Ein Magnet der Selbstgerechten

„Alles ist richtig, auch das Gegenteil. Nur: Zwar ... aber – das ist nie richtig.“ (Kurt Tucholsky: „Gruß nach vorn“)

Als ich vor zwei Tagen einen Artikel über den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer schrieb, ahnte ich nicht, wie schnell sich die Affäre zuspitzen würde: Nun hat der Gescholtene eine „Auszeit“ angekündigt, in der er sich professionelle Hilfe holen werde. Weiterhin trat er gestern aus der grünen Partei aus und ließ mitteilen, das er derzeit erkrankt sei.

Ein (selbstverständlich) anonymer Kommentator petzte mir die neue Entwicklung umgehend. Ich war allerdings schon selber dabei, meinen Artikel mit einem „Edit“ zu ergänzen.

„Wenn ich mich zu Unrecht angegriffen fühle und spontan reagiere, wehre ich mich in einer Weise, die alles nur schlimmer macht“, schreibt Palmer. „Die Erwähnung des Judensterns war falsch und völlig unangemessen.“

Nicht alle Politiker geben Fehler so schnell und unumwunden zu.

In den Medien findet nun der große Aufmarsch der Moralprediger statt. So schreibt die FAZ:

„Dass Palmers Wortwahl provozierend und be­leidigend war, ist unbestritten. Rassistische Äußerungen noch vor dem Be­treten einer Veranstaltung zu ma­chen, die schon im Vorfeld von Kri­tikern als rassistisch gebrandmarkt worden war, ist allerdings an Dummheit nicht zu überbieten. (…) Scheinbar gefällt sich Palmer in der Rolle des Enfant terrible mittlerweile so gut, dass er auf keinen Schlagabtausch verzichten möchte.

https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/boris-palmer-hat-dem-anliegen-der-migrationskonferenz-einen-baerendienst-erwiesen-18861040.html

Beim Südwestrundfunk klingt es ähnlich:

„Ein ganz anderes Bild von sich zeigt Palmer aber seit vielen Jahren auf Facebook. Er hat die Plattform mehr oder weniger als seinen Hauskanal genutzt und dort für Diskussionen gesorgt. (…) Palmer hat Maß und Mitte verloren, er fährt schnell aus der Haut und hat sich nicht im Griff.

Da kann seine Politik noch so klug und nachhaltig sein, für ein wichtiges Amt in der Öffentlichkeit ist Augenmaß mindestens genauso wichtig. Das scheint ihm abhandengekommen zu sein. Er hat die Spur komplett verloren. Damit hat er am Ende vielleicht sogar dem Ansehen seiner Stadt Tübingen mehr geschadet, als er ihr noch nützen kann.“

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/kommentar-boris-palmer-austritt-100.html

Ein wenig relativiert immerhin heute die Süddeutsche Zeitung:

„Ein Twitter-Video zeigt, wie es eine Gruppe offenkundig auf Eskalation angelegt hatte – aber muss ein OB, ein Debattenprofi also, jede Einladung zur Eskalation schnurstracks annehmen?“ (2.5.23, S. 4)

Und in einem anderen Kommentar des SWR liest man:

„Dennoch finde ich, dass nicht nur Palmer eskaliert ist. Die Debatte hat auch auf der anderen Seite eine Gereiztheit und Tonlage erreicht, die nur noch schwer nachzuvollziehen ist. Das zeigen die Handyvideos der Auseinandersetzung deutlich - mit sich überschlagenden Stimmen und Gebrüll.“

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/palmer-kommentar-judenstern-entgleisung-100.html

Ich finde den Shitstorm, welcher derzeit über Palmer zusammenschlägt, nicht nur einseitig, sondern vor allem selbstgerecht. Es geht in Wahrheit weniger um Palmer, sondern um eine immer mehr verrohende Debattenkultur in diesem Lande.

Ich weiß nicht, ob die Herrschaften der schreibenden Zunft sich schon einmal die Facebook-Seite von Boris Palmer angesehen haben. Ich schon, und zwar öfters.   

Klar, ich würde an seiner Stelle weniger posten – aber die Dreckkübel, welche da seit Jahren über ihn ausgeleert werden, sind abstoßend. Nach meinen Maßstäben würde ich zirka jeden 10. Kommentar löschen und den Urheber sperren. Palmer tut das nicht.

Aber das alles gilt ja nicht nur für den Tübinger OB. Auch brave Kommunalpolitiker(innen), die sich überhaupt nicht provokativ äußern, werden serienweise mit Hassmails überzogen, in manchen Fällen auch körperlich attackiert. Politiker wie Karl Lauterbach benötigen rund um die Uhr Polizeischutz, da man droht, sie zu ermorden oder ihre Kinder zu entführen. Auch Palmer kennt solche Situationen.

Kein Wunder, dass ehrenamtliche Bürgermeister lieber zurücktreten, statt sich diesen Wahnsinn weiterhin anzutun!

Was studieren eigentlich solche Herrschaften wie die vor der Frankfurter Uni? Denen sind doch die elementarsten Grundbegriffe des politischen Diskurses völlig fremd! Wahrscheinlich 17 Semester Identitätspolitik und Rassismuslehre…

Kann sich jemand von den hochmögenden Kritikern vorstellen, was es mit einem Menschen wie Boris Palmer macht, wenn er völlig sinnfrei als „Nazi“ beschimpft wird? Welche Bilder da in ihm aufsteigen? Die von Neonazis geschändeten Gräber seiner Vorfahren, sein Vater in KZ-Kluft und mit Judenstern, der Sohn, welcher bei einem Gefängnisbesuch die Hand an eine Panzerglasscheibe hält, hinter der sein Vater sitzt, „den man nur zu vergasen vergessen hat“, wie sich der Sohn auf dem Schulhof einst anhören musste.

„Eine Welt stinkt auf“, schrieb Tucholsky einmal.

Ja, klar, dass muss man als „Debattenprofi“ kalt weglächeln… vor allem, wenn man kein Herz hat.

Ich meine, Boris Palmer ist weniger ein Provokateur als ein Magnet, an dem sich die Selbstgerechten sammeln: Menschen, die ihn wegen seines glitzernden Intellekts, seiner logischen Stringenz hassen.

Ein wenig kann ich ihm das nachfühlen, wenn mir mehrfach wöchentlich irgendein Hirni seine geistigen Blähungen in die Kommentarspalte trötet. In der Regel kann ich das sachlich nehmen und mit einem Klick in die Spam-Abteilung befördern. Selten werde ich eine Spur gröber.

Ich gebe nur zu bedenken: Bei jedem Menschen gibt es wunde Stellen, wo es richtig wehtut. Bei mir sind das bestimmte Pädagogen. In meiner eigenen Schulzeit lernte ich eine Menge beknackter Lehrer kennen – die größten Trottel allerdings unterrichteten Sport.

Und als hochaufgeschossener, schlaksiger Knabe mit schlechter Haltung, einer ausgeprägten Vertigo sowie guten Noten ist man natürlich das ideale Ziel maskulin-pitralon-parfümierter Sprüche. „Lass dich doch zum Mädchen umoperieren“, hörte ich einmal von einem pädagogischen Ausnahmetalent, als ich mal wieder die Leiter nicht hochkam, weil sich unter mir alles drehte.

Wenn mir dann, 60 Jahre später, ein Sportlehrer magnesiaduftend attestiert, ich hätte vom Tangounterricht und vom Tanzen keine Ahnung, muss ich mich sehr zusammennehmen, nicht ausfallend zu werden.

Daher wünsche ich Boris Palmer, dass er in seiner Auszeit Mechanismen entwickelt, sich weniger provozieren zu lassen. Um dann mit kühler Sachlichkeit manchen seiner Gegner explizit darzulegen, welche Deppen sie sind. Natürlich, ohne das Wort auszusprechen!

Zum Tübinger OB gehen momentan Promis aller Art auf Abstand. Auch sein Vertrauter und Anwalt Rezzo Schlauch hatte nichts Besseres zu tun, als sofort die Presse wissen zu lassen, wie sehr er sich privat, politisch und juristisch von ihm distanziere.

Einzig sein Ministerpräsident Winfried Kretschmann ließ ihn bei aller Kritik wissen, er sei mit Palmer politisch und persönlich befreundet – „und das bleibe ich auch“. Welch ein aufrechter Mann!

https://www.fr.de/politik/boris-palmer-gruenen-austritt-n-wort-judenstern-rassismus-holocaust-antisemitismus-tuebingen-92247943.html

Meine Sympathie, so unwichtig sie ist, wird der Sohn des „Remstal-Rebellen“ ebenfalls nicht verlieren. Tucholsky hätte geschrieben: „wegen Anstand“.

Unkaputtbar * www.tangofish.de

Kommentare

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