Bekenntnisse eines Geisterfahrers
Vorwärts, und nie
vergessen
Worin unsre Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen
Vorwärts, nicht vergessen
Die Solidarität!
(Bert Brecht, Hanns Eisler, 1932)
Seit 1999 tanze ich nun Tango, trotz meines vorgerückten Alters oft immer noch mehrmals die Woche. Ich habe jahrelang Milongas veranstaltet und Musik aufgelegt. In insgesamt drei Auflagen gibt es ein Tangobuch von mir, und seit 2013 führe ich ein Blog, in dem man im Moment die Auswahl zwischen 1575 Beiträgen mit insgesamt 4235 Kommentaren hat. Vorgestern gab es mit 1483 Aufrufen den höchsten Wert seit Bestehen von „Gerhards Tango-Report“.
Legt man die üblichen Karrieren zugrunde, hätte ich mich seit mindestens 15 Jahren als „Tangolehrer“ bezeichnen können, würde seither mit durchschnittlichem Erfolg Tangokurse geben und Tangoevents organisieren. Ich würde durch halb Europa reisen und auf Festivals als „VIP“ herumgereicht, wäre ein Mittelpunkt der „Bussi-Bussi-Gesellschaft“. Meine entsprechenden Ankündigungen auf Facebook wären mit „Likes“ überschwemmt.
Auf all das habe ich verzichtet. Weil ich es nicht fertigbrachte, eine Entwicklung unseres Tanzes gutzuheißen, die für mich einen Rücksturz in die Musik, die überlebten Verhaltensweisen und Regeln aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeuten. Immer wieder schreibe ich gegen die unerträgliche Langeweile an, die sich seit Jahren flächendeckend auf den Veranstaltungen ausbreitet, die immer stärkere Hierarchisierung, die Abwertung weiblicher Gäste, die man oft ignoriert, ja erst gar nicht auf die Milongas lässt.
Das alles hat – ich habe nichts anderes erwartet – eine tangoübliche Karriere verhindert. Mehr noch: Ich gelte in der Szene als spinnerter Außenseiter, den man am besten ignorieren sollte. Wer das nicht schafft, ist aufgefordert, mir gelegentlich Herabsetzungen und Beschimpfungen zukommen zu lassen. So attestiert mir ein bekannter Tangolehrer seit Jahren, dass ich vom Tango oder gar Tanzen keine Ahnung habe.
Kostprobe aus dem Jahr 2022:
„Es ist eine Frage der Hartnäckigkeit: So lange Sie glauben, durch ständiges Wiederholen, durch gebetsmühlenartiges Beharren, dass Piazzolla zum Grundrepertoire einer Milonga zählen sollte, und obendrein naiv daran glauben, dass speziell Ihr Blog das auch durch dieses Beharren bewirken könnte, so lange kann ich darauf bestehen, dass Sie aufhören, Tango-Artikel zu schreiben.“
Nochmal im Klartext: Man fordert, dass ich mit dem Schreiben aufhöre…
Aber es geht noch schlimmer – aktuelles Beispiel eines anderen Autors:
„Vorsicht (…),
der Herr Riedl duldet keine kritischen Fragen in seinem Klassenraum. Er ist so
wütend, dass er nicht mal mehr richtiges Deutsch beherrscht. Gleich wirft er
mit seinem Schlüssel und du musst nachher zum Rektor.“
Aber es gibt auch Leute, denen meine Texte gefallen:
„Heute geht ein großes Lob an die Berichterstattung ‚Boris Palmer‘. Ich sehe es genauso. (…) Mein Tag beginnt mit guter Laune. Danke!“
„Wieder ein super Artikel. Ich danke vor allem für Ihr Vorbild im Freundlichbleiben trotz harscher Kritik an Ihren Artikeln zuweilen. Sie schreiben toll, ich liebe Ihren Stil, und Sie gehen darüber hinaus gentleman-like mit den Kommentaren um. Bitte unbedingt weiter so, gerne schneide ich mir eine Scheibe ab.“
Der Unterschied ist nur:
Zuschriften dieser Art erhalte ich selten öffentlich, sondern als private Mail oder Facebook-Nachricht.
Mich als reale Person – natürlich anonym – anzupöbeln, ist somit voll cool. Verteidigt werde ich höchstens hinter vorgehaltener Hand.
Allein das zeigt bereits, dass es in der Tangoszene hinten und vorne nicht stimmt. Und die Angst, mir mal öffentlich Recht zu geben, ist durchaus verständlich: „Du tanzt mit den Falschen“, erhielt einmal eine Tänzerin zur Antwort, als sie ein Szeneoberhaupt fragte, warum sie so wenig aufgefordert würde. Dem Falschen zu unterstützen dürfte noch schlimmere Folgen haben.
Na gut, dann bin ich halt der alleinige Bösewicht. Ich befand mich – lange vor meiner Tangozeit – immer wieder in Situationen, wo ich heftig attackiert wurde, und sich mein Umfeld hurtig in die Büsche verzog. Daher weiß ich: Man kann fast allein auf der richtigen Spur sein – und die große Mehrzahl auf dem falschen Weg. Und auf Opportunisten, die erst den Finger in die Luft strecken, bevor sie eine Meinung haben, lege ich noch viel weniger Wert als auf überzeugte Gegner.
Der Blogger Cassiel hat mich einmal den „Geisterfahrer im Tango“ genannt. Irgendwie gefällt mir der Vergleich. Ich bezweifle allerdings, dass die Verkehrsdichte auf den jeweiligen Spuren etwas über die Richtigkeit der Route aussagt. Wobei man in diesem Fall eher von „Geisterparkern“ sprechen sollte…
Kürzlich durften wir uns das Lamento eines wirklich begabten Tango-DJs anhören, der sehr vielfältig und in wunderbarer Kombination auflegt. Er wisse allmählich nicht mehr, wie er es richtig machen solle: Spiele er eher simple Musik, seien die Anhänger anspruchsvollerer Klänge enttäuscht. Versuche er es mit komplizierteren Stücken – zumal Piazzolla – häuften sich die Beschwerden über „Untanzbares“.
Wir haben ihm geraten, sich auf seinen individuellen Geschmack zu verlassen. Das mache nämlich sein Programm so einzigartig. Sicherlich würden dann etliche Leute wegbleiben. Wenn es sich aber den „Freaks“ herumspreche, welche Musik da liefe, würde die auch weite Anfahrten in Kauf nehmen, um dem sattsam bekannten Tradi- oder Loungegedröhne zu entkommen, wo man Woche für Woche zur selben Musik das Gleiche tanzt. Dazu bracht man aber Mut und einen langen Atem.
Und ich muss hinzufügen: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Ich hätte mir gewünscht, ihn öfters in Pörnbach zu sehen. Aber da sieht der Zusammenhalt eher mau aus.
Ich habe neulich an die 40 Einladungen zu unserem Tangokonzert am Samstag an Freunde und Bekannte aus der Szene verschickt. Außer einer einzigen Person hat sich niemand angemeldet, ja nicht einmal geantwortet. Dafür nehmen ungefähr 40 unserer Bekannten und Freunde aus der Holledau teil. Allesamt keine Aficionados, sondern einfach Menschen, denen die Musik von Karin und Bettina gefällt. Auch das sagt viel über die Zustände im Tango aus.
Für uns ist Solidarität mehr als nur ein Wort. Daher werden wir weiterhin interessante Veranstaltungen mit abwechslungsreicher Musik besuchen. Egal, ob da etwas zurückkommt. Erwähnt wollte ich es aber einmal haben.
Besser wirkte es, wenn es auch im Tango gegenseitige Unterstützung gäbe. Brechts „Solidaritätslied“ gibt hierzu Auskunft:
Wollen wir es schnell erreichen
Brauchen wir noch dich und dich.
Wer im Stich lässt seinesgleichen
Lässt ja nur sich selbst im Stich.
Unsre Herrn, wer sie auch seien
Sehen unsre Zwietracht gern.
Denn solang sie uns entzweien
Bleiben sie doch unsre Herrn.
https://erinnerungsort.de/lied/vorwaerts-und-nicht-vergessen-solidaritaetslied/
https://www.youtube.com/watch?v=7TAB-U71kiY
P.S. Fast hätt ich's vergessen: Doch, es gibt auch ein paar treue Fans. Danke - vor allem für euch schreibe ich!
Bitte lass uns weiter GEISTERFAHREN!
AntwortenLöschenSolidarische Grüße von Herzen
Manu
Das machen wir, liebe Manu!
LöschenHerzlichen Dank!