Applaus, Applaus!

Beim Frühstück sahen wir einen Bericht über das Spiel Deutschland-Schottland bei der Fußball-Europameisterschaft. Meine Frau fand es toll, dass die schottischen Fans auch noch am Tag danach feierten, obwohl die Partie mit 1:5 verlorenging.Ich antwortete: „Die freuen sich einfach, dass sie an einem so bedeutenden Event teilnehmen. Da ist es nicht so entscheidend, was auf dem Spielfeld passiert!“

Mir fiel eine Parallele zu anderen Veranstaltungen ein: Schon oft habe ich beim Tango Showtänze erlebt, die mir nicht mehr als ein müdes Gähnen entlockten (falls ich nicht eh die Flucht zum Aschenbecher vor der Tür antrat). Dennoch tobte das Publikum und forderte nach drei Tänzen enthusiastisch eine Zugabe – welche natürlich längst eingeplant war, und die man wohl auch bei schwächerem Beifall den Anwesenden nicht erspart hätte. Möglicherweise gab es sogar „Standing Ovations“ – bei dem auf Milongas chronischen Mangel an Sitzplätzen eh naheliegend…

Ein Beispiel für viele solcher Aufführungen:

https://www.youtube.com/watch?v=qKubAWwLOhc

Klar, Beifall ist zunächst einmal eine Anerkennung für ästhetische Leistungen, und das ist gut so. Applaus, so sagt man ja, sei das „Brot des Künstlers“ (leider nicht selten das einzige).

Ich glaube aber, man übersieht häufig eine zweite Quelle, die Selbstbestätigung: Da ist man eine weite Strecke zu einem hochmögenden Festival angereist, auf das man sich seit Monaten freute, hat sich schick gemacht und einen Haufen Geld für Reise, Übernachtung, Verpflegung, Workshops und Eintrittsgelder abgedrückt. Zudem würden ja internationale Stars auftreten.

Soll man sich dann eingestehen, dass man nur an höchstens mittelmäßigem Kram beteiligt war? Das würde zu erheblichem Frust führen. Also bestätigt man sich per Applaus und Jubel, dass man an etwas Großem Anteil hatte!

Nein, ein Workshop von Nau, Naveira oder Verón muss einfach toll sein – würde er sonst so viel kosten? Ansonsten stünde man ja als jemand da, der seine Knete für Quark eingetauscht hätte. Wie blamabel! Und tanzen können diese VIPs selbstredend ganz toll – das sagen ja alle! Also müssen sie es auch unterrichten können. Soll man da zum kritischen Außenseiter mutieren? Auf einem Feld, das so stark von sozialer Einbindung lebt wie sonst höchstens noch der katholische Klerus? Das gemeinsame Klatschen stärkt den Zusammenhalt – ähnlich wie die affirmativen Gebetsformeln in der Messe.

Also wird gepriesen, was zu preisen ist. Die Einkleidung entscheidet.

Der weltberühmte Geiger Joshua Bell ließ sich 2008 auf folgendes Experiment ein: Er spielte, als Straßenmusiker verkleidet, morgens kurz vor Acht in einer zugigen Metro-Passage Washingtons auf einer Millionen teuren Stradivari, auf der einst Fritz Kreisler konzertierte. Er interpretierte Stücke im Schwierigkeitsgrad von Bachs Chaconne in d-Moll.

Die meisten Passanten eilten vorüber, einige warfen Kleingeld in den Hut. Nach einer Dreiviertelstunde hatte er 32,17 Dollar eingenommen. Zwei Tage vorher spielte er in Boston für einen Eintrittspreis von 100 Dollar pro Karte.

Ich meine, dieses Ergebnis sollte uns zu denken geben: Die Wenigsten sind in der Lage, Kunst von Mittelmaß oder gar Krempel zu unterscheiden. Sie brauchen das Signal der Inszenierung – so wie in Fernsehshows, wo die Zuschauer vorher noch durch „Warm-Upper“ auf Jubel konditioniert werden. Im 19. Jahrhundert gab es den Beruf der „Claqueure“, also bezahlter Klatscher, die das Theaterpublikum in Stimmung bringen sollten.

Immerhin hatte der Autor des Artikels in der „Washington Post“ über das „Bell-Experiment“ Erfolg: Gene Weingarten erhielt dafür 2008 den Pulitzer-Preis.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/klassik-in-der-u-bahn-kleingeld-fuer-den-star-1.801038

https://de.linkedin.com/pulse/die-macht-des-kontexts-wir-aus-dem-joshua-bell-lernen-dinkelacker

Bei meinen vielen Auftritten als Zauberer und Moderator habe ich gelernt, dass Beifall von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängt: Agiert man als „No Name“, wird es schon mal schwierig – ebenso, wenn das Publikum müde oder angetrunken ist. Kinder applaudieren von sich aus nie – und Senioren wenig. Gut läuft es, wenn es einem gelingt, von den Zuschauern für sympathisch gehalten zu werden. Dann kriegt man oft für eher schwache Leistungen erstaunlich viel Applaus. Ist die Vorstellung für die Gäste gratis, wird weniger geklatscht als wenn es Eintritt kostet.

Am besten ist es, von vornherein keinen Jubel zu erwarten, sondern einfach seine Arbeit zu machen. Beifall ist eine erfreuliche Zugabe, mehr nicht.

Das Schlimmste ist es, wenn der Veranstalter zum Schluss das Publikum noch um einen „besonders herzlichen Applaus“ bittet. Dann könnte man als Künstler sterben…

P.S. Hier noch Joshua Bell mit der Chaconne von Bach:

https://www.youtube.com/watch?v=myXOrVv-fNk  

Quelle:

https://www.rnd.de/wissen/warum-applaudieren-wir-PYRTBCYZ6IVF2BKE65UQGASF34.html

Kommentare

  1. Ein Kommentator hat mir heute einen Tippfehler in meinem obigen Artikel angekreidet: Statt „Verón“ schrieb ich versehentlich „Perón“. Die Vermutung, mir sei der Unterschied zwischen dem ehemaligen argentinischen Politiker und dem bekannten Tangotänzer nicht klar, ist natürlich an den Haaren herbeigezogen.

    Da ich den Kommentar auf der längeren Fahrt zu einer Milonga las, kam ich zunächst lediglich dazu, den Schreibfehler im Artikel zu verbessern. Einige Zeit später erhielt ich eine weitere Zuschrift von dieser Person, in der mir vorgeworfen wurde, den Fehler „klammheimlich wegzubügeln“, weil man mich sonst für „unfähig“ halten könnte.

    Das ist natürlich grober Unfug. Ich erhalte gelegentlich Zuschriften (meist per Mail), in dem mich Leser auf Fehler hinweisen. Ich bedanke mich in der Regel dafür und korrigiere sie sofort. Klar, Pannen passieren – ich halte mich nicht für unfehlbar und habe kein Problem damit, Fehler auch zuzugeben. Das tue ich hiermit ebenfalls.

    Wogegen ich mich aber wehre: Dass man versucht, solche Petitessen zu skandalisieren und mir daher unverschämte und hämische Kommentare schickt. Daher werde ich die entsprechenden Texte auch nicht veröffentlichen. Auf diese Weise kann man natürlich wunderbar von den Kernaussagen in meinen Artikeln ablenken. Dem möchte ich entgegenwirken.

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  2. Interessant ist nur immer wieder, dass Sie einen Schuh aus solchen Flüchtigkeitsfehlern machen, wenn sie den Kommentatoren passieren. Bei Ihnen selbst werden solche kleinen Fehlerchen natürlich weggebügelt.

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    1. Es steht auch Kommentatoren frei, solche Fehler zu verbessern: Einfach den alten Text löschen und korrigiert wieder einstellen. Stattdessen wird rumgeschimpft und das "Oberlehrer-Klischee" beschworen.

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    2. Nein, kann man nicht. Und wundern Sie sich allen Ernstes über solche Reaktionen?

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    3. Nach über zehn Jahren Bloggen wundere ich mich nur noch über sehr wenig.
      Und wenn Sie es nicht schaffen sollten, Ihren Kommentar wieder zu löschen, können Sie mich per Mail darum bitten. Legen Sie Ihren neuen Text bei, dann stelle ich ihn für Sie ein. Auch dieses Angebot gibt es seit Jahren.
      Mehr Service geht wirklich nicht!

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    4. Warum regen Sie sich dann so auf und machen so eine große Affäre daraus?

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    5. Mache ich nicht. Einen Skandal wollte der betreffende Kommentator inszenieren. Ich habe die Sache per Kommentar richtiggestellt. Mehr nicht. Aber auch Sie scheinen wild entschlossen zu sein, die Geschichte weiter am Kochen zu halten. Daher Ende der Debatte.
      Wenn Sie etwas zum Inhalt meines obigen Artikels zu sagen haben - gerne! Aber das ist wohl nicht zu befürchten.

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  3. Ich fand das Bell-Experiment schon immer daneben.
    Wer bitte hat früh um acht auf dem Weg zur Arbeit oder einem sonstigen Termin inmitten von -zig anderen Menschen in der U-Bahn Zeit und Muße, klassische Musik anzuhören? Von der miserablen Akustik ganz zu schweigen. Der Vergleich hinkt ganz gewaltig.
    Aber generell gebe ich Dir recht, die wenigsten können Können beurteilen und viele lassen sich von anderen beeinflussen, was ihnen zu gefallen hat.
    Applaus gibt es von mir eigentlich immer, aber ich denke, man merkt mir schon an, ob ich aus Höflichkeit oder aus Begeisterung klatsche.
    LG
    Carmen

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    1. Klar, die Umstände des Experiments sind schon sehr speziell. Dennoch meine ich, wer von Violinmusik Ahnung hat, müsste dennoch bemerkt haben, dass da ein Meister am Werk ist.
      Aber auch für viele im Tango ist die Musik nur ein Hintergrundgeräusch. Man vergnügt sich lieber mit Plaudern und Lachen.
      Ich finde, Applaus ist schon einmal für die große Bemühung fällig, die hinter vielen Aufführungen steckt. Unabhängig davon, ob ich sie für gelungen halte.

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  4. Hier scheint dem Publikum die Vorführung zu gefallen - müder Applaus klingt anders und mürrische Gesichter sehe ich auch nicht.
    Also, statt zu murren und zu knurren, lieber auf ins eigne Wohnzimmer, die CDs mit der richtigen Musi raus - und ACTION.
    Deine Gäste werdens Dir danken.
    Phil Ottgen

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    1. Ich murre überhaupt nicht. Mich interessierte einfach die Frage, welche Ursachen Applaus hat. Die künstlerische Leistung ist, so meine ich, nur eine davon.
      Was das Publikum im Video betrifft: Klar haben die gejubelt - fragt sich nur, was der tiefere Grund war.
      Was das Ganze mit unseren privaten Milongas zu tun hat, erschließt sich mir nicht.

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  5. Ich habe vor kurzem zwei Workshops mit Pablo Verón gemacht:
    https://jochenlueders.de/?p=17055

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    1. Vielen Dank! Ich hab's mit Vergnügen gelesen und auch auf Facebook empfohlen.

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