft, so ist das Gehen im Tango auch eine Art, mit dem Raum, der die Tänzer umgibt, in Einklang zu kommen. Tango wird nie in einem leeren Raum getanzt, sondern in einer Umgebung, die ihre eigene Körperlichkeit, ihre eigene Geschichte hat. Gehen bedeutet daher, den Raum mit Anmut und Respekt zu besetzen, ihn wahrzunehmen und sich ihm anzupassen. Dies setzt eine besondere Sensibilität gegenüber den anderen Tänzern auf der Tanzfläche voraus, einen Sinn für Gemeinschaft und das Teilen des gemeinsamen Raums.

 Gehen wird so zu einem Akt des Respekts, bei dem jeder Schritt nicht nur in Bezug auf die Musik und den Partner, sondern auch auf die Umgebung gemessen wird. Es ist die Fähigkeit, sich fließend und harmonisch zu bewegen, sich an kleine oder große Räume anzupassen, einen Tanz zu schaffen, der den Fluss der anderen respektiert, ohne seine eigene Authentizität zu verlieren.

Die Umarmung schließlich ist das schlagende Herz des Tangos. Sie ist es, die das Paar zu einer untrennbaren Einheit werden lässt.

Alle Emotionen, das gegenseitige Vertrauen und die Komplizenschaft zwischen den Partnern konzentrieren sich in der Umarmung, denn sie ist ein intimer, fast heiliger Raum, in dem sich die Körper begegnen und ohne Worte zueinander sprechen.

Die Umarmung, insbesondere die geschlossene Umarmung, ist immer ein Dialog der Nähe und des Respekts. Durch die Umarmung vermitteln sich die Tänzerinnen und Tänzer gegenseitig ihre Absichten, Richtungswechsel, Pausen und sogar ihre tiefsten Gefühle.

‚Gehen und Umarmen‘ sind nicht einfach nur Tanztechniken, sondern (…) die Essenz des Tango Porteño. Sie stehen für die Fähigkeit, zuzuhören und zu reagieren, zu führen und zu folgen, im Moment präsent zu sein und die Musik mit Intensität zu leben. Ohne diese beiden Elemente würde der Tango seine Authentizität, seine emotionale Kraft und seine Fähigkeit, durch Bewegung Geschichten zu erzählen, verlieren.“

Illustriert wird der Text durch ein Tanzpaar, welches wir im Vorwärts- und Rückwärtsgang bewundern dürfen – zu traditionellen Klängen seffaständlich. Also Uff erstmal…

Quelle:

https://www.facebook.com/giorgio.lanza/videos/1151798715911355

Diese Mystifizierung des Tango überschreitet inzwischen alle Peinlichkeitsgrenzen. Ein simples Gehen wird zu einer Art Religionsausübung – vergleichbar mit der katholischen Fronleichnamsprozession – ebenfalls mit Musik und Gesang, damit man das Dorf nicht in der Kirche lässt.

Vorhin fiel mir ein, dass ich gestern nicht mehr nach der Post geschaut hatte. Daher werde ich mich an die tief in der Kultur Pörnbachs verwurzelte Tradition als ehemalige Poststation erinnern und mit dem heiligen Raum zwischen Haustür und Briefkasten in Anmut und Respekt verschmelzen. Und dabei natürlich eine stumme Geschichte erzählen, die von meiner Sehnsucht nach fernen Absendern, Arztrechnungen und Reklameblättchen berichtet.

Singen werde ich dazu lieber nicht, sondern den leeren musikalischen Raum mit einer Intentionalität füllen, die jeden Schritt in eine emotionale Aussage verwandelt.

Ich habe Karin gefragt, ob sie mich auf diesem Weg zum Postkasten, geleitet von einem tiefen und instinktiven Verständnis, begleiten möchte, damit wir beide in diesem Moment zu einem Wesen werden, das zusammen atmet, zusammen wahrnimmt, sich zusammen bewegt, in perfekter Synchronität.

„Geht’s noch?“ hat sie mich gefragt, und ob mir die Hitze nicht bekomme. Tja, die Frauen…

P.S. Noch etwas Schleichtango von den Protagonisten:

https://www.youtube.com/watch?v=7dXGMyj1QQk

 

 

Kommentare

  1. Auch wenn ich diese "Reflexionen" nicht gerade als literarisch wertvoll bezeichnen würde, ist es einfach nur das, als was es sich selbst beschreibt: eine Reflexion, Gedanken.
    Soll man Gedanken über eine Kunstform etwa formulieren wie eine Gebrauchsanweisung für einen Rollator? Was soll eigentlich dieses ewige Granteln?

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    1. Na ja, ewig wird mein "Granteln" nicht währen - da schätze ich meine Lebenserwartung realistisch ein. Aber so lange müssen Sie sich gedulden.
      Gebrauchsanweisung für einen Rollator? Würde ich beim Durchschnittsalter in der Tangoszene für nützlich halten...

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