Ja, aber die Violinen…
Normalerweise ist ja in Einladungen zu Milongas von der Musik überhaupt nicht die Rede. Warum auch? Erwartbar legt der DJ eh das übliche Ragout aus der Knister-Epoche auf. Und überhaupt: Was kümmert Tangotänzer die Musik? Na eben!
Gelegentlich gibt es Ausnahmen. So erhalte ich regelmäßig Informationen zur nächsten Veranstaltung von „Tango Lindau“, in denen tatsächlich angekündigt wird, was der „Plattenreiter“ aufzulegen gedenkt. Normalerweise liest sich das ungefähr so:
Bei der kommenden Milonga freuen wir uns auf die Musik von … Sie legt gerne traditionell auf, spielt aber auch Aufnahmen moderner Tangoorchester.
Tja, ich frage mich halt stets, welches Gewicht das „Aber auch“ haben dürfte. Im Lauf der Jahre habe ich mich immer wieder mal von solchen Verheißungen locken lassen und dann festgestellt: Der Anteil modernerer Tangomusik war meist ziemlich gering. In der ersten Hälfte des Abends kam gar nichts, und hinterher nicht viel.
Auf einem Facebook-Forum, in dem sich internationale DJ-Größen (seffaständlich in Inglisch) austauschen, stellte ein Kollege neulich die Gretchenfrage:
„Spielt ihr ein neues Orchester (zum Beispiel: Sexteto Christal, Romantica, La Juan Darienzo) in euren Listen? Und wenn ihr sie spielt... wie oft?“
Vermutlich steht der Frager noch im Entscheidungsprozess – sonst hätte er die Orchester korrekt so geschrieben: „Sexteto Cristal, Orquesta Romantica Milonguera, La Juan D’arienzo“.
Für einen beträchtlichen Teil der Kollegen kommt das überhaupt nicht in Frage.
„Nein, überhaupt nicht.“
„Nein. Ich sehe keinen Grund dafür.“
„Keine Covers. Die Originale sind viel besser.“
„Das einzig gute Orchester ist ein totes Orchester."
„Niemals. Außerdem habe ich die Dateien nicht mal in meiner Sammlung.“
Tja, wenn man sich die Musik gar nicht erst anhört, wird es mit Entscheidungen deutlich einfacher…
„Nö. Ich bleibe bei den Klassikern. Wenn ihr moderne Gruppen wollt, würde ich versuchen, eine Live-Band zu engagieren. Das ist immer spannender!“
Öh, ist es eigentlich eine andere Musik, wenn sie live
statt aus der Konserve erklingt? Aber ich ahne, was der Schreiber meint: Live-Auftritte
von Tangomusikern sind derzeit (nach einer Phase, wo sie gar nichts galten)
schwer angesagt und bringen viele Besucher. Notfalls dürfen die Ensembles
offenbar auch Tangos mit Maultrommel und Kamm intonieren… Hauptsache live! Zwischen den Sets kann man dann ja wieder historische Aufnahmen spielen. Es soll ja irgendwie zusammenpassen...
Andere DJs geben zu, schon mal fallweise – wenn es Veranstalter wünschen und es das Publikum nicht empört – gaanz selten auch moderne Gruppen aufzulegen:
„Ja, eine oder zwei Tandas. Normalerweise in der zweiten Hälfte.“
„Selten, es sei denn, die Organisatoren bitten darum, es zu spielen.“
„Ich spiele gelegentlich eine moderne Orchestertanda an einem Abend.“
„Sehr, sehr selten. Aber wenn es den Anschein hat, dass das Tanzpublikum danach verlangt, würde ich welche spielen.“
Na, mehr Konjunktiv geht doch nicht, oder?
Ich finde es hochinteressant, was eine Münchner Tangolehrerin dazu sagt:
„Kommt darauf an, was der Veranstalter für seine Milonga will...
Wenn es keine Vorgaben gibt, hängt es von der Energie der Leute ab, ob sie lustig, jung und energiegeladen sind, bis zu einem pro Set... aber das hängt ganz von der Veranstaltung ab.
Und vom Standpunkt der Tänzer aus gesehen: Ich liebe es, zu den neuen Orchestern zu tanzen, und ich denke, es ist ein bisschen beschränkt, sie auf jeden Fall auszuschließen... Ich denke, ich würde nicht zu einer Veranstaltung gehen, die sagt: auf jeden Fall keine neuen Orchester...
Und von der Seite der Lehrer aus gesehen: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Klangqualität bei den neuen Orchestern in der Regel sehr gut ist, den Leuten fällt es viel leichter, mit Musikalität zu tanzen, da sie besser auf den Takt und die Melodie hören. Gute Musikalität führt zu glücklichen Folgenden, führt zu glücklichen Führenden, führt zu glücklichen Menschen in der Milonga...“
Ich glaube, die Autorin beschreibt sehr schön das Dilemma: Man spürt selber, dass neuere Tangomusik mehr Energie hat, mehr Lust aufs Tanzen macht. Wenn da nur nicht die Veranstalter und ein Teil der Gäste wären, die sich bei zu erkennbar Modernem sofort beschweren…
Ein Kollege spricht diese Wahrheit unverblümt aus:
„Wird das Publikum es zu schätzen wissen? Nicht alle Zuhörer wollen zu einem lebenden Orchester tanzen, egal wie gut es ist.“
Na eben: So lange ein Musiker noch lebt, wird er nie die Qualität einer Schellackplatte erreichen!
Wenn da halt nicht die Tanzenden wären, die oft einen verwässerten Geschmack haben:
„Es gibt ein bestimmtes Orchester, nach dem ich oft gefragt werde. Ich mag es nicht (verwässert und es klingt alles gleich), aber das Publikum, vor allem die neueren Tänzer, lieben es. Wenn es die Leute für den Tango begeistert, bin ich voll dafür. Viele brauchen Zeit, bis sie den traditionellen Tango lieben lernen.“
Ja klar, aber dann muss man ihnen die feuchten Ohren halt jahrelang mit historischem Geplürre zupappen! Irgendwann sind sie schon konditioniert.
Mich erinnert das Ganze an die „staatlich gepüften Schallpaltten-Unterhalter" der einstigen DDR. Die machten sich auch verdächtig, wenn sie nicht pflichtgemäß einen russischen Balalaika-Troubadour oder die „Olga von der Wolga" auflegten, sondern Beatles und Stones. Viele von denen waren aber mutiger: Was sie auf ihre einzureichenden Playlists schrieben, hatte mit dem wirklich Gespielten wenig Ähnlichkeit. Sonst, so ihr Bekenntnis, wären ihnen die Gäste davongelaufen.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/08/staatlich-geprufter-tango-unterhalter.html
Glücklicherweise verfügen traditionelle DJs über ein feines Gehör, dem man nicht zu nahetreten darf. Eine Münchner DJane hat es mit den Violinen:
„Ich meine, ich habe sie zum ersten Mal an einem kalten Wintertag auf der Straße in San Telmo gehört. Ich dachte, dass ihre Finger wegen der Kälte steif sind, und kaufte die CD. Und dann habe ich gemerkt, dass es auf der CD die gleiche „Fervor de Buenos Aires“ ist, die ich vom Stil her mag, aber die Geigen ..."
Man sollte nur bedenken, dass bei Kälte nicht nur die Finger steif werden, sondern auch die Batterie-Leistung des Hörgeräts abnimmt!
Und überhaupt:
„Die modernen Orchester, die einfach die Arrangements der Klassiker kopieren (La Juan D'Arienzo, Sans Soussi, Color Tango usw.), sind für mich nicht so interessant. Sie sind entweder eine perfekte Kopie oder etwas schlechter in ihrer Leistung - in beiden Fällen ziehe ich es vor, die Originale zu spielen, da wir jetzt in den meisten Fällen gute Übertragungen haben.“
Übrigens nennt sich die Gruppe „Orquesta Típica Sans Souci“. Wäre wirklich vorteilhaft, sich mal genauer mit moderner Tangomusik zu beschäftigen. Immerhin gibt es die Gruppe schon seit 1998. Und nein, viele zeitgenössische Ensembles spielen durchaus auch Neukompositionen!
Quelle:
https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum/permalink/2407306386103215
Nun, die Dame lädt gerade zum Workshop „Rhythmen im Tango“ ein und schreibt unter anderem:
„Dabei geht es nicht darum, jeden Akzent mit den Füßen nachzuzeichnen; statt sich damit zu stressen, üben wir, entspannt die Rhythmen zu genießen und frei zu wählen, wie wir uns dazu bewegen möchten. (…) Und wir üben, auch mal souverän langsame Schritte zu schnellen Noten zu tanzen.“
https://www.facebook.com/events/3495935400724243?ref=newsfeed
Na gut, wer mag oder nicht anders kann, soll halt einen Großteil der Musik auf dem Parkett liegen lassen! Es gäbe jedoch auch genug Tangoleute, die gerade daran Spaß haben, rhythmische Kapriolen zu vertanzen. Aber die sind für die Aufleger wohl nicht relevant.
Und was machen wir jetzt mit der wegen ihrer Violinen geschmähten Gruppe „Fervor de Buenos Aires“? Wie der Name schon sagt, spielen sie halt sehr inbrünstig. Aber dennoch eignen sie sich offenbar zu korrektem Tanzen in Reih und Glied. Das sollte traditionelle DJs doch beruhigen:
https://www.youtube.com/watch?v=wr1V7Iv7cmM
Kommentare
Kommentar veröffentlichen