Wie die Alten sungen…

 

„Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen“ (Sprichwort)

In dem Podcast-Interview fragte mich Sabine Holl:

„Du beklagst ja zu Recht auch immer wieder die Überalterung des Tango in Deutschland und forderst andere auch mit der Frage heraus, wie denn dem zu begegnen sei.“ Ich solle das doch mal selber beantworten.

Meine Replik betraf zwei Faktoren: Einmal die Musik, welche für jüngere Leute moderner werden müsse – und zweitens die vielen Regeln, die man in den Tango eingeführt habe. Junge Menschen wollten Spaß haben und nicht seltsame Vorschriften beachten.

Nun sprach die Interviewerin plötzlich von anderslautendem „Erfahrungswissen“. Sie und ihr Partner hätten heuer in Polen das TangofestivalKrakus Aires“ besucht: Dort scheine es eine „super junge“ Tangoszene zu geben, die auch mehr den alten Tangoaufnahmen zugetan sei.

Nun frage ich mich schon, ob ich die Überalterung der Tangoszene „zu Recht“ beklage – oder ob diese „mit Absolutheit“ gar nicht festzustellen sei. Zum Schluss gab meine Gesprächspartnerin ihrer Hoffnung Ausdruck, meine Ideen zur Verjüngung der Tangoszene demnächst in meinem Blog zu lesen.

Auf der Facebook-Seite von „Tango Talk“ schob eine Kommentatorin aus Berlin nach, dort gebe es „mindestens drei Milongas“, die ein junges Publikum anzögen. Und das stünde auf alte Musik und Códigos wie den Cabeceo. Ähnliche junge Szenen existierten in anderen großen Städten – man müsse sich um die „Zukunft des Tango“ keine Sorgen machen. Auch Sabine Holl meinte nun, die Überalterung sei wohl auf die „Provinz“ beschränkt.

https://www.facebook.com/MicroTangueros

Ich finde, eine Therapie ist sinnlos, wenn man vorher nicht zu einer Diagnose kommt.

Nun fahre ich zwar weder nach Berlin oder gar Polen zum Tanzen. Mein „Erfahrungswissen“ beschränkt sich auf über 3000 Besuche meist lokaler Milongas in 24 Jahren. Dazu zwei Feststellungen:

Tangotanzende unter 30 sind auf den mir bekannten Veranstaltungen rar. Ich freue mich stets, wenn ich mal wenigstens ein, zwei junge Leute erblicke. Meist sind es eher Mädels, die dann von gichtfingrigen Greisen an sich und übers Parkett gezogen werden.

Und ich kenne eine Menge Leute aus unseren Anfangszeiten, die trotz der „historischen Rückstürze“ immer noch beim Tango aktiv sind. Wir alle sind halt nun 20 Jahre älter.

Ich habe im Internet längere Zeit mit Begriffen wie „Verjüngung der Tangoszene“ gesucht, aber nicht viel gefunden. Die gegenteilige Recherche war ertragreicher.  

So heißt es in einer Publikation von 2015:

Für die Prognose 2035 sind sowohl der Tango-Trend als auch der demographische Effekt gleichermaßen von Bedeutung. Beim demographischen Effekt wird angenommen, dass die heute mittleren Altersgruppen länger aktiv beim Tango verbleiben (…). Das Durchschnittsalter in der Tangoszene wird ansteigen.“

http://www.tangoinfo.ch/15ans.shtml

Es ist eine Tatsache, dass der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung sowieso immer höher wird. Und die haben mehr Freizeit und oft auch Knete. Wer quer durch Europa zu Festivals fährt, sollte nicht zur sozialen Unterschicht gehören im Gegensatz zur Tango-Gründergeneration vor über 100 Jahren.

Der Essener Tangolehrer Klaus Wendel, der zu den Vätern der deutschen Tangoszene gehört, sagt über langweilige EdO-Titel:

Glaubt man obendrein, in einer mittlerweile überalterten Tangogemeinde, damit vermissten Nachwuchs zum Tango animieren zu können?“

https://www.tangocompas.co/baeume-und-waelder/

Als Replik zu einem meiner Artikel schrieb die Regensburger Tangolehrerin Christiane Solf – ebenfalls ein „Tango-Urgestein“:

„Ja, der Tango hat sich verändert.
Er war früher frischer, leidenschaftlicher, unbeschwerter und experimentierfreudiger.
Aber das waren wir vor 30 Jahren auch.
Tatsache ist: Die Tangoszene altert.
Manche Ü60 Jährige haben dem Tango ganz den Rücken gekehrt oder tanzen nur noch selten. Weil die Füße nicht mehr mitmachen, weil die Energie nach einem harten Tag nicht mehr reicht für die Milonga, oder weil ihnen der Tango über die vielen Jahre schlicht langweilig geworden ist. (…)

Ist diese zunehmende Regelwut und Rechthaberei vielleicht auch eine Alterserscheinung? Kann es sein, dass Frust, Schmerz, Enttäuschung und Trauer über die verlorene Jugend in verbalen Attacken ein Ventil finden?
Wenn die Kluft zwischen Anspruch und tänzerischem Können mit den Jahren immer größer wird, wenn die einstige Leidenschaft einer gepflegten Langeweile gewichen ist, dann möchte man sich wenigstens die Deutungshoheit über tanzbare oder untanzbare Musik bewahren.
Angesichts nachlassender Spannkraft und schwindender Begeisterungsfähigkeit will man sich zumindest moralisch noch überlegen fühlen dürfen, indem man strikten Regeln folgt und alle, die einen anderen Tanz- oder Musikstil bevorzugen, nach Kräften abwertet und beleidigt.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/08/spurensuche-in-ruinen.html?showComment=1692805195721#c1410162488956977120

Ich habe diese Gedanken auch schon in einem Artikel verarbeitet:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/08/muss-der-tango-altern.html

Der Neo-DJ Jochen Lüders schreibt über „Image und Realität“ des Tango:

Die einzige Gemeinsamkeit sind die geschlossenen Augen von vielen Frauen. Man weiß allerdings nicht, ob sie das Ganze wunderbar finden oder einfach so langweilig, dass sie vor sich hindösen. In Hinblick auf Lebens- und Bewegungsfreude ähnelt das Ganze eher einem Tanztee im Altersheim.“

https://jochenlueders.de/?p=16438

An anderer Stelle bekennt er:

„Ich duelliere mich zwar gerne mit Riedl, wir sind uns aber auch in vielen Punkten absolut einig. Zum Beispiel darin, dass Tango (zumindest in München) früher viel abwechslungsreicher war und viel mehr Spaß gemacht hat. Und der ‚Breitensport‘ schaut heutzutage immer häufiger so aus: https://www.youtube.com/watch?v=iwRH_Cmwn5c Das ist für mich Tanztee im Altersheim bzw. eine ‚Gerontolonga‘ (Riedl). Heißt ‚Breitensport‘ jetzt, sich zu sterbenslangweiliger Musik an der Stelle zu drehen?“

https://jochenlueders.de/?p=16464 (Kommentarbereich)

Fazit

Mag schon sein, dass es in Großstädten oder im Ausland die eine oder andere junge Tangoszene gibt. Darüber sollten wir uns freuen. Ich fürchte nur, einige Schwalben machen noch keinen Sommer. Vielleicht stehen die dortigen jungen Gäste sogar auf alte Tangomusik. In kulturellen Randsparten gibt es fast nichts, was es nicht auch gibt.

Dennoch müsste man mir erklären, wieso man in Clubs oder riesigen Konzerten, welche von zehntausenden Youngsters besucht werden, nicht alte UFA-Schlager aus den 1940ern spielt, sondern Popmusik, welche das heutige Lebensgefühl der Fans anspricht.

Und sicherlich ist ein beträchtlicher Teil der jetzigen Generation erstaunlich konservativ eingestellt – nicht zu vergleichen mit den aufmüpfigen 68ern, zu denen ich mich zähle. Gerade in Osteuropa sieht man ja – ganz vorsichtig gesagt – nicht gerade einen Trend zur Liberalität

Da marschiert man dann auch gerne mal in militärischem Regiment oder trabt durch eine Polonaise (sic!), die ich sonst nur von Faschingsbällen kenne:

https://www.youtube.com/watch?v=yqtLYjVgNkw&list=PLfY1nxKflqmacU6RX3I4Donc5qD-XS9WJ

(Nein, ich schreibe dazu heute keine Satire, obgleich es mich in den Fingern juckt…)

Meine Frage ist jedoch: Das junge Volk tanzt sicherlich erst seit ein paar Jahren und wurde natürlich voll auf die aktuellen Tangoverhältnisse (historische Musik, Códigos, vorschriftsmäßiger Tanzstil etc.) konditioniert. Woher sollen sie denn Alternativen kennen? Stattdessen werden sie mit festlichem Surrogat gefüttert.

„Wie die Alten sungen…“

Die berühmte Tänzerin Carmencita Calderón (1905-2005) sagte einmal:

„Der Tango kommt aus den Slums, nicht vom Parkett. Und wenn man das nicht mehr sieht oder spürt, dann ist er tot.“

Daher sage ich abschließend: Man könnte wohl (langfristig) mehr junge Menschen vom Tango begeistern, wenn man sich am Lebensgefühl der Mehrheit orientieren würde. Auf der Basis der heutigen Konditionierung wird das jedoch sicherlich schwierig.

Ich schrieb dazu einmal:

Sich gegen die Evolution zu sperren, ist keine gute biologische Strategie. Und Überlebenschancen hat vor allem das Lebendige.“

Und wenn nicht, kann ich auch damit leben, zur vorletzten Tangogeneration zu gehören. Ich habe meine Zeit gehabt und werde mich deshalb nicht aufs Parkett kleben…

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/12/ein-klebriger-protest.html

Kommentare

  1. Tatsache: Zum zweiten Mal in Folge haben wir beim Tango Anfänger-Kurs an der TU Darmstadt 50 Anmeldungen. Das Interesse ist also da.
    Tatsache: Die, die vom letzten Semester übrig geblieben sind, gehen nicht gern auf Milongas, weil sie sich als Minderheit unter uns "alten Menschen" nicht wohl fühlen. Folge: Sie gehen nicht tanzen, sondern vor allem zum Unterricht.
    Mit der Musik dagegen haben die Meisten (nach Umfrage) weniger Probleme. Allerdings gibt es hier auch ein paar Milongas mit alten Leuten und moderne Musik, sodass das kein Hinderungsgrund ist.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Interessant!
      Aber ich hätte mit 18 auch nicht gern einen Tanztee im Altenheim besucht.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.