Von der Grundschule zum Tango
Gestern veröffentlichten die Medien eine Nachricht, die mich nicht wunderte – weder hinsichtlich meines früheren Berufs noch als Blogger: Die Lesekompetenz der Grundschüler hat hierzulande einen Tiefstand erreicht. So besagt es die aktuelle IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung). 25 Prozent der Kinder aus den 4. Klassen erreichen nicht das Mindestniveau an Textverständnis, welches für die weitere Schullaufbahn erforderlich wäre. Zum dritten Mal in Folge haben sich diese Ergebnisse hierzulande verschlechtert.
https://de.wikipedia.org/wiki/IGLU-Studie
Schuld daran ist nicht allein die Corona-Krise. Kinder aus höheren Schichten beziehungsweise mit deutschen Eltern haben eine zwei- bis dreimal höhere Chance, den Übertritt an eine höhere Schule zu schaffen.
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/bildung-lesen-iglustudie-100.html?xing_share=news
Schon vor fast fünf Jahren habe ich die desaströsen Auswirkungen von „Bildungsreformen“ kritisiert, die darauf zielen, Sprachrichtigkeit als weitgehend belanglos hinzustellen:
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2018/09/und-die-fibel-hat-doch-recht.html
Und schon im weit zurückliegenden eigenen Unterricht kann ich mich noch gut an die Abwehrkämpfe gegen Eltern erinnern, die meinten, in Fächern wie Biologie und Chemie dürfe man keine „Rechtschreibfehler“ bewerten. Wenn das Kind statt „Rückgrat“ „Rückenrad“ schreibe – oder „Geiseltierchen“, wisse man doch, was gemeint sei…
Das wichtigste Mittel zur Entwicklung des Textverständnisses – das eigene Lesen – spielt im Unterricht eine abnehmende Rolle. Und wenn die Eltern zu Hause selber statt in Bücher nur noch auf Mattscheiben glotzen und Bilder konsumieren, ist es kein Wunder, wenn sich das auf den Nachwuchs überträgt. Die Entwicklung zum Analphabeten benötigt mehrere Generationen.
Ich bin beim Lesen von Facebook-Texten immer wieder fassungslos, welches Deutsch da zusammengeschludert wird (dabei könnte man Fehler zumindest im Nachhinein korrigieren).
Hier das Resultat einer knappen Woche Herumgestammels in einer Tango-Facebook-Gruppe:
„Tango am Dienstag - heute freuen wir uns wahnsinnig auf Dj (…), der uns sicher über das trübe Wetter hinweg hillt!“
„Da wird es hoffentlich zum eine ‚Überraschung‘ geben“.
„Wusstet ihr schon … dass die Die Hängenden Gärten der FÜNF HÖFE bis heute die größte Indoor-Pflanzeninstallation dieser Art auf der ganzen Welt sind?“
„Komm zum Tanzen und Genießen die Musik“
„die besten Djs, die gerne moderne und traditionelle Tangos gerne mischen, auch Neo-Tango. Komm zum üben!!“
„Ich werde euch all die Geheimnisse erzählen, die ich von meinem Tanzen wissen möchte!“
„Es war für uns (…) richtig grandios und die schönste Film, die in langer Zeit gesehen haben!“
„Alles, was du wissen muss, um eine gute Verbindund mit dein Partner, eine gute Haltung, Umarmung, Drehungen, Gleichgewicht, Musikalische Fähigkeiten und Verziherungen !!“
„Zwei großartiges Tango-musikern aus Buenos Aires zum erstes Mal im München zusammen!“
Quelle: https://www.facebook.com/groups/13265391185
Man komme mir bitte nicht damit, dass Tangoveranstalter oft keine Deutsch-Muttersprachler sind! Die Herrschaften leben meist schon Jahrzehnte bei uns und könnten ja auch jemand mit guten Sprachkenntnissen bitten, kurz das Zeug durchzulesen, das sie veröffentlichen wollen.
Zu welcher Lesekompetenz werden es die Kinder dieser Leute bringen?
Als Blogger macht man immer wieder die Erfahrung, dass viele Zeitgenossen die Sachtext-Form „Kommentar“ überfordert. Statt sich zunächst mit dem Inhalt eines Artikels zu beschäftigen, haut man nach Überfliegen des Textes ein, zwei Assoziationen heraus
Ein aktuelles Beispiel:
„Tango hat mich (noch) mehr in die Welt
geführt, als es meine Reiselust bereits getan hat. Auch ist Tango für mich noch
immer Tango-Wonderland - es fasziniert mich, wie sich zwei Menschen, die sich
u.U. gerade erst begegnen, so innig aufeinander einlassen und in Harmonie
zusammen bewegen (hier bitte keine Sex-Sprüche, liebe Leser und potentielle
Kommentatoren, diese pubertäre Phase haben wir doch lange hinter uns gelassen).
Tango ist mit Offenheit und Respekt verbunden, und das liebe ich daran.
Und doch, eine Milonga ist kurz, wir begegnen unseren liebgewonnenen
Tänzerinnen und übersehen dabei andere - bei der nächsten Milonga blicke ich
auch in die Augen mir unbekannter Tänzerinnen, versprochen.“
Na ja, ist doch nett – hat aber mit dem Thema meines Artikels („Älterwerden im Tango“) nichts zu tun!
Gerne arbeitet man sich auch an einem themenfernen Randaspekt ab:
„Nun, leider ist Dir wieder mal ein Fehler
unterlaufen.
Diesmal nicht im Spanischen (das Du ja nach eigenem Bekunden nicht beherrschst)
sondern im Englischen.
Melina schreibt :'In Argentina we’d be called maestros of the maestros'.
Du hingegen zitierst sie indirekt mit dem Satz: 'In Argentinien würde man sie
und ihren Partner inzwischen als Maestros de Maestros bezeichnen.'
Da scheint es doch stark an den Kenntnissen des Angelsächsischen im Hause Riedl
zu hapern:
Melinas Aussage sollte man übersetzen als 'In Argentinien würde man uns Maestros
der Maestros nennen'.
Melina drückt also eine Erwartung aus, und sie behauptet nicht ein Faktum, wie
Du es darstellst.“
Abgesehen davon kapiere ich den hier reklamierten Unterschied immer noch nicht…
Zu einem Artikel über ein Frauen-Tanzpaar und die von ihnen verwendete Musik heißt es:
„Di Sarli kitschig finden, aber Operetten nicht, ist wohl ein ziemlicher Widerspruch.“
Über die Grundaussage könnte man diskutieren. Peinlich ist nur, dass ich weder Carlos Di Sarli persönlich noch dessen Musik „kitschig“ genannt habe. Und über Operetten habe ich in dem Text kein Wort verloren.
In der Fortsetzung ging es dann sogar um Opern:
"Und der Unterschied zwischen Operette und Oper scheint
in der Komplexität der Musik zu liegen. Wohlgemerkt, es gibt auch
komische, also unterhaltsame, Opern, die durchaus erfolgreich sind,
z.B. Don Pasquale von Donizetti. Operetten bedienen eher das Fach der
leichten Muse."
Öfters zeigt man deutlich, dass einem der ganze Artikel schnurz ist. Man möchte mir lediglich mitteilen, dass ich einen an der Waffel habe:
„Haben Sie auch schon einen Termin für eine professionelle Hilfe gebucht? Diese haben Sie bitter nötig - zu Ihrem Wohl und dem Ihres Umfeldes.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/04/boris-hat-das-bose-wort-gesagt.html
Na gut – musste ja mal gesagt werden…
Zum Schluss noch ein Beispiel für Fortgeschrittene. In einer Mail wurde ich heute zu einer Milonga mit einer bestimmten DJane eingeladen. Die Schreiberin formuliert dazu diesen Satz:
„Ich kenne (…) aus der Szene als Tänzerin und habe oft gehört, dass sie tolle Musik macht.“
Na, immerhin fehlerfreies Deutsch, oder? Das Textverständnis wird dennoch unnötig erschwert:
War nun die Auflegerin die Tänzerin oder die Autorin der Einladung? Und hat diese von anderen gehört, dass sie tolle Musik spiele – oder war es das eigene Hörerlebnis?
Deutsche Sprache, schwere Sprache…
Du weißt doch genau, was ich meinte: Du hast Dich mal als Operetten-Liebhaber bezeichnet. Gleichzeitig bezeichnest Du das Stück von DiSarli im Video als "Schnulze, für die meisten ein Synonym von "Kitsch". Seltsam ist doch, dass Du im Tango-Genre die meisten EdO-Stücke als "schrammeligen", langweiligen Kram bezeichnest und für anspruchsvollere Tangos plädierst, während Du diese Ansprüche bei Operetten vermissen lässt: Operetten sind für mich Kitsch wie für Dich die EdO-Tangos.
AntwortenLöschenÜber Geschmäcker lässt sich eben nicht streiten.
Na, dann machen Sie's halt nicht!
LöschenAnsonsten wird das Bemühen, mich in irgendeine Schublade zu verfrachten, nicht gelingen. Ich liebe auch am Tango die Vielfalt. Da darf es gern mal eine Schnulze sein, ebenso wie moderne und kompliziertere Tangomusik. Wenn man sich die vielen Playlists ansieht, die ich schon veröffentlicht habe, sollte sich das erschließen.
Nur wenn ich in einer Tangoshow zeigen möchte, wie gut ich tanzen kann, würde ich mir schon etwas Komplizierteres raussuchen. Darum ging es in meinem Artikel zum "Pilcher-Tango".
Übrigens kann Operettenmusik auch ziemlich anspruchsvoll sein.Ich hatte bei meinen Moderationen die Gelegenheit, zum Beispiel Lehár-Partituren zu bewundern. Die sind von der musikalischen Qualität her vielen Tangostücken weit voraus.