Muss der Tango altern?
Gestern erhielt ich einen sehr interessanten Kommentar der Regensburger Tangolehrerin und Veranstalterin Christiane Solf. Bemerkenswert war schon einmal, dass sie mir in sachlicher Form auf einen Artikel antwortete, in dem ich einen ihrer Tanzabende ziemlich heftig verrissen hatte.
Das bin ich von Leuten aus dem „VIP-Bereich“ unseres Tanzes wahrlich nicht gewöhnt. Auf Kritik hin werde ich meist angeschwiegen oder allenfalls zornig attackiert.
Vielleicht liegt es auch daran, dass wir uns seit etwa 20 Jahren kennen – so lange zählen Karin und ich schon zu den Stammgästen ihrer Veranstaltungen. Christiane und ihr Partner Sven Frais haben sich seit 1997 aus allen „Tangomoden“ herausgehalten und boten Milongas, in denen sich Fans der alten Tangomusik ebenso aufgehoben fühlen konnten wie Anhänger modernerer Klänge. Und auf irgendwelche „Tanzspur-Verordnungen“ oder „Aufforderungs-Reglements“ haben sie sich nie eingelassen.
http://www.tangoimfluss.de/taflu07.htm
All das ist in der heutigen Szene eine Seltenheit, zeugt von einer Liberalität, die wahrlich nicht selbstverständlich ist. Dass es mir aktuell nicht mehr so vorkommt, war Gegenstand meiner Kritik.
Christiane antwortete darauf mit einer erstaunlichen Feststellung, die ich von Tangolehrkräften noch nie gehört oder gelesen habe:
„Tatsache ist: Die Tangoszene altert.“
Ich finde, dieses Faktum kann man heute nicht mehr leugnen. Weiter schreibt sie:
„Manche Ü60 Jährige haben dem Tango ganz den Rücken gekehrt oder tanzen nur noch selten. Weil die Füße nicht mehr mitmachen, weil die Energie nach einem harten Tag nicht mehr reicht für die Milonga, oder weil ihnen der Tango über die vielen Jahre schlicht langweilig geworden ist.“
Auch hier kann ich nur zustimmen – fragt sich nur, warum vielen der Tango „zu langweilig“ geworden ist. Ich meine, das liegt nicht vorwiegend am Alter, sondern am immer öderen Musikprogramm zahlreicher Veranstaltungen. Ich könnte aus dem Stand Dutzende von Leuten aufzählen, die früher begeistert Tango getanzt haben, inzwischen aber an diesem Umstand verzweifeln und wegbleiben.
Christiane meint:
„Mittlerweile gibt es Milongas, Kurse und Workshops an jeder Ecke. Da sollte doch für jeden das Passende dabei sein.“
Diese Fehleinschätzung liegt vielleicht daran, dass ich sie selten auf anderen Milongas gesehen habe. Ich wüsste beispielsweise nicht, dass sich in der Oberpfälzer Region etwas tut, das man der „Vielfalt im Tango“ zurechnen könnte. Da war der „Tango im Fluß“ in all den Jahren eher eine rühmliche Ausnahme.
Die Autorin beklagt zu Recht die Grüppchen- und Lagerbildung und die Streiterei um „Musikauswahl, Tanzstile und Aufforderungsrituale“. Ebenso so wahr ist aber, dass mit diesen Ausgrenzungen nicht die Anhänger des modernen Tango angefangen haben. Eher verantwortlich war da beispielsweise ein Tangoblog, in dem jahrelang gegen alles getrommelt wurde, was im Tango von den behaupteten „Traditionen“ abwich.
Wir „Modernisierer“ ertragen doch seit Jahren geduldig Musikprogramme, in denen vorwiegend die „alten Schinken“ gespielt werden – und sind schon froh, wenn der DJ im Verlauf des Abends mal die eine oder andere Tanda auflegt, welche weniger als 70 Jahre auf dem Buckel hat.
Und wir haben doch nicht damit angefangen, anderen vorzuschreiben, wie sie aufzufordern hätten, welche Tanzspuren erlaubt seien und wie hoch sich die Füße vom Boden erheben dürften!
Christiane schreibt:
„Ist diese zunehmende Regelwut und Rechthaberei vielleicht auch eine Alterserscheinung? Kann es sein, dass Frust, Schmerz, Enttäuschung und Trauer über die verlorene Jugend in verbalen Attacken ein Ventil finden?“
Na ja, mag sein – wobei ich stets den Eindruck habe: Zwanghafte sind es meist von Kindheit an. Eventuell entdecken sie im Alter ein ideales Betätigungsfeld. Meine Trauer jedenfalls bezieht sich nicht auf die „verlorene Jugend“, sondern den verlorenen Tango.
„Wenn die Kluft zwischen Anspruch und
tänzerischem Können mit den Jahren immer grösser wird, wenn die einstige
Leidenschaft einer gepflegten Langeweile gewichen ist, dann möchte man sich
wenigstens die Deutungshoheit über tanzbare oder untanzbare Musik bewahren.
Angesichts nachlassender Spannkraft und schwindender Begeisterungsfähigkeit
will man sich zumindest moralisch noch überlegen fühlen dürfen, indem man
strikten Regeln folgt und alle, die einen anderen Tanz- oder Musikstil
bevorzugen, nach Kräften abwertet und beleidigt.“
Ich finde diese Interpretation der Autorin eindrucksvoll. Allerdings meint sie, ich begäbe mich mit meinem Artikel auf „genau das gleiche Niveau“.
Nun gut, ich bitte dann nur, einen Unterschied zu beachten: Ich setze im Tango ja keine Tatsachen, kann den Charakter von Veranstaltungen nicht real verändern. Was mir bleibt, ist allein die Kraft des Wortes. Und die werde ich weiterhin möglichst wirkungsvoll einsetzen.
Und noch ein Umstand trennt uns beide: Ich nehme die Tatsache, dass der Tango altert, nicht als Naturgesetz hin, sondern erlaube mir, sie zu hinterfragen. Klar ist doch: Mit der allenthalben gebotenen Musik und den steifen Regeln könnte man doch höchstens Jugendbanden von Supermarkt-Parkplätzen verjagen!
In keiner normalen Tanzschule erklingen vorwiegend Aufnahmen aus der UFA-Epoche (was ich manchmal sogar bedaure). Im Gegenteil: Man spielt fast nur aktuelle Hits, um junge Gäste anzulocken. Wieso tut man das im Tango nicht?
Ich habe vorhin einmal „YouTube“ nach dem Begriff „junger Tango“ durchforstet. Ergebnis: Man findet dort kaum etwas – allenfalls noch das:
https://www.youtube.com/watch?v=m29XgGVCkZ8
Resultat: Die Jungen haben sich halt den Klischees der Älteren anzupassen. Und nachdem die zahlungskräftiger sind, bestimmen sie weiterhin, was man unter Tango versteht. Eine der üblen Folgen der Kommerzialisierung unseres Tanzes!
Aber anscheinend findet man sich damit ab, dass der Tango – wie einst in den Post EdO-Zeiten – mit den Ollen stirbt. Und ob ihn nochmal ein Astor Piazzolla vor dem Untergang retten wird, bezweifle ich.
Dabei könnte selbst die alte Musik inspirieren, wenn man sie fantasievoll interpretiert. Und ein Tangopaar, dem ich schon mal einen Artikel gewidmet habe, zeigt, wie egal das Alter sein könnte – wenn man sich etwas bewahrt: Spaß und Leidenschaft.
Muss der Tango altern? Bezeichnenderweise tanzt das Paar zu Canaros „No Lo Creas por Favor“ – „Glaub das bitte nicht“!
Es muss nicht "junger Tango", sondern "tango young" heißen, um bei Google was zu finden.
AntwortenLöschenDa ich für meine Artikel Videos brauche, habe ich bei "YouTube" gesucht. Übrigens auch unter diesen englischen Begriffen.
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