Pilcher-Tango

 

Es gibt Tango-Veröffentlichungen von derart triefendem Schmelz, dass ich dazu die Klappe nicht halten kann. Mein heutiges Fundstück kommentiert einen kürzlichen Auftritt des Tangopaars Sigrid Van Tilbeurgh und Maria Filali (natürlich in Inglisch, daher von mir übersetzt):

„Wir sind immer noch wirklich, wahnsinnig und zutiefst verliebt in die Art und Weise, wie unsere wunderbaren Gäste Sigrid Van Tilbeurgh und Maria Filali getanzt, unterrichtet und performt haben!!! Hier ist etwas für alle, die anwesend waren, um noch einmal in ihrem unglaublich eleganten Stil zu schwelgen... und eine Erinnerung für alle, die nicht bei uns sein konnten, um für Neuigkeiten im April 2024 auf dem Laufenden zu bleiben... wir haben bereits einige sehr schöne Überraschungen für das nächste Jahr auf Lager!“

Wer des Facebookischen mächtig ist, kann den Post hier bewundern:

https://www.facebook.com/stefanie.stenzel.75/videos/992159858458941/?idorvanity=1952424008478712

Was mich betrifft: Öh, ja, schon – klar, die beiden können sehr gut Tango tanzen. Und die weiten Schwünge, die fließenden Schritte sehen tatsächlich absolut elegant aus.

Dies ist jedoch bei einer Musik von der Qualität und vom Tempo eines auslaufenden Sirup-Glases auch nicht soo schwierig. Der Geigenteppich ist zentimeterdick, und dazu jammert der offenbar an einer Gallenkolik leidende Sänger.

Also, ihr Mädels: Wenn man zeigen möchte, was man wirklich draufhat, sollte man sich schon ein etwas komplexeres Stück raussuchen, oder – halten zu Gnaden – gern auch eine Milonga, vielleicht gar einen modern interpretierten Tango. Statt einer Beeindrucke mit gerührter Sülze. Könnte allerdings anstrengender werden.

Aber so gibt es keinen Grund, bei der Besprechung zu einer derartigen Zuckerguss-Semantik zu greifen – eine Unsitte, die immer mehr einreißt: Alles im Tango ist – mit Dehnungs-H – soho toholl

Nein, ist es nicht.

Typischerweise wird die Aufnahme, zu der die beiden Damen tanzen, gar nicht erst erwähnt. Ist ja auch wurscht, seit wann geht es beim Tanzen um die Musik?

Meine Recherchen ergaben: Der Titel nennt sich „Tormenta“ („Sturm“) – komponiert und getextet 1939 von Enrique Santos Discépolo. Für diesen Autor typisch: Weltschmerz vom Feinsten.   

Heulend in den Blitzen,

verloren im Sturm

in meiner endlosen Nacht,

Gott! Ich suche deinen Namen...

Ich will nicht, dass deine Blitze

mich vor Entsetzen blenden,

denn ich brauche Licht

um weiterzugehen...

Was ich von deiner Hand gelernt habe

ist für das Leben nicht von Nutzen?

Ich spüre, dass mein Glaube erschüttert ist,

dass schlechte Menschen besser leben als ich...

Gott! Besser als ich...

Die gespielte Fassung aus dem Jahr 1954 stammt von Carlos di Sarli, es singt Mario Pomar.

Wer sich’s nochmal antun möchte:

https://www.youtube.com/watch?v=yNzu7Tzc86c

Für Facebook-Verweigerer hier noch ein weiteres, ziemlich ähnliches Tanzvideo des Damenpaars:

https://www.youtube.com/watch?v=2R8VRNA1o40

Diesmal muss der Tango „Solamente ella“ („Nur sie“) dran glauben. 1944 brachten ihn Lucio Demare und Homero Manzi heraus. Es singt Horacio Quintana:

Sie,

Haut aus Schatten, abwesende Stimme.

Sie schlief in meinen Armen ein.

Gemeinsam, ohne es zu wissen, unbeholfen

lernten wir die Wahrheiten der Liebe.

Sie, erblüht unter dem Mond.

Sie, wiedergeboren für meine Begierde.

Zusammen, ohne Kummer, ohne Vorwurf,

ohne Vergangenheit, Nacht für Nacht,

lernten wir zu träumen.

Wahrscheinlich muss ich mich intensiver einer immer mehr ausufernden musikalischen Kategorie widmen: dem Pilcher-Tango.

Kommentare

  1. Naja, Mme Filali kann auch anders : https://www.youtube.com/watch?v=LPquZDq2wzQ
    :-)
    Gruß HP Römer

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    1. Ja, vor sechs Jahren durfte man noch deutlich munterer tanzen - und zu Nicht-EdO-Musik...

      Ich habe mir natürlich auch andere Videos der beiden Tänzerinnen angesehen - und da ist der beschriebene Stil fast durchgängig vertreten. Meine Kritik ist, dass solche Showtänze für die Zuseher geschmacksbildend wirken: Aha, so geht der "richtige" Tango...

      Danke für den Hinweis und beste Grüße
      Gerhard Riedl

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  2. Di Sarli kitschig finden, aber Operetten nicht, ist wohl ein ziemlicher Widerspruch.

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    1. Der Begriff „kitschig“ kommt in meinem Artikel überhaupt nicht vor. Kitsch gehört – in einer gewissen Dosis – sowohl zur Operette als auch zum Tango.
      Beide Sparten bieten jedoch auch sehr muntere, oft sogar fröhliche Musik – und auch komplexe Arrangements. Eine Operette nur mit schwermütigen Knödel-Arien hätte keinen Erfolg.
      Wogegen ich mich im Text wende, ist die Reduktion von Musik und Tanz auf solche tranigen Stücke. Und die jubelnden, zuckersüßen Kommentare dazu. Das haben weder Operette noch Tango verdient.

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  3. Steffi Stenzel12. Mai 2023 um 10:05

    Lieber Gerhard, du hast absolut recht mit deiner Aussage:
    "Also, ihr Mädels: Wenn man zeigen möchte, was man wirklich draufhat, sollte man sich schon ein etwas komplexeres Stück raussuchen, oder – halten zu Gnaden – gern auch eine Milonga, vielleicht gar einen modern interpretierten Tango. Statt einer Beeindrucke mit gerührter Sülze. Könnte allerdings anstrengender werden."

    Du kannst natürlich nicht wissen, weil wir sie nicht veröffentlichen durften, dass die Mädels insgesamt 4 Stücke mit sehr unterschiedlicher Dynamik und Komplexität (Maria und Sigrid sind übrigens bekannt für ihre Interpretationen von moderner Musik), davon tatsächlich eine schnelle Milonga, getanzt.
    Warum wir die nicht veröffentlicht haben? Maria und Sigrid halten die Interpretationen noch nicht für gut genug. Keiner der Menschen, die anwesend waren sowie keiner der wenigen, die die anderen Videos zu Gesicht bekommen haben, kann das nachvollziehen (mich eingeschlossen).
    Denn wir sehen haufenweise Videos von anderen internationalen Paaren (Mann/Frau), die hemmungslos mit gleicher oder weniger Tanzqualität alle öffentlichen Kanäle überfluten.

    In diesem Kontext: Wir haben die beiden vor mittlerweile 2 Jahren davon erst überzeugen müssen, als Frauen-Duo bewusst den Schritt nach vorne zu machen, denn sie waren der Meinung, dass sie als Mitbewerber von gemischtgeschlechtlichen und womöglich noch "original argentinischen" Paaren sowieso nicht ernst genommen werden würden.
    Ich nehme aus einigen Unterhaltungen diesbezüglich mit Ihnen an, dass sie genau deswegen noch hyperkritischer mit sich selbst umgehen als sie das ohnehin schon tun. Sie sind eben von klein auf geschulte Tänzerinnen durch und durch.
    Und wissen, dass sie als Frauen-Duo ohnehin mit mehr Kritik, Häme und Nicht-Ernst-Genommen-Werden rechnen müssen als klassische Mann-Frau-Paare, gerade im immer noch relativ machistischen Tango vom Rio de la Plata. Daher legen sie, anders als manche Kollegen, Maßstäbe an sich an, die ich bedauere, aber aus meiner Perspektive einer führenden, folgenden und unterrichtenden Frau nur zu gut nachvollziehen kann.

    Also schlage ich vor, kommt doch nächstes Jahr einfach vorbei und schaut live, was die beiden können: komplex, schnell, langsam, abwechslungsreich...

    Wir laden dich, Karin und Manuela ganz herzlich zur Samstagsmilonga am 20.04.2024 ein, selbstverständlich ohne Eintritt, denn ihr habt ja das Risiko des langen Anfahrtsweges und dass ihr grundsätzlich Festivals nicht mögt.

    Ganz liebe Grüße aus Fürth!

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    1. Liebe Steffi,

      herzlichen Dank für Deine Stellungnahme! Die Wenigsten, welche ich in einem Artikel kritisiere, reagieren überhaupt – und schon gar nicht in dieser fairen Weise.

      Ich finde es gut, dass Du aus Deinen Erfahrungen berichtest, mit welchen Problemen sich Veranstalterinnen, Lehrerinnen und Tänzerinnen immer noch herumschlagen müssen. Offiziell ist man ja im Tango so was von gleichberechtigt…

      Dass Sigrid und Maria sehr gut tanzen können, habe ich ja geschrieben. Und klar, von Frauenpaaren im Tango könnten sich konventionell zusammengesetzte Duos häufig eine Scheibe abschneiden. Schade, dass die beiden sich nicht dazu durchringen konnten, interessantere Videos veröffentlichen zu lassen. Aber die Abneigung von Künstlerinnen gegen Publikationen kenne ich auch aus meinem Umfeld.

      Okay, dann eben ein langsamer Tango – aber musste es wirklich eine derartige Schnulze sein? Da hätte es wahrhaft Alternativen gegeben!

      Und Dein Kommentar wird halt automatisch mit dem Gesehenen verknüpft. An Deiner Stelle hätte ich bei den Formulierungen den Ball etwas flacher gehalten.

      Danke für die Einladung! Wir haben uns den Termin notiert und werden nach Möglichkeit teilnehmen. Wobei ich sicher bin, ein sehr gut tanzendes Paar zu erleben – hoffentlich auch zu einer komplexeren Musik.

      Du musst uns allerdings erlauben, den Eintritt zu bezahlen. Nimm es bitte als Zeichen des Respekts gegenüber den agierenden Personen. Sie haben es sicherlich verdient.

      Herzliche Grüße nach Fürth!
      Gerhard

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    2. Steffi Stenzel14. Mai 2023 um 22:42

      Lieber Gerhard, entschuldige für die späte Rückantwort, es war wieder ein langes Wochenende mit "viel zu tun". Und Gästen, die mit fröhlichem Lächeln und Gelächter mit uns und miteinander getanzt haben, bis wir allesamt hundemüde waren...
      Danke für deine freundlich-sachliche Reaktion und dass ihr euch Zeit und Anfahrtsweg nehmen wollt. Und wir würden euch trotzdem einladen, denn bei unserem Festival handelt es sich nicht um ein Profit-Unternehmen für uns, sondern um ein Angebot für alle Tanzverrückten. Die Workshops sind von den Belegungsanzahlen so begrenzt, dass wir nicht mit Gewinn kalkulieren, sondern mit ausreichender Zeit der Lehrenden für alle Teilnehmenden. Auch die Milongas sind nach ausreichend Platz für die Tänzer angelegt, nicht nach maximalen Teilnehmerzahlen. Wenn du so willst, eine Liebhaberei, die wir uns für den Tango leisten, denn meine Arbeit ist im Tanzstudio, nicht das Veranstalten von Festivals.
      Wenn ihr den langen Anfahrtsweg eurer Skepsis zum Trotz riskiert, wäre uns das schon Respekt und Wertschätzung genug. Aber das muss selbstverständlich eure Entscheidung bleiben.

      Nochmals liebe Grüße und vielleicht bis bald mit euch auf irgendeiner Tanzfläche!

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    3. Liebe Steffi,
      ein schönes Konzept - Kompliment!
      Wenn es die Zeit erlaubt, werden wir sicherlich kommen.
      Also, bis bald und liebe Grüße
      Gerhard

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