Nuhr keine Satire


„Sapere aude!“
(„Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!“)
Immanuel Kant, 1784

Da es meine werten Gegner ja so mit „objektiven Tatsachen“ haben, bleibe ich zunächst bei diesen: Ich habe die Satire-Sendung „Nuhr im Ersten“ vom 26.9.19 nicht live gesehen, sondern sie mir erst angeschaut, als ich vom großen „Shitstorm“ gegen den Kabarettisten Dieter Nuhr erfuhr:



Für alle, die durch Fakten noch erreichbar sind: Der Gastgeber greift bei diesem Auftritt unter anderem folgende Personen, Instanzen und Erscheinungen an:

Gender-Sprech, Justin Trudeau, den Berliner Senat, Björn Höcke, die Bundesregierung (wegen ihres „Klima-Pakets“), die Bundesbahn, den japanischen Walfang, das Berliner Landgericht (wegen seiner Entscheidung, die Beleidigungen gegen Renate Künast seien legal) sowie die geschlechterspezifische Quotierung.

Nuhrs MitstreiterInnen, vor allem Monika Gruber, beteiligten sich lustvoll an der unbotmäßigen Häme über „progressive“ Zeiterscheinungen. Lediglich Lisa Eckhart lieferte einen politisch korrekten Beitrag über volle Tampons beim Strandurlaub. Da blieb der Shitstorm aus.

Und ja, auch Greta Thunberg war Ziel von Nuhrs Sticheleien.

Letzteres hätte der Kabarettist lassen sollen. Im Internet tobte darob die Empörung:

„Seine Einspieler im NDR sind wie Ausschnitte einer AFD Veranstaltung.“

„Aber der Greta-Part im Fox News-Stil war geschmacklos, unfair und obszön. Und unwitzig.“
„Seit dieser ‚Show‘ und Ihren darin getätigte Aussagen über @GretaThunberg weiss nun der gesamte deutschsprachige Raum, dass Sie ein primitives, reaktionäres Arxxxloch sind.“
„Dieter Nuhr ist ein reaktionärer Dummschwätzer. Das war er schon immer.“

„Dieser Nuhr ist der personifizierte weiße Mann, der sich von Kindern angegriffen fühlt und nur mit Gehässigkeit und beleidigendem Zynismus antworten kann.“

Dennoch wagte ich es, das Video des Auftritts auf meiner Facebook-Seite zu empfehlen (Post vom 2.10.19). Auf diese Weise bekam ich vom großen Shitstorm ebenfalls leicht Windiges ab. Insbesondere zwei Kommentatoren arbeiteten sich an Dieter Nuhr ab. In Auszügen:

„Was er sagt, ist objektiv falsch und hat negative Auswirkungen auf unser Leben. Inwiefern ist das Kunst oder glänzendes Kabarett? Das hat in Terminologie, Idee und Wirkung mehr mit Populismus zu tun.“

„99,9% der seriösen Wissenschaft steht hinter der Idee, dass der Klimawandel menschgemacht und real ist. Das genügt mir, von ‚objektiv richtig' zu sprechen. Wenn Herr Dr. Nuhr da andere Infos hat, möge er sie publizieren. Ich hoffe, wir können die Konsequenzen aus dem Klimawandel besser hinnehmen als die Schenkelklopfer der ‚Spaßmacher', die sonst nichts zur Lösung beitragen, als weiter Ignoranz zu schüren und sich währenddessen für die eigentlichen Opfer halten.“

Dazu ist zu sagen, dass gerade unterhaltende Medien sehr effektiv darin sind, Meinungen zu bilden und zu etablieren. Der Kabarettist oder Comedian hat also durchaus eine Verantwortung, keine Miss-Informationen unters Volk zu bringen. Schon gar keine, die wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen.“

Aber ich behaupte mal, dass die Überspitzung und damit der Rückschluss auf den Bezug sichtbar sein muss. Bei dem, was Dieter Nuhr macht, ist das nicht erkennbar, dafür lachen bei ihm die falschen Leute aus dem falschen Grund.“

Tja, ist doch schön, wenn man weiß, aus welchem richtigen Grund die richtigen Leute zu lachen haben…

Noch schöner drückte es der „Umweltaktivist“ Michael Flammer aus, den ich ebenfalls auf FB zitierte:

„So viel Stimmung, wie Sie gegen #FridaysForFuture machen, ist aus meiner Sicht keine Satire mehr. Das ist reine Meinung.“

Sorry, da muss ich seit Jahrzehnten etwas missverstanden haben: Ich dachte immer, die Texte von Satirikern seien pure subjektive Meinung, meist überspitzt, um die Zuhörer aufzurütteln, zum Nachdenken zu bringen.

Etwas ernster kann ich da schon nehmen, was nun über das „bürgerliche Kabarett“ zu lesen steht:

„Bürgerliches Kabarett ist vor diesem Hintergrund ein Kuriosum: Hier gibt der Mächtige den Unterlegen der Lächerlichkeit Preis. So wie der ‚Pleite-Grieche‘ sich Dieter Nuhrs Hohn anhören durfte (…), muss jetzt Greta Thunberg für ihre finsteren Absichten vor dem Gericht der Bürgerlichkeit bezahlen: Du willst das Klima retten, kleine Göre? Dann frier‘ dir erstmal im Winter einen ab. Haha!“

Schießen Kabarettisten wie Dieter Nuhr also „nach unten“? Ich glaube nicht: Wer seit Monaten massenhaft und folgenlos die Schule schwänzen darf respektive weltweit unter den Mächtigen herumgereicht wird, hat großen Einfluss und ist daher satirewürdig.

Übrigens kann man solche Diskussionen meist beenden, indem man zum Beleg der vollmundigen Verdammung Zitate fordert: Was hat denn Dieter Nuhr wirklich gesagt, das die Pöbeleien gegen ihn rechtfertigt? Die Antwort ist meist donnerndes Schweigen.

Was mir beim Studium vieler Pressemeldungen auffiel: Aus der Sendung wurden fast immer die gleichen drei Zitate verwendet, die offenbar ein Journalist vom anderen abschreibt. Daher möchte ich die deutsche Presselandschaft mit zwei weiteren O-Tönen des Kabarettisten bereichern, die seine wirkliche Haltung aufzeigen:

„Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde es gut, dass es Greta gibt – ganz ehrlich – dass die Dringlichkeit des Problems deutlich wird, dass die Ingenieure und Techniker mal anfangen zu arbeiten (…) da kommt jetzt ein bisschen Zug rein, dank Greta.“

„Wie konnten wir das wagen, ihr die Welt so hinzustellen, wie sie ist? Das kann ich ihr erklären: Weil wir die Welt, so wie sie ist, nicht einfach hingestellt haben, sondern weil die über Jahrhunderte entstanden ist. Diesen Vorgang nennt man Geschichte. Vor 250 Jahren haben wir angefangen, eine Industriegesellschaft zu entwickeln – und als all das damals mit der Dampfmaschine anfing, wussten die Leute noch nicht, wo’s enden wird. Und wenn wir jetzt das, was sich historisch über Generationen entwickelt hat, einfach abschalten, dann wird es Kriege geben, Bürgerkriege, Flucht, Vertreibung – und nicht Millionen, sondern Milliarden Menschen werden sterben, weit mehr als durch einen Klimawandel. That’s why we dare! Weil wir nicht zurück können, sondern neue Technologien entwickeln müssen.“

Wir Satiriker sind halt Kinder der Aufklärung, die stets das rationale Denken vor (pseudo)religiöse Bekenntnisse stellt: „Sapere aude“. Nicht mehr, aber auch nicht weniger möchte Dieter Nuhr: Dass jeder sich sein eigenes Urteil zu diesen Fragen bildet. Das bringt ihn im Konflikt mit Zeitgenossen, welche eine klare Vorstellung davon haben, was ihre Mitmenschen zu denken hätten.

Ich fürchte, seit meiner Jugendzeit wurde bei den Vernagelten lediglich das Personal ausgetauscht: Galten damals reaktionäre Politiker und Kirchenoberhäupter als sakrosankt, so darf man heute progressive grüne Heilsverkünder nicht in Frage stellen. Und das lustigerweise mit den gleichen schafsdämlichen Argumenten: Das sei ja keine Satire mehr, respektlos, beleidigend und obszön. Wie kann man sich nur gegen das stellen, was derzeit alle Guten denken?

Da werde ich in meinem hohen Alter so pubertär und aufmüpfig wie 1968:

„Yes, I dare!“

P.S. Ich habe gestern bis nach Mitternacht ausgeharrt, um die neue Folge von „Nuhr im Ersten“ zu sehen. Zu meiner Freude ist Dieter Nuhr bei seiner Linie geblieben und hat zum „Shitstorm“ gegen ihn nachgelegt:


 P.P.S. Damit der Text doch noch ins Tango-Blog passt: Ich habe schon lange nichts mehr von der Encuentro-Gemeinde über ihre vielen Reisekilometer zu diesen Treffen gelesen. Wäre klimatechnisch auch mal interessant...

Kommentare

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