Liebes Tagebuch… 83

 Vor einiger Zeit sahen wir auf einer Tangoveranstaltung ein Paar wieder, das in den frühen Tangojahren zu unserem Umfeld gehörte. Beide waren wir Stammgäste auf diversen „schrägen“ Milongas mit einem Musikangebot, das heute als skandalös vielfältig gelten würde. Die Szene war damals noch klein und improvisiert – es gab nur wenig Unterricht, keine Festivals oder gar Encuentros, geschweige denn organisierte Tangoreisen. Begriffe wie „Cabeceo“, „Ronda“ oder „EdO“ waren niemandem bekannt. Getanzt wurde, was auf den Tisch kam.

Man musste regelmäßig ziemlich weit fahren, wenn man eine der wenigen Milongas besuchen wollte. Ich erinnere mich noch an einen Abend, bei dem es uns in die Vororte einer Großstadt verschlug, wo in einer Tanzschule angeblich Tango getanzt wurde. Das war auch so – allerdings schien den dortigen Chef das Thema nicht groß zu interessieren. Ich erinnere mich an eine kabarettreife Szene, wo er sich mit verbundenen Augen von jungen Mundschenkinnen verschiedene Weißbierproben kredenzen ließ. Offenbar ging es um eine Bierbestellung für seinen Laden.

Unser einstiger Kollege forderte daraufhin die Chefin der Tanzschule auf und legte mit ihr eine Tangorunde hin, die mir unvergesslich bleibt. Obwohl die beiden einander überhaupt nicht kannten, interpretierten sie die modernen Stücke mit einer Serie von Höchstschwierigkeiten in einem unglaublichen Flow. Der Betreffende war ein wirklich herausragender Tänzer, dessen Fähigkeiten wir oft bewundern konnten – eine Vielzahl von Tangueras auch mit ihm auf dem Parkett.

Mit der Zeit merkten wir damals, dass unser Tangofreund „nach Höherem“ strebte. Er versuchte sich als DJ und veranstaltete Milongas. Nach einiger Zeit knüpfte er Kontakte zu einem der wenigen argentinischen Profis im weiteren Umfeld und nahm bei ihm Unterricht. Natürlich vermittelte er dem auch Auftritte bei den eigenen Veranstaltungen. Einmal kündigte er den Argentinier bei einem Showtanz wie folgt an: Der Betreffende sei nicht nur ein „Tangogott“ – nein, er verkörpere quasi den Tango schlechthin!

Wir grübelten zunehmend, was in den Freund eigentlich gefahren war. Viele von uns sahen das beginnende Latino-Treiben eher skeptisch. Die Feste, welche er veranstaltete, wurden größer und prächtiger, das Musikangebot fiel immer konservativer aus. Als wir 2007 unsere eigene Milonga aus der Taufe hoben, sah er uns wohl eher als Konkurrenz. Mehrfach legte er Termine parallel zu den unseren. Dennoch besuchten wir öfters seine Events, wo das Publikum sich inzwischen edel gekleidet zu überschaubaren Klängen bewegte und das Kuchen- und Kleiderangebot goutierte. Allmählich verloren wir einander aus den Augen.

Nun also, nach vielen Jahren, ein Wiedersehen! Nach den üblichen Floskeln fragte ich ihn, ob er denn noch tanzen gehe. Nein, praktisch nicht mehr, so seine Antwort. Er gebe jede Woche einen Tangokurs, und danach sei er so geschafft, dass es ihn nicht aufs Parkett ziehe. Danach sah ich ihn auf der Piste: ein müder Abglanz früherer Zeit. O mei‘…

Auf der Heimfahrt kam ich mit meiner Frau ins Gespräch. Wir sind ja eines der wenigen Paare, das seit mehr als 20 Jahren intensiv Tango tanzt und stets der Versuchung widerstanden hat, Kurse zu geben. Auch, da wir wissen, dass der übliche Gruppenunterricht weitgehend die Illusion verkauft, man könne Tango tanzen. Dass es am Einzelnen liegt, ob er sich der Mühe unterzieht, Tausende von Stunden auf dem Parkett zu verbringen, es mit einer Menge verschiedener Partner zu probieren, viel unterschiedliche Musik zu hören.

Nahe am „Tangofunktionär“ waren wir damals dennoch: Wir organisierten eine eigene Milonga, und ich legte ziemlich oft auf. Diese ganzen Tätigkeiten verändern einen mental. Auch wenn man es sich nicht eingesteht: Natürlich denkt man sehr oft daran, ob man genug Werbung gemacht hat, wo man sich sehen lassen müsste, mit wem man besser wieder einmal tanzen sollte, wo man noch Flyer auslegen könnte, und vieles mehr. Und klar, das Musikangebot durfte nicht zu verrückt sein, damit es keine Gäste vergraulte.

Vielleicht war es ein Glück, das bei mir Ende 2008 eine Krebserkrankung festgestellt wurde: Eine gute Gelegenheit, in vielfacher Hinsicht die Sinnfrage zu stellen – auch mit Hilfe eines Tangobuches, das ich damals verfasste.

Es scheine ein allgemeines Phänomen zu sein – so schrieb ich in der ersten Auflage – dass sich verlockende Perspektiven auftäten:

„Man könnte von einer herausgehobenen Position aus weit mehr gestalten als durch das bisherige konkrete Tun, sich mithin in eine Art Funktionärsrolle' begeben – Aufstieg in der Rangordnung natürlich inklusive! Lässt man sich darauf ein, bemerkt man schon bald, dass man den größeren Einfluss teuer erkauft hat: Man muss jede Menge Kompromisse schließen, alles Mögliche akzeptieren, nur um des großen Ganzen' willen – und wird dabei nicht weniger abhängig, sondern nur von immer höheren Instanzen. Das Schlimmste: Die ursprüngliche Tätigkeit, deren Faszination einen ja in das ganze Schlamassel getrieben hat, rückt immer mehr in den Hintergrund!

Nun gibt es nur zwei Alternativen: Entweder – so wie manche Politiker – immer noch höher steigen, noch mehr vermeintliche Macht gewinnen wollen oder die Sinnfrage zutreffend beantworten und sich zurück zu den Wurzeln begeben.“ (S. 353)

Öffentlich agierte ich in der Folge nur noch als Autor, aber nie mit der Absicht, dem „Mainstream“ zu gefallen und so höhere Auflagen zu erreichen. Bis heute muss man sich damit abfinden, dass ich ungeschminkt meine persönlichen Ansichten verbreite.

Und wir treffen uns nach wie vor mit einigen Freunden im eigenen Wohnzimmer, um unseren Tango zu unserer Musik zu tanzen. Völlig privat und mit riesiger Freude! Und wir gehen auch auswärts tamzen.

Ich hätte das auch unserem früheren Tangofreund gegönnt.

Und was den „Aufstieg“ betrifft, habe ich damals Edmund Hillary zitiert – zusammen mit Tenzing Norgay der Erstbesteiger des Mount Everest:

„Es kommt nicht darauf an, dass man als Erster oben gewesen ist, sondern, dass man als Erster lebend zurückkommt.“

Foto: www.tangofish.de


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