Es ist viel zu kühl

Ich stelle immer wieder fest, wie schwer es ist, heutigen Tangoleuten eine Idee von dem zu vermitteln, was uns einst zu diesem Tanz trieb.

Und das bei Lesern, welche sich gerne in einen Dialog mit mir begeben – also keineswegs ideologisch vernagelt sind. Denn die ignorieren mich eh (oder tun jedenfalls so).

In meinem letzten Artikel stellte ich die Frage, warum Showpaare immer mehr zu „Pilcher-Tangos“ gravitätisch herumsteigen müssen, statt es auf der Piste mal krachen zu lassen.

So richtig positiv wurde meine Kritik nicht aufgenommen:

Na ja, vielleicht sei es ja nur eine Zusammenfassung des gerade Unterrichteten gewesen. Außerdem sehe man ja, dass die beiden mehr könnten, wenn sie nur wollten. Und überdies sei es doch viel schwieriger, langsam zu tanzen. Schnell komme dann von selber. Weniger Erfahrene machten eher hastige, große Schritte.

Am schönsten fand ich die Einlassung, Showpaare sollten keine „Guck mal, was ich kann“-Performance bieten, was eher asozial wirke.

Irgendwas scheine ich da verpasst zu haben: Bislang dachte ich, eine Show bestünde gerade darin, etwas zu zeigen, was die meisten nicht können

Wann wird das erste Vortanzpaar im Tango mit Burka auftreten (statt mit dem üblichen geschlitzten Rock)? So richtig und vorschriftsmäßig introvertiert?

Neulich bot man mir auch Tango-Theorie im Doppelpack“ an. Für mich ein Oxymoron. Grau ist nämlich alle Theorie – entscheidend ist auf der Piste!

Als wir vor fast 24 Jahren mit dem Tango anfingen, galt unsere Beschäftigung keinesfalls den Muskeln, Gelenken und Spiegelneuronen. Und Sehnen suchten wir nicht in der Anatomie, sondern in den Texten und der Musik.

Und die unterschieden wir ganz grob in „groovt wie Drecksau“ und „da hängt der Hund tot überm Zaun“. Und nicht nach den Aufnahmedaten eines Orchesters mit demselben Sänger. So primitiv waren wir!

Tänzerisch haben sich die meisten von uns nach einigen (oft wenig ertragreichen) Kursen auf den Tanzflächen weiterentwickelt: Durch Probieren und Abschauen, oft im Kontakt mit Partnern, welche halt riesige Bewegungstalente waren. Da lernte man öfters in einer Tanda mehr als durch zehn Kursabende.

Das alles stößt heute auf weitgehendes Unverständnis. So hat ein Sportlehrer und Neo-DJ in mehreren Artikeln mit meinen Vorstellungen gnadenlos abgerechnet: Allzu große Hoffnungen auf neue Erkenntnisse hatte ich allerdings eh nicht, denn seit Jahren verkündet Riedl, dass Unterricht eigentlich völlig überflüssig sei, denn man könne alles Nötige auf Milongas bzw. Practicas lernen.“  

https://jochenlueders.de/?p=15695

Klar, Tango ist ein Tanz, welchen man ausschließlich von zertifiziertem Lehrpersonal reingedrückt kriegen muss – nach einem detaillierten Curriculum, quasi als Schulfach. Und dabei ist natürlich streng nach „Richtig“ und „Falsch“ zu bewerten. Wahrscheinlich gibt es dann auch Noten und ein Abschlusszeugnis

Schade, dass dies den Urvätern (und Müttern) des Tango nicht klar war, als sie sich in Hinterhöfen zu den Klängen einer Gitarre und eines geblasenen Kamms bewegten. Was hätte aus ihnen (und dem Tango) werden können!

Als meine Frau und ich 1999 den Tango entdeckten, haben wir beide noch in Vollzeit am Gymnasium unterrichtet. Hätten wir diesen Tanz als Fortsetzung der Schule mit ähnlichen Mitteln erlebt, wären wir schreiend geflüchtet!

Eigeninitiative ist offenbar der heutigen Tango-Population fremd – man macht sich abhängig von dem, was die Tango-Industrie an Produkten feilbietet. Und das Schönste: Man rühmt sich dabei des „einzigartigen Improvisations-Tanzes“ – in der Theorie. Was man allerdings in der Praxis erlebt, ist uniformes Rumgeschiebe. Denn wer will schon „aus der Reihe tanzen“ und eine Exkommunizierung riskieren?

Dabei haben sich allerdings die Methoden der Anspruchs-Verkünder in den letzten Jahren verändert:

 Zu den Hochzeiten des konservativen Rücksturzes reagierte man auf Abweichungen mit wüstem Gepolter. Was da von den Renegaten favorisiert werde, sei gar kein Tango, sondern „Mamborambo“. Modernere Tangomusik bekam den Stempel „untanzbar“ aufgedrückt. Und Verstöße gegen die heilige Tango-Disziplin wurden als Untaten gebrandmarkt, welche schon mal ein Anspucken oder den Rauswurf aus einer Veranstaltung rechtfertigten.

Ich habe ziemlich viel davon persönlich abbekommen. Wider Erwarten konnte man mich nicht abschrecken, sondern dazu motivieren, immer wieder den größten Quatsch dieser Preislage zu veröffentlichen. Öfters hatte ich die Lacher auf meiner Seite.

Heute geht man geschickter vor, indem man Widerspruch schlichtweg ignoriert. Forderte man früher von jedem Veranstalter, die gebotene Musik genauestens zu beschreiben (damit man ihn gegebenenfalls boykottieren konnte), verliert man heute über dieses Thema kaum noch ein Wort: Der DJ, so erfährt man häufig, lege halt „seine schönsten Stücke“ auf. Nur der Kenner ahnt dann, welche…

Man tut so, als sei das zumeist gespielte Musikprogramm schlichtweg „Tango“. Mit dem Subtext: Etwas anderes gibt es gar nicht. Nachfragen in Sachen moderner Tango, gar Piazzolla, werden freundlich weggelächelt: Klar, toller Komponist für konzertante Musik… Freilich „With a Smile on the Face of the Tiger“. Wer zu oft nachfragt oder auffällig tanzt, wird halt zunehmend, auch beim Auffordern, ignoriert. Geschieht alles völlig geräuschlos.

Was bleibt (noch) „lebenden Fossilien“ wie mir? Ich kann nur immer wieder daran erinnern, dass sich Tango nicht durch die Großhirnrinde, sondern mittels darunterliegender Synapsen erschließt.

„There’s no business like show business“ heißt es beim Musical-Komponisten Irving Berlin. Und dabei sollte es kräftig was auf die Augen und Ohren geben – wie bei Ann Miller, wenn sie zu einem Cole Porter-Hit (aus „Kiss me Kate“) über Tische und Bänke geht. Zu hohe Temperaturen, so der für 1953 ziemlich gewagte Text, seien schlecht für die sexuelle Performance:     

It's too darn hot
It's too darn hot
I'd like to sup with my baby tonight
Refill the cup with my baby tonight
I'd like to sup with my baby tonight
Refill the cup with my baby tonight
But I ain't up to my baby tonight
'Cause it's too darn hot

Es ist viel zu heiß

Es ist viel zu heiß

Ich möchte heut Nacht mit meinem Baby schlafen

Die Tasse mit meinem Baby wieder füllen heut Nacht

Ich möchte mit meinem Baby essen heut Nacht

Die Tasse wieder füllen mit meinem Baby heut Nacht

Aber ich habe heute Abend keine Lust auf mein Baby

Weil es viel zu heiß ist

https://www.youtube.com/watch?v=HMCgQoVQGiQ

Ich darf aus meiner Tangoerfahrung ergänzen: Zu kühle Temperaturen vermindern ebenso (auch) die tänzerische Libido!

Kommentare

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