Tanze ich rücksichtslos?
Diese
Frage dürfte im Tango Premiere
feiern: Ein Tanguero erkundigt sich öffentlich, ob man ihn für einen „rücksichtslosen
Tangotänzer“ hält! So geschehen gestern auf meiner FB-Lieblingsseite „Tango München“. Milko Tansek schreibt dazu unter anderem:
„Ich frage das jetzt
einfach mal in diese Runde rein, weil mich interessanterweise nur in München
Veranstalter darauf ansprechen und um Rücksichtnahme bitten, nachdem sich
anscheinend Tangotänzer bei ihnen über mich beschweren. (…) Deswegen also raus
mit der Sprache. Es gefällt mir nämlich überhaupt nicht, wenn die Veranstalter
dazu genötigt werden, mich zu tadeln, weil Mensch es nicht im Kreuz hat, mich
anzusprechen, falls ich doch einmal kollisionsgefährdend unterwegs sein sollte.“
Von
solchen Veranstalter-Interventionen
auf Münchner Milongas höre ich immer wieder – sogar von speziell hierzu
beauftragten „Aufpassern“. Und was die selber nicht wahrnehmen, wird ihnen
offenbar von Gästen anvertraut,
denen der Tanzstil eines Kollegen missfällt.
Ich
finde es ein Armutszeugnis, dass ein Tänzer glaubt, eine solche Frage öffentlich stellen zu müssen. Da
sollte es doch einige Freunde und Bekannte geben, mit denen man solche Themen
einmal erörtern kann. Aber das wirft ein Schlaglicht auf eine „Bussi
Bussi-Szene“, die in Wahrheit eher einem Haifischbecken
gleicht: Man lässt lieber abkanzeln.
So
meint Joost Rot: „Es ist sehr selten, dass
ich jemand auf der Tanzfläche anspreche. Lieber ist mir, wenn die
Veranstalter*Innen das übernehmen, wenn sie einen Rambo auf der Tanzfläche
entdecken.“
Trüge
man mir als Veranstalter eine solche Klage vor, so würde ich auf jeden Fall
darauf bestehen, dass wir vor der Tür ein Dreiergespräch
führen – der Beschwerdeführer seine Vorhaltungen dem Kritisierten also
persönlich begründet. Eine solche Moderation
würde wohl zu einem besseren Ergebnis führen als die reine „Verwarnung“ eines
Tänzers.
Wie
ein Großteil der sich äußernden Münchner Szene tickt, verwundert mich
inzwischen nicht mehr. Einige Zitate:
Theresa Faus: „Mit Stören meine ich, dass
deine Bewegungen oder die deiner Partnerin in den Raum der inneren Spur
hineinragen. Selbst wenn dabei niemand berührt wird, störst du die Gewissheit
der herankommenden Tänzer, dass sie diesen Raum für ihre nächsten Schritte zur
Verfügung haben. (…)
Hast du schon mal was
von Spuren gehört? Den Tänzern, die in einer Spur tanzen, gehört der Raum vor
ihnen, auch wenn sie da noch nicht angekommen sind. (…)
Ok, es gibt Milongas,
da wird auf die Spuren kein Wert gelegt. Dort kann man es dann so halten wie
bei Autoscooter. Der Giesinger Bahnhof und etliche andere Milongas in München
gehören aber nicht dazu.“
Joost Rot: „Wenn raumgreifend bedeutet, ich tanze in
mehreren Rondas, empfinde ich es als rücksichtslos.
Wenn es bedeutet, jemand tanzt so dicht auf, dass ich pausenlos Angst um meine Unversehrtheit der Achillessehnen, Waden, des Genicks und meines Kopfes habe, dann empfinde ich das auch als rücksichtslos.“
Wenn es bedeutet, jemand tanzt so dicht auf, dass ich pausenlos Angst um meine Unversehrtheit der Achillessehnen, Waden, des Genicks und meines Kopfes habe, dann empfinde ich das auch als rücksichtslos.“
Petra Hengge: „Ich habe neulich eine Tanda mit dir als
Folgende getanzt und empfand das tatsächlich als eher bedrohlich für mich und
für andere Tänzer. Es war wild - das mag ich! - und raumgreifend, und zwar
durchaus über die eigene Ronda hinaus. Als Führende wiederum habe ich großen
Abstand zu dir gehalten, um nicht in Kollisionsgefahr zu geraten und gemerkt,
dass dies andere Führende ebenfalls taten. Das gibt dir die Möglichkeit,
raumgreifend zu tanzen. Rücksichtsvoll fühlt sich das nicht an, nicht für die
anderen. Sicher nicht für mich.“
Letztlich ist es immer wieder ein für mich grundfalsches Konzept, das zu solchen
Unstimmigkeiten führt: Das Parkett wird in Besitzstands-Bereiche
aufgeteilt – der Platz in Tanzrichtung „gehöre“
dann eben einem Paar. Ebenfalls vergisst man nicht, den anderen hochnäsig über „Spuren“
oder „Autoscooter“ zu belehren. Und wenn es dann rumpelt, wird die Schuldfrage diskutiert.
Was mir ebenfalls auffällt: Bei den „Ordnungs-Tänzern“ rumpelt es ziemlich häufig. In den Kommentaren ist von spitzen Ellenbogen im Genick, Zusammenstoß von Köpfen, häufigen
Remplern und Fremdabsatz im
Hosenaufschlag die Rede.
Ich ahne auch, warum: Wer sich auf die „Vorfahrt“ verlässt, lernt es nie, der Situation angepasst zu navigieren. Es
sind tatsächlich zwei grundverschiedene tänzerische
Konzepte, welche hier gegeneinander stehen: Begreift man ein Piste als „geordnetes Chaos“, das sich letztlich
nicht völlig reglementieren lässt, oder als „Aufmarschraum“ mit Polizeikontrolle und Videobeweis? Und geht man zwecks Meditierens zum Guru oder zum Tango?
In solchen Tango-Bereichen dominiert – so scheint es mir –
der berüchtigte „Kampfrentner“, der
mit eingezogenem Kopf plus Hut hinterm Steuer kauert und „Verkehrsrowdys“
disziplinieren möchte – Wackeldackel und Klorolle mit Strickmützchen inklusive.
Am letzten Sonntag fand unsere 61. „Wohnzimmer-Milonga“ statt. Wir waren teilweise mit sieben Paaren
auf knapp 20 Quadratmetern unterwegs. Irgendwelche Unstimmigkeiten wegen der Parkettbenutzung
konnte ich nicht feststellen – ebenso wenig wie bei den 60 Events zuvor. Und ernsthafte Karambolagen jenseits
gelegentlicher Berührungen sah ich keine.
Klar meine ich manchmal, mein Vordermann könnte sich
zügiger nach vorne bewegen – und manch anderem Paar wird wohl meine dynamische
Art, an ihnen vorbei zu kurven, übertrieben erscheinen. Aber: So what? Jeder
Jeck ist bekanntlich anders – und so versuchen wir alle, den anderen ein Tanzen
zu ermöglichen, das ihrem eigenen Stil
möglichst nahe kommt. Und ja – wir machen
lieber Platz, als uns mit „Vorfahrtsregeln“
zu beschäftigen!
Hat Milko Tansek
nun auf seine Fragen nützliche Antworten
erhalten? Selber bezeichnet er sich ja als jemanden, der „einen schwungvollen
und wenn möglich auch raumgreifenden Tango“ pflege, nötigenfalls
aber auch auf einem Quadratmeter tanzen könne.
Ich vermag das nicht zu beurteilen. Was ich allerdings weiß:
Sollten sich unsere Wege auf dem Parkett kreuzen, käme ich mit seiner Tanzweise
zurecht – notfalls, indem ich seine Nähe
meide oder auch mal eine Tanda
aussetze. Das wäre mir die Toleranz
wert.
Wahrscheinlich wäre das aber gar nicht nötig. Ich ahne
dunkel, dass die Realität wohl so ist, wie sie Franz Tanguero – offenbar aus eigener Kenntnis – beschreibt:
„Nun mal eine ehrliche und nützliche Antwort für Dich. Ja, Du brauchst viel Platz
und wechselst auch Spuren. Aber Du bist auch sehr aufmerksam!!! Du hast mich
weniger gestört als manch Anfänger-Stopper. Du umtanzt so einen. Das ist auch
gut so. Denn so bleibt auch eine Ronda im Fluss. Denn es gibt nichts Schlimmeres,
als einen Vals am Platz zu tanzen. Du machst das gut. Bleib weiterhin umsichtig.“
Vorhin erreichte mich dazu ein Kommentar meiner Tangofreundin Annette aus Offenbach:
AntwortenLöschenHallo Gerhard,
das ist wohl ein niemals endendes Thema :-)) Ich weiß nicht mehr, ob ich
vor länger Zeit hier schon mal erzählt habe, dass ich mal an einer
"Elternstunde für den Abschlussball der Kinder" einer Tanzschule
teilgenommen habe? War im Preis inbegriffen, und wir waren neugierig.
Der Lehrer erzählte, dass die Schüler keine Probleme mit dem Ausweichen
auf der Tanzfläche, die seien ja schnell und fit, außerdem sehr locker.
Anders als die betulichen älteren Herrschaften, die eine langsamere
Reaktionszeit und weniger Humor hätten und schneller gestresst seien.
Vor ein paar Jahren habe ich hier ja auch mal einen Gastbeitrag über
Aikido geschrieben, da geht es auch um Paarübungen, Führen und Folgen,
allerdings ist alles schneller, die Matte (Piste) ist voller, und
Rempeleien könnten etwas gefährlicher sein. Daher wird das extra geübt:
den Blick auch im Augenwinkel beachten, flexibel reagieren, Lücken
suchen und dort reingehen, auch erfühlen, was hinter einem passiert (ja,
östliches Zen ... ;-) ). Solche Übungen schaffen ein nettes
Gemeinschaftsgefühl.
LG Annette
Liebe Annette,
AntwortenLöschenvielen Dank für Deine Anmerkungen.
Da stehen sich halt zwei völlig gegensätzliche Sichtweisen auf den Tanz gegenüber:
Den einen macht halt das Abenteuer Spaß, auf der Tanzfläche zu navigieren, anderen auszuweichen und Räume kreativ zu nutzen. Gelegentliche Pannen dabei sieht man locker.
Die andere Fraktion besteht auf festen Spuren und Vorfahrtsregeln, die halt in der Praxis zu großen Komplikationen führen, wenn man die tänzerischen Freiheitsgrade nicht extrem einschränkt.
Ob sich das jemals wieder miteinander vereinen lässt, ist sehr fraglich.
Liebe Grüße
Gerhard