Wie wir Tango lernten

       Gestern sind wir mal wieder über hundert Kilometer zu einer Milonga gefahren – früher der „Normalfall“, heute doch eher die Ausnahme. Ja, man wird nicht jünger, und außerdem gibt es heute nicht mehr viele Veranstaltungen, die mich zu solchem Aufwand reizen: Die Events sind austauschbar geworden: Fast überall die gleiche Musik, zum Verwechseln ähnliche Tanzstile, energiearmes Rumgetappe. Einheitsbrei…

     Wie sind wir eigentlich zu „unserem Tango“ gekommen? Die Fahrstrecke war lang genug, um ausführlich in Erinnerungen zu schwelgen (Nostalgie gehört ja zu diesem Tanz):

     2005, sechs Jahre, nachdem wir mit dem Tango begonnen hatten, beendeten wir unsere „Turnierkarriere“ (Breitensport) in den Standard- und Lateinamerikanischen Tänzen. Der Entschluss ging vor allem auf meine Entscheidung zurück – meine Frau tat sich ziemlich schwer damit. Sie war stets die „Sportlichere“ von uns beiden, während ich schon in der Schule solchen Kraftanstrengungen eher aus dem Weg ging: Als damals hoch aufgeschossenes, dürres Klappergestell war ich ein Feindbild meiner Sportlehrer. Umgekehrt auch.

     Getreu meiner „böhmischen“ Abstammung (siehe „Bohemien“) tat ich mich stets schwer damit, identische Bewegungsabläufe zum hundertsten Mal zu üben – beim Zaubern wie beim Tanzen. Das musste man aber, wenn man bei Turnieren Erfolg haben wollte. Wenn einem kein anderes Paar in den Weg tanzte, zog man in eineinhalb Minuten eine feste „Choreo“ durch – zu meist sehr ähnlicher Musik. Zudem stellte sich beim Preistanzen" für mich zunehmend die Sinnfrage.

      Als wir 1999 zum Spaß mal Tango argentino probierten, war ich nicht überrascht, auch dort feste Schrittfolgen ausführen zu sollen. Bei diversen Lehrkräften absolvierten wir einige Kurse und Workshops, wo wir unter anderem den „Tango-Grundschritt“ (die berüchtigte „Basse“) erlernten.

     Glücklicherweise besuchten wir in den ersten Jahren nicht nur die „Hausmilonga“ unseres hauptsächlichen Lehrerpaars, sondern auch andere, eher „wilde“ Events. Dort merkten wir, dass unsere paar andressierten „Figuren“ nicht reichten, da wurde teilweise kräftig improvisiert

     Das war wohl der Moment, in dem wir uns das „Tangovirus“ einfingen: Man konnte, ja sollte bei diesem Tanz individuell gestalten, es gab keine „erlaubten“ oder „verbotenen“ Schritte! Und erst die Musik! Nach und nach lernte ich nicht nur die alten Aufnahmen kennen, sondern auch die Fülle modernerer Ensembles. Und natürlich die überirdischen Klänge eines Astor Piazzolla. Welchen Reichtum konnte man da vertanzen!

     Bald beschlossen wir, keinen Unterricht mehr zu besuchen, der sich oft darin erschöpfte, lange herumzustehen, klugen Reden zu lauschen und gelegentlich probieren zu dürfen, was das Fachpersonal unter Tango verstand. Geholfen hat uns allerdings die Tanztechnik, die wir uns in vielen Jahren Standard und Latein draufschafften. Heute beginnen viele mit dem Tango als erstem Tanz ihrer Parkett-Aktivitäten, angelockt von der Verheißung, Tango sei nur Gehen". Und jeder könne ihn daher lernen. So sieht es dann oft auch aus…

      Was ich heute im Tango kann, resultiert ganz überwiegend aus meinen Erfahrungen mit einer vierstelligen Zahl von Tanzpartnerinnen. Es ist unglaublich, welch unterschiedliche Bewegungsmuster die einzelnen Menschen aufweisen. Und mit jedem und jeder muss man irgendwie zurechtkommen. Es ist kontraproduktiv, eine strenge „Vorauswahl“ zu treffen und nur mit denen zu tanzen, welche „keine Probleme“ zu machen versprechen. Leider ist das heute im Tango Standard.

     Glücklicherweise lernte ich in den vielen Jahren eine Reihe hervorragender Tänzerinnen kennen – mit einer bin ich verheiratet. Oft war ich ihnen hoffnungslos unterlegen und lernte, sie einfach machen zu lassen, ihnen nicht im Weg zu stehen und irgendwie eine Verständigung aufzubauen. Und den Kontakt zur Musik nicht zu verlieren. Meinen Erfolg verdanke ich vor allem den Frauen – aber das ist ja nicht nur im Tango der Normalfall!

     Eine „Tangolehrerin“ der besonderen Art war die Schäferhündin „Pata“ in einer kleinen Tangokneipe am Rande des Nirwana, wo wir einst oft zu Gast waren. Immer wieder raste sie unberechenbar über die kleine Tanzfläche, um die Hauskatzen zu verscheuchen. Um weder Hund noch Katzen zu treten, musste man unglaubliche Reflexe entwickeln.

     Und ich muss an einen Tanzlehrer denken, der uns zu Beginn irgendeine diffizile Figur vortanzte (natürlich mit einer Schülerin, welche davon keine Ahnung hatte). Anschließend ging er eine rauchen und überließ uns dem eigenen Schicksal. Wir waren dadurch gezwungen, miteinander zu diskutieren und zu probieren, eigene Aktivitäten zu entwickeln. Wenn er dann nach einer Viertelstunde wiederkam, zeigte jedes Paar eine andere Figur vor. Sein lakonischer Kommentar: „Kann man auch so machen.“  

     Weiterhin hat es mir sehr geholfen, mir Tausende von Stunden Tangomusik anzuhören, immer wieder neue Ensembles zu entdecken – schon deshalb, weil ich vor knapp 20 Jahren mit dem Auflegen begann. Und auch für mein Tangobuch habe ich umfangreich recherchiert. Wen die Musik erst dann interessiert, wenn er auf dem Parkett steht, hat schon verloren!

      Auf den vielen Milongas habe ich eine Menge gelernt, indem ich anderen Paaren zuschaute. Mit der Zeit sieht man sehr deutlich, warum manche Sachen funktionieren – heute allerdings eher, wieso es schiefgehen muss. Beides ist wichtig. Konkrete Schritte habe ich nur selten „geklaut“, mir ging es mehr um Tanzstile, Musikalität und eine gewisse Mentalität. Neue Bewegungen ergaben sich meist spontan.

     Nie werde ich einen eher bulligen Kollegen vergessen, bei dessen Statur man eher nicht an Tanzbegabung dachte. Was er aber auf dem Parkett hinlegte, waren Energie-Explosionen, verbunden mit großer technischer Kunst. Sein Satz „Beim Führen darfst dir nix scheiß‘n“ ist mir heute noch Richtschnur. Ja, man darf keine Angst haben und muss wissen, was man tut. Und jeder gesetzte Schritt ist halt so, wie er ist. Basta!

     Das genaue Gegenteil war ein kleiner, schmächtiger Tänzer, der unglaubliche Milongas draufhatte. Sechzehntel-Bewegungen waren ihm zu langweilig, so dass er öfters auf Zweiunddreißigstel umschaltete und wie ein Irrwisch über die Fläche huschte. Das Ausgefuchste seiner Aktionen begleitet mich noch heute auf dem Parkett.

     Immer noch schwärmt meine Frau von einem Tanguero, mit dem sie einst auf einer kleinen Milonga eine unvergessene Tanzrunde hinlegte: Mit größter Sanftheit führte er sie in schwierige Bewegungsabläufe des Neotango inklusive Hebefiguren. So zahlreiche offene Münder habe ich auf keiner anderen Veranstaltung gesehen. Niemand nahm den beiden ab, dass sie das erste Mal miteinander getanzt hatten!

     Mir ist klar, dass sich viele in der heutigen Szene an die Stirn tippen, wenn sie solche Geschichten lesen. So lernt man doch nicht Tango! Und wahrscheinlich ist es auch keiner.

     Ich glaube, wir haben diesen Tanz so ähnlich erarbeitet wie die Altvorderen vor über hundert Jahren: Probieren, Abschauen, Trial and Error – und das viele, viele Nächte lang auf ein paar tausend Milongas. Mit Blut, Schweiß und Tränen, und nicht als gemütliches Schunkeln in der heute gepriesenen engen Umarmung.

     Ein Blogger hat mich einmal einen „hartnäckig Lernresistenten“ genannt. Und kürzlich erhielt ich die Vokabel „Entwicklungsverweigerer“. Nein – ich lerne auf fast jeder Milonga dazu. Erst gestern wieder.

     Viele meiner Vorbilder von einst, leider auch hervorragende Tanzpartnerinnen, sind inzwischen längst aus der Szene verschwunden. Sie haben die zunehmende Öde wohl nicht mehr ertragen. Gestern diskutierte ich mit Karin, warum es wir immer noch aushalten.

     Der Hauptgrund ist wohl, dass wir beide im Tango nie „etwas werden“ wollten. Das Meiste ergab sich einfach. Wäre ich vor 15 Jahren nicht schwer krank geworden, hätte ich vielleicht nie mein Tangobuch geschrieben. Ohne den darauffolgenden Sturm von Lob sowie Entrüstung hätte ich mich nie so intensiv mit den Mechanismen des Internets auseinandergesetzt, bestimmt kein eigenes Blog aufgemacht. Mit den Recherchen zu den Artikeln habe ich sehr viel über den Tango gelernt. Dass es mal über 1800 Veröffentlichungen geben würde, hätte ich mir nie träumen lassen. Ich lebe von einem Tag zum anderen und setze mir keine Ziele.

     Warum wir immer noch beim Tango sind? Einfach, weil wir immer wieder auf dem Parkett Spaß haben wollen. Im heutigen Tango eine geradezu unanständige Vokabel!

Um ein Wort von Gustaf Gründgens über das Theaterspielen zu variieren:

Wir haben getanzt, was zu tanzen war.

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