Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 32

Erst kürzlich machte ich im Tango wieder Erfahrungen, die mir sehr zu denken gaben: Es geht um bestimmte Tanzpartnerinnen, mit denen ich fallweise auf dem Parkett war.

Was sie mir boten, hätte den üblichen Tangueros den Eindruck vermittelt, die Damen seien „unführbar“. Sie wären wohl in Gefahr gewesen, vom Partner mitten in der Tanda auf dem Parkett stehengelassen zu werden.

Tatsächlich machten diese Tänzerinnen nicht den Eindruck, sich allzu viel um meine Bewegungsvorschläge zu kümmern. Immer wieder brachen sie aus den gewohnten Bahnen aus, bestanden auf eigenständigen Aktionen, legten plötzlich Stopps ein oder sausten in Zweiunddreißigstel-Rhythmen davon.

Solche Tanzstile haben mich bereits vor fast neun Jahren zu einem Artikel inspiriert, der heiß diskutiert wurde:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/08/warum-ich-wenig-fuhre.html

Was ich damit meinte: In solchen Situationen wäre es völlig kontraproduktiv, als Mann nun darauf zu beharren, dass die Frau das macht, was ich mir vorgestellt hatte. Im besseren Fall würde ich ihr den Spaß verderben, in der schlimmeren Version führte es zu krampfigen Situationen bzw. vernichtete die Verständigung im Paar.

Der Kollege Jochen Lüders nahm meinen Text zum Anlass einer scharfen Philippika, welche er Folgenarme Führungslosigkeit – Wenn der Mann nix macht“ betitelte:

https://jochenlueders.de/?p=15907

Ich sei, so der Autor, der bekannteste Vertreter der „Tunix-Fraktion“: Ich bliebe lieber stehen und lasse mich „vom ‚Feuerwerk‘ der Frau ‚bezaubern‘“. „Tja, wenn der Mann keine Ahnung habe, was er denn eigentlich tanzen möchte, ist es vielleicht wirklich besser, einfach stehen zu bleiben und die Frau machen zu lassen. (…) Der eine macht (fast) nichts und der / die andere macht irgendwas, und das soll dann Gemeinsamkeit, Harmonie und Verbindung im Paar schaffen?“

Schon mal vorab: Passiv stehen zu bleiben wäre so ziemlich das Dümmste, was man in solchen Situationen anstellen kann. Aber für das Gros der Männer scheint es im Tango nur diese Alternativen zu geben: Führen oder gar nichts machen.

Was mich damals besonders amüsierte: Lüders meinte, sogar ChatGPT sei schlauer als ich. Zitat (von mir übersetzt):

„Im Tango ist der ‚Führende‘ die Person, welche die Bewegungen des Tanzes initiiert und leitet, während die ‚Folgende‘ auf die Bewegungen des Führenden antwortet. Der Führende kommuniziert durch körperliche Signale wie Druck und Richtung, und die Folgende reagiert, indem sie ihre Schritte und Bewegungen entsprechend anpasst. Die Dynamik zwischen dem Führenden und der Folgenden ist im Tango von wesentlicher Bedeutung, da sie eine Verbindung zwischen den Tanzenden schafft und fließende, improvisierte Bewegungen ermöglicht. Der Führende muss ein ausgeprägtes Verständnis für die Musik und den Rhythmus haben sowie die Fähigkeit, seine Partnerin zu lesen und auf ihre Bewegungen zu reagieren, während die Folgende in der Lage sein muss, den Hinweisen des Führenden zuzuhören und darauf zu reagieren.“

Aha, Verständnis für Musik und Rhythmus braucht nur der Führende zu haben… Und die Folgende muss sich in erster Linie anpassen. Nein, so lange ich noch über natürliche Intelligenz verfüge, werde ich der künstlichen nicht vertrauen!

Nun kenne ich Tangolehrkräfte, welche über solche Botschaften aus der Jungsteinzeit hinaus sind – dennoch bleibt es dabei: Was man auf den Milonga-Pisten sieht, folgt immer noch weitgehend diesem archaischen Schema. Bestenfalls darf die Dame mal ein paar Verzierungen hinzufügen (bei Lüders nur in „homöopathischer Dosierung“) – das war‘s dann aber schon.

Also alles improvisiert und mit Fantasie-Bewegungen? Leute meiner Generation, welche beim Tango landeten, haben oft eine längere tänzerische Vorgeschichte, so dass ihnen eine technische Basis zur Verfügung steht. Und klar muss man Grundbewegungen erlernen – ob nun in einem Kurs, in Einzelstunden oder durch privates Üben mit einem versierteren Partner: Von nichts kommt nichts! Sicherlich sollte man auch das Senden und Empfangen von Botschaften hinbekommen – ob man das „Führen und Folgen“ oder anders nennt.

Wogegen ich mich aber wehre: Dass man diese Rollen festklopft wie im obigen künstlich unintelligenten Zitat. Da wird den Männern fast die ganze Verantwortung aufgedrückt – und die Frauen dressiert man auf „Gehorsam“. Die Folge ist, dass sie sich an den Tänzer hängen und von ihm herumschieben lassen.

Die für mich richtige Entwicklung wäre, dass beide Partner lernen, „selber zu tanzen“, einander Vorschläge machen und trotz aller Eigenständigkeit aufeinander achten und die Verständigung nicht abreißen lassen.

Ich nutzte neulich die Gelegenheit, eine solche „unführbare“ Tänzerin nach einer atemberaubenden gemeinsamen Tanda zu fragen: „Was ist eigentlich, wenn du an einen ‚normalen‘ Tanzpartner gerätst, der von deinem ‚Gehorsam‘ ausgeht? Passt du dich dann an?“

Sie besuche eher selten die üblichen Milongas, so ihre Antwort. Aber ja, dann tanze sie halt auch mal „brav“. Und wo habe sie gelernt, derart eigenständig zu agieren? „Eigentlich bei euch. Als Frau begleitet einen ja immer die Angst, etwas ‚falsch‘ zu machen und dann entsprechend korrigiert zu werden. Eure Gäste und ihr habt mir diese Furcht genommen. Also habe ich mich getraut, ‚anders‘ zu tanzen.“

Ich glaube, ein wichtiger Schlüssel für das Elend auf den heutigen Milonga-Pisten ist diese Hierarchie, in welcher letztlich die Männer festlegen, ob eine Partnerin „richtig“ tanzt, sprich: Das tun, was der Führende erwartet. Frauen, welche den Eindruck der Selbstständigkeit machen, werden gemieden wie die Hölle.

Oft schon forderte ich Tänzerinnen auf, die sich von ihren Partnern ziemlich konventionell herumbewegen ließen. Als sie aber bemerkten, dass sie sich bei mir mehr Freiheiten nehmen durften, führte das zu sehr spannenden und anregenden Situationen. Viele Frauen, so mein Eindruck, würden gern „mehr machen“, wenn man ihnen die Angst nähme, es negativ angerechnet zu kriegen.

Natürlich spielt die Musik dabei eine herausragende Rolle. Leider bieten viele historische Aufnahmen wenig Abwechslung, welche zu kreativen Aktionen Anlass bieten. Ich fürchte, gerade deshalb sind sie beim heutigen Publikum so beliebt. Man kann „gemütlich“ tanzen und muss keine Angst vor Veränderungen haben.

Gut, wem das reicht, der soll es dabei belassen. Er möge nur bitte aufhören, Tango als einen ganz besonderen, improvisierten Tanz zu bezeichnen! Das ist er nämlich in dieser Version mit Sicherheit nicht. Und wer etwas kreativer und variabler tanzt, wird gerne mit dem Begriff Showtango" abgefertigt. Na ja... wie Ihr meint!

Wir tanzen immer noch alle ein, zwei Wochen auf dem Pörnbacher Wohnzimmerparkett, mal zu dritt oder viert, gelegentlich mit einigen Gästen mehr. Erst neulich wurde mir wieder klar: Die Musik, die bei uns läuft, hört man auf anderen Milongas kaum bis nie. Und das, obwohl es sich zu 95 Prozent um klaren Tango handelt. Aber halt um komplexere Arrangements.

Im Gegensatz zur landläufigen Einstellung suchen wir nicht die Sicherheit, sondern die Herausforderung, wollen nicht zu sehr Bekanntem, sondern auf möglichst Neues tanzen. Auf dem Parkett experimentieren wir – und dazu gehört selbstverständlich, dass auch mal was schiefgeht. Das ist kein Beweis für mangelndes Können, sondern für den Mut zum Wagnis. Und niemand muss Angst haben, wegen seines Tanzstils kritisiert zu werden.

Wichtig bei solchen Tänzen ist es, dass beide stets gespannt aufeinander achten, leiseste Signale wahrnehmen. Beide Partner ergreifen mal die Initiative – Führen und Folgen sind nicht festgelegt, sondern wechseln situativ. Und wenn beide auf die Musik hören, ist eine gewisse Harmonie dennoch gesichert.

Natürlich erfordert das einige Erfahrung vor allem bei der „Krisenintervention“ – und gute Reflexe. Und in meinem Alter bin ich nach drei oder vier Tänzen dieser Art erstmal geschafft. Und das, obwohl ich doch laut Jochen Lüders „fast nichts“ tue…

Warum wir so tanzen? Einfach, weil es uns Spaß macht – wer einmal den Flow erlebt hat, in den man sich auf diese Weise hineinsteigern kann, wird nicht mehr darauf verzichten wollen. Ohne diese Stunden auf unserem Wohnzimmerparkett hätte ich den Tango wohl aufgegeben.

Tango ist voller Widersprüche, an denen das Großhirn scheitert. Nur wenn man mit seiner Aufmerksamkeit, seinen Gefühlen ausschließlich im Hier und Jetzt ist, können Traumtänze gelingen.

Ein Tangofreund hat mir einmal berichtet, dass eine Partnerin mit seiner „Führung“ unzufrieden war und sich in ihrer Kreativität behindert sah. Auf seinen Einwand hin meinte sie: „Führ doch einfach das, was ich gern tanze!“

Das folgende Video zum Thema habe ich nach meiner Erinnerung schon einmal verlinkt. Aber ich finde auch heute kein besseres:

https://www.youtube.com/watch?v=N8777RgiQ1k

P.S. In einem Nachtrag zu seinem oben verlinkten Artikel schreibt Jochen Lüders nun, seit 2015 habe sich meine „Einstellung zum Führen offenbar komplett verändert.“ Nein lieber Jochen, sicher nicht. Aber vielleicht hast du inzwischen gemerkt, worum es mir wirklich geht!

Kommentare

  1. Das Thema ist allerdings zweischneidig.

    Ich habe schon mit Partnerinnen getanzt, wo mir nichts anderes übrliggeblieben ist, als in eine Art "Unfallverhütungsmodus" zu verfallen.
    Aber auch mit Partnerinnen, wo mich ihre Gegenvorschläge sehr inspirieren.

    Manchmal wundere ich mich auch über das Vertrauen, das Frauen aufbringen können, wenn sie mich z.B. als Stütze gebrauchen, obwohl ich grad äusserst ungeeignet auf dem falschen Fuß stehe und nur mit sehr viel Mühe nicht umfalle ;-)

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    1. Ja, solche Situationen kenne ich. Man sollte im Paartanz schon ein Gespür dafür entwickeln, was man dem Partner (oder der Partnerin) zumutet. Haben leider nicht alle.

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