Moralspektakel
„Gendern ist das Latein der neuen Eliten.“ (Philipp Hübl)
https://www.wissenschaftskommunikation.de/gendern-ist-das-latein-der-neuen-eliten-71125/
Vor einigen Wochen wurde ich auf ein neu erschienenes Buch des studierten Philosophen Dr. Philipp Hübl aufmerksam. Es trägt den schönen Titel:
„Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht.“
Hübl studierte Philosophie und Sprachwissenschaft, lehrte an verschiedenen Universitäten und ist Autor mehrerer Bücher:
https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_H%C3%BCbl
Der Autor befasst sich mit einem neuen gesellschaftlichen Trend: Befeuert durch das Internet werden oft eher nebensächliche Themen zu einer Frage der Moral, von Gut und Böse hochstilisiert und für Shitstorms benützt. Beispielsweise, ob eine europäische Musikerin mit Rastalocken auftreten darf, eine Politikerin das falsche Schuhwerk trägt oder vor zehn Jahren einen verdächtigen Satz geäußert hat.
Dass man oft in den Zielen übereinstimmt, nützt nichts. Wer einzelne Mittel für untauglich hält, über den geht trotzdem eine moralische Verdammung nieder. Für Hübl ist die verbissene Debatte über das Gendern ein gutes Beispiel:
„Ziel und Mittel werden oft verwechselt. Die meisten Menschen wollen eine gerechte Gesellschaft, in der Männer, Frauen und andere Geschlechtsidentitäten fair und diskriminierungsfrei behandelt werden. Eine repräsentative Umfrage des Familienministeriums hat ergeben, dass 95 Prozent der Befragten Gleichstellungspolitik befürworten. Aber in zahlreichen großen Umfragen lehnen mindestens zwei Drittel das Gendern ab.“
https://www.wissenschaftskommunikation.de/gendern-ist-das-latein-der-neuen-eliten-71125/
Auf „Amazon“ erklärt der Verfasser die Intentionen seines Werks:
„Wenn Moral zur Show wird und es nicht um Gerechtigkeit geht, sondern um Selbstdarstellung. Moral wird dann zum Spektakel, wenn moralische Begriffe und Urteile in der öffentlichen Diskussion nicht eingesetzt werden, um echte Probleme des Zusammenlebens zu lösen, sondern für andere Zwecke: als Tugendsignale, als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit oder als Waffen im Konkurrenzkampf.“
Nicht erst seit gestern hat mich die Altersweisheit ereilt, dass es in der Mehrzahl von Fällen überhaupt nichts bringt, Dinge in die Kategorien „Gut und Böse“ einzusortieren. Es gibt halt Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Absichten. Ebenso wird, wenn etwas schiefläuft, stets ein „Schuldiger“ gesucht – statt schlicht Ursachen und Folgen zu analysieren. Schönes Beispiel: Bei Bagatellunfällen mit Blechschaden kann man (meist männliche) Fahrer erleben, welche die Sache in wenigen Minuten zu einer existenziellen Moralfrage hochkochen. Öfters ist erst dann Ruhe, wenn beide Kampel eins auf die Nase gekriegt haben. Fortsetzung dann vor dem Verkehrsrichter (inklusive mindestens zweier Anwälte und seitenlanger Schriftsätze)!
Diese Verhaltensweisen kenne ich aus meiner Bonsai-Welt des Tango nur zu gut. Es nützt gar nichts, wenn man für ein höfliches und rücksichtsvolles Verhalten auf den Milongas eintritt. Nein, man muss auch sämtliche propagierten Mittel gutheißen, auch wenn man die oft nicht überzeugend findet.
So wird man von gewisser Seite häufig als rücksichtslos beschimpft, wenn man es wagt, Alternativen zu den vorgeschriebenen Parkettbenutzungsregeln vorzuschlagen. Nein – das führe immer wieder zu schweren Verletzungen auf der Piste! Oder gar zu seelischen Beeinträchtigungen anderer.
Ebenso gilt man in diesen Kreisen als Wüstling, wenn man es wagt, eine Dame so wie in der einstigen Tanzstunde aufzufordern. Die arme Frau würde unter Druck gesetzt und quasi zu einem Tanz gezwungen. Klarer Fall von Nötigung!
Und falls man für moderne Tangomusik wirbt, hat man musikalisch keine Ahnung und kann vermutlich auch nicht tanzen.
Ich mag nun nicht nochmal die ganzen moralischen Keulenschläge zitieren, die im Lauf der Jahre schon auf mich niedergegangen sind. Wer dennoch Zitate braucht:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/07/groe-schimpflitanei-2010-2016.html
Und, auch da hat Hübl recht: Nicht selten dienen solche Anwürfe der Anhebung des eigenen Status, beispielsweise von in die Jahre gekommenen Tangolehrkräften!
Ein schönes Beispiel ereilte mich im Februar dieses Jahres, als ich eine Kritik zu einer Münchner Tangoveranstaltung veröffentlichte. Dabei erhob ich keinen einzigen moralischen Vorwurf, sondern verteilte Lob und Tadel in dem Verhältnis, welches mir angemessen erschien. Das bewog einige Kommentatoren (darunter namhafte Tangovertreter), mir mit dem erhobenen Zeigefinger zu kommen:
„Da es aber offensichtlich immer wieder bewegungshungrige Zeitgenossen gibt, die selbstüberschätzend glauben, sich zu allem was auch nur entfernt an Tango erinnert bewegen zu müssen, muss manchmal der Veranstalter eingreifen. (…) Im Übrigen ist dieses unästhetische Gewusel auch keine gute Werbung für den Tango, selbst wenn man das als ‚Ich-glaube-Piazzolla-tanzen-zu-können-Selbstüberschätzer‘ glaubt“
„Kritik ist ja ok, aber arrogantes Herumnörgeln, dass man nicht kostenfrei auf hohem Niveau bewirtet wird... das sollte eigentlich unter Ihrem Niveau sein – oder ist das eigentlich der Kern Ihres Geschäftsmodells?“
„Überheblicher und arroganter geht es wohl kaum. (…) An einer Veröffentlichung bin ich sowieso nicht interessiert. Aber SIE sollen wissen, dass Sie ein unerträglicher Mensch sind.“
„Das Konzept der Selbstverantwortung würde Ihnen ganz neue Möglichkeiten eröffnen, andererseits, worüber sollten Sie denn sonst schreiben, wenn nicht über die Schuld der anderen? Schwierige Sache, das verstehe ich durchaus.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/02/erstmal-nicht-tanzen.html
Nö, gerade über die „Schuld der anderen“ mag ich nicht schreiben. Diesen Begriff sollten wir der Justiz überlassen – und die tut sich schon schwer genug damit.
Mein Konzept ist es – nicht immer, aber doch öfters – das Spaßige am teilweise unglaublichen „Miteinander“ in der Tangoszene herauszuarbeiten. Dass sich dann der eine oder die andere veräppelt fühlt, ist eingepreist. Wer sich dann aber „beleidigt“ wähnt und den Moralischen kriegt, riskiert neue Satire-Anlässe.
Welchen Ausweg sieht Philipp Hübl in dieser Misere?
„Wir dürfen nicht in Stammesdenken verfallen, uns also weder autoritären Gruppen noch Opfergemeinschaften zuordnen, sondern sollten alle Menschen als Individuen ansehen. Wir benötigen moralische Bescheidenheit: Wir müssen wie Richter abwägen, die ihr Urteil fällen, nachdem sie alle Seiten gehört haben, nicht wie Inquisitoren, die andere um jeden Preis verurteilen wollen. Und wir müssen uns eine Shitstorm-Resilienz antrainieren, um den Kampagnen von Hashtag-Aktivisten zu widerstehen. (…) Kurz: Statt den Impulsen unseres Moralinstinkts zu folgen, sollten wir auf die Vernunftmoral setzen.“
Hier noch zwei sehr interessante Interviews mit dem Autor:
https://www.youtube.com/watch?v=t_IS0Y___-I
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