Kontakt-Linsen für Anfänger


Da sich mein Blog ja der Tango-(Über)Lebenshilfe verschrieben hat, möchte ich heute für interessierte Neulinge einmal das Komplizierteste erklären, was einen in unserem Tanz schon vom ersten Milonga-Besuch an erwartet:

Das Aufforderungs-System mittels Mirada und Cabeceo

Da ich in der Tangoszene seit etwa zehn Jahren als „Hardcore-Cabeceo-Verweigerer“ geschmäht werde, dürfen Sie mir glauben: Es gibt kaum einen intimeren Kenner der Materie. Ich rate Ihnen daher, vom Experten zu lernen:

„Mirada“ heißt auf spanisch (der internationalen Tango-Verkehrssprache) einfach „Blick“ (bayrisch: „G'schau"). Gucken dürfen Sie auf einer Milonga natürlich jederzeit und können sich so schon einmal umschauen, mit wem Sie eventuell tanzen wollen (sowie überlegen, ob der oder die es eventuell auch möchte).

Keineswegs aber dürfen Sie jederzeit jemand auffordern, da die meisten Musikprogramme in „Tandas“ (spanisch „Reihen“) eingespielt werden – also Folgen von drei oder vier meist sehr ähnlichen Musikstücken (selbes Orchester, selbe Epoche, vielleicht auch selber Sänger – entweder nur Tango, Vals oder Milonga). Da eine historische Aufnahme im Schnitt zirka dreieinhalb Minuten dauert, können Sie also schon einmal 10 bis 15 Minuten vor sich hin dünsten.

Dann kommt das wichtige Signal: Die „Cortina“ (spanisch „Vorhang“) erklingt, also eine tangoferne Musik von etwa 15 bis 30 Sekunden, die Sie eventuell viel mehr aufs Parkett lockt als das vorherige Geplürre. Aber Achtung: Auf diesen Einspieler dürfen Sie dennoch keinesfalls tanzen! Vielmehr ist er das Signal, die Fläche zu räumen. Auffordern sollten Sie ebenfalls noch nicht, da der Kenner erst einmal wartet, welche neue Musik ihn erwartet, und danach den passenden Partner auswählt. (So generell auf alles und mit jeder tanzen können heute nur noch die Wenigsten.)

Jetzt kommt der große Moment: Ab den ersten Takten der neuen Tanda setzt ein hektischer Blickehagel ein. Nun müssen Sie versuchen, das Objekt Ihrer Begierde möglichst so gezielt anzustarren, dass es sich gemeint fühlt („Mirada“). Als Mann wird Ihnen das leichter fallen, da sie ja daran gewöhnt sind, Frauen mit Blicken zu verfolgen. Theoretisch ist das aber auch die Damen gestattet.

Wenn die Tänzerin Ihren Blick kapiert hat (und nicht ein anderer schneller war), folgt der Cabeceo. Das Wort leitet sich vom spanischen „Cabeza“ ab – zu Deutsch „Nischel“ (also das ovale Ding, das bei Ihnen hoffentlich noch oben sitzt). „Cabeceo“ heißt „ich nicke“ – und genau das tun Sie nun. Sollte bis hierher alles gutgegangen sein, nickt die Dame hoffentlich auch, was Ihre Tanzeinladung bestätigt. Nun dürfen Sie zu ihrem Platz gehen und sie auf das Parkett führen.

Gleich mit dem Tanzen anfangen sollten Sie auch jetzt noch nicht: Der argentinische Kodex verlangt eigentlich, dass Sie die erste Viertel- oder halbe Minute stehend auf dem Parkett verquasseln. Als Themen für einen Smalltalk schlage ich Ihnen Bodenglätte, Raumtemperatur oder DJ vor. Sollte sich aber die Tanzrunde bereits in Bewegung gesetzt haben, erfordert es die Etikette, den Führenden des Paars, vor dem man sich einreihen möchte, per Blickkontakt um Erlaubnis zu bitten. Dieses nennt der Experte „Cabeceo unter Führenden“. 

Die Guckerei hat ihre heftigen Tücken:

Auf nicht wenigen Milongas ist diese Aufforderungsart kein Allgemeingut – Ihr Wunschpartner kapiert folglich gar nicht, wieso Sie ihn unverwandt anstarren und reagiert vielleicht sogar irritiert, abweisend oder unfreundlich. Beobachten Sie also zunächst einmal, ob nicht auch „verbal“ zum Tanz gebeten wird (also mit Hingehen und Fragen). In dem Fall haben Sie Glück gehabt! Versuchen Sie das jedoch auf einer sehr traditionellen Veranstaltung, ist Ihnen ein Korb ziemlich sicher (insbesondere, wenn Sie weiblich sind).

Raum- und Lichtverhältnisse sind auf vielen Milongas für die Blinzel-Aufforderung denkbar ungeeignet. In dem Fall müssen Sie halt Ihren Platz so wählen, dass Sie einigermaßen freie Sicht haben. Keinesfalls dürfen Sie sich jedoch die Sache vereinfachen, indem Sie zum Partner hingehen und ihn von einem Meter Entfernung anschauen. Dieser so genannte „erzwungene Cabeceo“ kommt für Sie einer Exkommunikation in der „traditionellen“ Szene gleich! Auch Umhertigern" als Appetenzverhalten wird nicht gern gesehen.

Sehbehinderungen lässt man in dieser Gemeinschaft nicht gelten. Also mit Brille oder Kontaktlinsen (drum heißen die ja so) arbeiten! Ihre äußere Sehhilfe legen Sie dann am Platz der Dame ab (bitte nicht auf den Stuhl – nicht alle Brillen sind zum Sitzen da). Sollten Sie diesen Ort, blind wie Sie jetzt sind, nachher nicht mehr wiederfinden, lassen Sie sich von der Partnerin (hoffentlich mit besserem Sehvermögen) zum Tisch zurückführen (der begleitete Rückweg ist nach den Reglements eh obligatorisch).

Blicke können nicht nur töten, sondern auch danebengehen: Möglicherweise fühlt sich eine andere Frau davon getroffen als die, mit welcher Sie eigentlich tanzen wollen, möglicherweise auch zwei. Wählen Sie dann die, welche zuerst aufsteht oder Ihnen näher ist – auch, wenn Sie dazu null Lust haben. Bei der anderen sollten Sie es aber später noch einmal versuchen. Es kann allerdings sein, dass die inzwischen eingeschnappt ist und Ihnen einen Korb serviert.

Eventuell werden Sie auch Opfer einer „Cabeceo-Diebin“: Obwohl diese Urschel genau weiß, dass sie nicht gemeint war, kommt sie begeistert angerannt. Hardcore-Traditionalisten ignorieren solche Frauen dennoch und tanzen mit der anderen. Ob Sie dieses Risiko einer Todfeindschaft eingehen wollen, müssen Sie selber entscheiden.

Insgesamt haben Sie sich als Anfänger(in) damit abzufinden, dass Sie wegen Mirada & Cabeceo die meiste Zeit herumsitzen und erfolglos starren, bis die Augen tränen. Gerade auf konservativen Veranstaltungen guckt Sie nämlich in der Regel kein Schwein an respektive ignoriert man Ihre Blicke. Da hilft Ihnen nur der Zeitfaktor. Nach 20 und mehr Besuchen einer solchen Milonga haben Sie eine gewisse Chance, bemerkt zu werden – insbesondere als Frau, welche die orthodoxe Verkleidung beachtet: schwingendes Röckchen oder Kleidchen sowie High Heels. Jung, schlank und etwas doof zu erscheinen ist ebenfalls nicht verkehrt. Männer haben es leichter, da meistens mehr Frauen da sind.

Halbwegs funktionieren wird die Cabeceo-Sache in geschlossenen Veranstaltungen, die man „Encuentros“, manchmal auch „Marathons“ nennt. Dort treffen sich Glaubensgemeinschaften, welche die allfälligen „Códigos“ (also die ganzen Aufforderungs- und Tanzregeln) verinnerlicht haben und streng befolgen.

Da dürfen Sie allerdings nicht einfach so hingehen, sondern müssen sich um eine Einladung bemühen. Möglicherweise haben Sie dazu Fragebögen auszufüllen, bei denen Geschlecht, Tanzpartner, Tangoerfahrungen und bereits besuchte Veranstaltungen dieser Art zu nennen sind. Da man meist für Geschlechter-Balance sorgt, haben Sie es als männlicher Single einigermaßen leicht, als weiblicher dagegen die Arschkarte gezogen. Zudem werden diese Events häufig nicht öffentlich ausgeschrieben – Sie müssen also erstmal jemand kennen, der jemanden kennt… Für Neulinge also so gut wie aussichtslos!

Wenn Ihnen eines Tages die Zulassung gelingt, wartet auf Sie ein Wochenende mit Dauertango und dreistelligen Preisen– mit mindestens fünf Milongas in drei Tagen ist zu rechnen. Und mit Sicherheit wird keine Musikaufnahme jünger als 60 Jahre sein.

Es gibt aber auch manche öffentlichen Milongas, welche sich die Befolgung dieser Regeln aufs Banner geschrieben haben. Dort sitzen sich Männer und Frauen getrennt gegenüber (kennen Sie vielleicht von Puff-Kontakthöfen) und starren einander an. Zur Erleichterung wird zu Beginn einer Tanda das Licht auf Operationssaal-Stärke hochgefahren (falls es nicht eh schon hell genug ist). Dort in Tanzschul-Manier direkt aufzufordern, kann zum sofortigen Rausschmiss führen!

Natürlich können Sie fragen, wieso man heute beim Tango als Mann nicht einfach zur Wunschpartnerin hingehen und sie freundlich auffordern kann, wie wir alle das in der Tanzschule gelernt haben? Und vielleicht sogar umgekehrt?

Dazu muss man wissen, dass sich nach orthodoxer Lesart die Tangueras mental noch am Ende des 19. Jahrhunderts bewegen: Von einem Herrn, mit dem sie vielleicht doch nicht aufs Parkett wollen, direkt gefragt zu werden, triebe die Fräuleins in eine extrem peinliche Situation, da es sich für sie nicht gezieme, Nein zu sagen oder überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Es bliebe ihnen daher nur, ihr Antlitz schamhaft mit einem Fächer zu bedecken und, in ihrem Pompadour nach dem Riechfläschchen angelnd, einen Ohnmachtsanfall zu hinzulegen.

Und als Prinzessin aus bestem Hause sich einem Kavalier, dem man noch nicht vorgestellt wurde, zu nähern und ihn gar zum Tanze zu bitten, würde für das schöne Kind das gesellschaftliche Aus bedeuten: Sie müsste entweder ins Kloster gehen oder, schlimmer noch, einen Bürgerlichen heiraten. Einzig der verstohlene Blick zum Auserwählten ist in solchen Kreisen gerade noch akzeptabel.

In meiner nächsten Lektion wird es um die Gesetze des korrekten Tanzflusses gehen: Lernen Sie alles über innere und äußere Rondas, Mindestabstände, Überholverbote und illegale Beinhebe-Höhen!

Ach, Ihnen ist das alles zu verschwurbelt und kompliziert, Sie möchten beim Tanzen einfach ein bisschen Spaß haben? Daher wollen Sie es nun doch lieber mit Salsa probieren?

Da haben Sie wahrscheinlich recht!

P.S. Lernzielkontrolle:

Im folgenden Video sehen Sie eine erfolgreiche Strategie zur Anwendung von Mirada und Cabeceo: Man sitzt stundenlang herum, bis sich das Lokal weitestgehend geleert hat. Mit der letzten verbleibenden Dame sollte es dann klappen.
Frage: Wer macht da dennoch was falsch?


Lösung: Die Dame steht zu früh auf und geht dem Herrn entgegen. Sie müsste sitzenbleiben, bis er ihren Platz erreicht hat.

P.P.S. Zum Trost: Auf der Website von "Tango Luna" Kaufbeuren gibt es eine Liste mit Milongas, wo auch das Auffordern durch Frauen ausdrücklich willkommen ist:
https://www.tango-kaufbeuren.de/frauen-fordern-auf

Kommentare

  1. Nochmal mein ernst gemeinter Hinweis: Wer möchte, dass ich seinen Kommentar veröffentliche, muss bitte den vollen Namen angeben!

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  2. Hm, ich weiß, ich bin ja eigentlich ein "Tango-Unhold" (immer im T-Shirt, meist mit Tanzsneaker, lasse mich gerne von Frauen auffordern, hab kein Problem, ob Frauen untereinander tanzen, d.h. ich fordere auch mal führende Frauen auf, gelegentlich auch mir bislang Unbekannt oder Anfängerinnen usw. usf.) und mag obwohl Brillenträger trotzdem den Cabeceo ganz gerne: ich fordere nämlich am liebsten interessierte Damen auf, und die erkennt man durch "Rumgucken" schlicht am schnellsten. ;-)

    Und wie ich schon öfters gesagt/geschrieben habe: Frauen, die sich intensiv mit einer Freundin unterhalten, störe ich keinesfalls. Und ebenfalls fordere ich keine Frau auf, die quasi über micht weg blickt ....

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    1. Da ähneln sich unsere Methoden: Rumgucken ist immer gut - aus den von dir genannten Gründen. Und klar, man sieht dann meist schon, wer Interesse hat.

      Ich wende mich lediglich dagegen, dass direktes Auffordern verpönt ist. In manchen Fällen (die ich ja geschildert habe), ist es in meiner Sicht notwendig und muss erlaubt sein.

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