Tango als „Life-Musik“?
Niemand weiß besser als ich, dass man beim Tango nicht immer gewinnen kann. Meine größte Pleite erlebte ich vor zirka 15 Jahren, als wir eine größere Silvester-Milonga veranstalteten. In meinem Wahn dachte ich mir ein „originelles“ Tanzspiel aus:
Nach Geschlechtern getrennt durften die Gäste aus zwei Lostöpfen Zettel ziehen, auf denen jeweils ein halber Tangotitel stand. Leider habe ich die Beispiele nicht archiviert – es waren aber Stücke, die man auf den Milongas immer wieder hört.
Bei den Damen stand auf den „Losen“ also beispielsweise:
mía / Cabeza / Muchachos / A media / Blanca / y nada mas / Alma / ciego / Lágrimas / Yvonne / Milonga / Flor / Romance / de Cielo / Organito
Die Herren bekamen entsprechend zu lesen:
y Sonrisas / Madame / sentimental / Pobre / de Barrio / Pedacito / Gallo / Desde el / de la Tarde / Por una / Luz / Bahía / Soñar / Vida / Adiós
Die Idee war natürlich, dass sich so nach dem Zufallsprinzip Paare bilden sollten. Ich hätte dann eine Tanzrunde mit den Walzern dieser Rätselaufgabe gespielt.
Das traurige Ergebnis: Es fand sich – auch noch nach einer Viertelstunde der Irrungen und Wirrungen – kein einziges Paar! Erst als ich die Lösungen vorlas, geriet man leicht genervt zusammen.
Stimmung!
Nochmal zum Mitschreiben: Es handelte sich ausschließlich um Titel aus dem „Goldenen Zeitalter“, welche die Aufleger rauf und runter abnudeln! Und obwohl ich damals auch noch nicht den großen Überblick über die traditionelle Tangomusik hatte, waren sie mir bestens bekannt.
Liebe Leserinnen und Leser,
hätten Sie’s gewusst? Zur Kontrolle findet man die Lösungen am Schluss des Artikels. Und wer’s nicht glaubt: Kopieren Sie doch meine Rätselaufgabe und legen Sie diese mal Tangobekannten vor – oder falls Sie selber eine Milonga veranstalten: Organisieren Sie doch ein derart nettes Tanzspiel – Ihr Milonga-Abend wird zum unvergesslichen Erlebnis!
Auf die zu erwartende Nachfrage: Nein, man tanzt nicht besser, wenn man den Titel eines gespielten Stücks kennt – sonst müssten ja DJs allesamt Traumtänzer(innen) sein! Allerdings weiß ich nicht, ob diese „Experten“ Tangoaufnahmen ohne Zuhilfenahme ihres Laptops zuordnen könnten. Vor Jahren kam ich nicht auf den Namen eines häufig aufgelegten Stücks. Zwischen zwei Tänzen riskierte ich einen Blick auf die Hülle der (damals noch) gerade laufenden CD. Da stand: „Tangos mittelschnell“…
Ich meine aber: Wer oft – auch zu Hause – Tangomusik
hört, kriegt ja auch die Titel der Aufnahmen immer wieder mit und merkt sie
sich irgendwann. Und diese selbstständige Beschäftigung mit den
Tangoklängen ist eine wichtige Voraussetzung für besseres Tanzen. Sorry, meine Damen: Geht auch zu Hause und ohne Tanzpartner! Ausreden also zwecklos!
Wie ich auf den Tanzflächen immer wieder beobachte, tun das wohl die Wenigsten. Musik ist halt, was der DJ auflegt, der wird schon wissen, was er tut! Und so lange es halbwegs vertraut und übersichtlich klingt – ob nun die alten Aufnahmen oder modernes Lounge-Gewaber – dann passt das schon. Die Musik erscheint im Bewusstsein erst ab den ersten Tangoschritten. Nur: Dann ist es längst zu spät!
Meine Vermutung ist: Viele in der Tangoszene verfügen über ein höchst bescheidenes musikalisches Empfinden. Sonst könnte es doch nicht sein, dass man eine solche Aufnahme vorzieht, obwohl es musikalisch und tänzerisch weit Besseres gäbe:
https://www.youtube.com/watch?v=rNVK5gMa3gU
Das hier zum Beispiel:
https://www.youtube.com/watch?v=oC9AgVNanMA
Warum rennen dann Leute mit geringer musikalischer Begabung zum Tango? Ach, da gibt es viele Gründe: sozialer Anschluss, naher Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht, Erlebniswert, modische Herausforderungen, Fingerfood, Tango-Urlaub…
Darf man gerne – nur sollte man mich dann nicht mit „Musikantenstadel-Tangos“ quälen!
Neulich bot auf einer Milonga das auftretende Ensemble Piazzollas „Adiós Nonino". Das war für etliche Gäste aber kein Grund, das Gequatsche einzustellen und bei dieser Traummelodie mal die Ohren aufzusperren. Irgendwo im Hirn fehlen offenbar die Synapsen zum Musikzentrum...
Kürzlich hat mir ein Kommentator sprachliche Ahnungslosigkeit attestiert, da ich den Tangotitel „Mí Buenos Aires querido“ abgekürzt als „Mí Buenos Aires“ zitiert hatte. Was wäre ich froh, wenn das die einzigen Probleme in der Szene wären!
Und erst heute erreichte mich eine Zuschrift mit der Frage, warum ich meinen „leiser:innen“ den Eindruck vermittle, „alles besser zu machen als die anderen“. Behaupte ich doch gar nicht – ich mach’s nur nicht ganz so schlecht!
Besonders erregte sich der Schreiber über meine angebliche Behauptung, „bessere Life-Musik“ zu bieten. Da hat er in seiner Einfalt sowas von Recht:
Tango zur „Musik des Lebens“ machen – das wär’s doch!
Und hier die Auflösung des obigen Rätsels:
Vida mía / Por una Cabeza / Adiós Muchachos / A media Luz / Bahía Blanca / Desde el Alma / Gallo Ciego / Lágrimas y Sonrisas / Madame Yvonne / Milonga sentimental / Pobre Flor / Romance de Barrio / Pedacito de Cielo / Organito de la Tarde / Soñar y nada mas
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