Tanzverbot macht Wangen rot

Gestern erhielt ich von meinem treuen Leser Carsten Buchholz eine ziemlich lange Nachricht mit der Erlaubnis, sie für mein Blog zu verwenden. Daher habe ich mich entschlossen, diese in einem eigenen Artikel zu besprechen. Zunächst der Text von Carsten:

Lieber Gerhard,

ich habe die letzten zwei Tage in München verbracht. Und möchte dir schreiben, um dir zu sagen, dass du in einem richtig liegst, und in einer Sache auch falsch.

Aber zuerst die Schilderung einer Tango-Erfahrung von gestern aus München:

Ich bin gestern mit einer Münchener Bekannten zu einem Tango-Konzert in die Auferstehungskirche gegangen. Dort spielte „Bravo Buenosayres“, geleitet von dem Bandoneonisten und Komponisten Facundo Barreyra . Die Veranstaltung war angekündigt als „Konzert zum Tanzen oder Zuhören“. Es bestand aus zwei Sets, zwischen den Sets und anschließend gab es Musik von einer DJane.

Vor der Bühne gab es zwei Stuhlreihen, dann folgte eine ca. 5x5 Meter große Tanzfläche, dahinter klassische Kirchenbänke, die weitere Sitzmöglichkeiten boten. Diese waren zu maximal einem Drittel belegt. Das erste Set war sehr ruhig und bestand aus Eigenkompositionen sowie Stücken von Astor Piazzolla – wunderschöne Musik.

Erstaunlicherweise blieb die Tanzfläche nach dem ersten Stück leer. Nach dem dritten Stück beschlossen meine Partnerin und ich dann, das Eis zu brechen. Schließlich hatte es bei der Begrüßung keine Ansage gegeben, dass Tanzen (zu irgendeinem Zeitpunkt) nicht erwünscht sei, und die Tanzfläche rief, und die Musik lud (uns) ein. Zu unserem Erstaunen blieben wir jedoch allein auf der Tanzfläche. Wir tanzten das gesamte Set alleine und genossen die tolle Musik – ungestört von Ronda-brechenden Kampftänzern und typischem Milonga-Geschwätz. Ruhige, komplexe Musik, aber wunderschön.

Darauf sollten wir drei erstaunliche Feedbacks erhalten: Gleich nach dem Set kam ein Mann zu uns und beklagte sehr aggressiv, dass unser Geschlurfe den Musikgenuss gestört habe. Nicht nur seinen, sondern „den der gesamten ersten beiden Reihen". Wie wir das bei solch hervorragenden Musikern wagen könnten? Und überhaupt sei diese Musik ja „untanzbar".

Das zweite Feedback (ein Mann aus den hinteren Reihen) kam wenig später, war nicht ganz so feindselig, aber inhaltlich ähnlich: Unser Tanzen habe den Musikgenuss gestört. Auf meinen Einwand, dass das Konzert doch als Tanzveranstaltung angekündigt gewesen sei und keinerlei Einschränkungen kommuniziert worden waren, entgegnete er (sinngemäß), dass uns wohl die notwendige Empathie fehle, um zu erkennen, was angemessen sei. Autsch. Zu schöner Musik tanzt man also nicht 🙂.

Wäre ich zu diesem Zeitpunkt gegangen, hätte ich das Gefühl gehabt, es mir auf einer einzigen Veranstaltung mit der gesamten Münchener Tango-Szene verdorben zu haben. In einem amerikanischen Film wäre ich wohl geteert und gefedert aus der Stadt geworfen worden. Jedoch bekamen wir beide im Pausen-DJ-Set schöne Tandas auch mit anderen Anwesenden (wir hatten es uns offensichtlich nicht mit allen Anwesenden verdorben), und als die Band dann zum zweiten Set auf die Bühne kam, blieben gleich mehrere Paare auf der Tanzfläche stehen. Mit dem klaren Willen, nun zu tanzen, ohne empathisch abzuwarten, ob die nun folgende Musik denn überhaupt tanzbar sei. Das Set war dann auf jeden Fall konventioneller und weniger komplex, aber trotzdem sehr schön. Große Empfehlung für „Bravo Buenosayres“.

Das dritte Feedback dann war eine sehr interessante Wendung. Als wir nach Ende der Veranstaltung (unsere Kritiker hatten frühzeitig das Weite gesucht) die Kirche verließen, verabschiedete sich auch die (Mit-)Veranstalterin von uns. Und sagte, dass sie es schön fand, dass wir zum ersten Set getanzt hätten, obwohl wir alleine auf der Tanzfläche geblieben seien. Gerne hätte sie auch getanzt, aber sei noch von Organisatorischem aufgehalten worden. Und erklärte, dass sie die Konzerte dort bewusst so gestalten, dass die Bands im ersten „konzertanteren" Set auch die Lieder präsentieren können, die oft als „weniger tanzbar" gelten. Trotzdem sei das Tanzen dazu nicht nur erlaubt – sondern sogar ausdrücklich erwünscht.

Und auch im Ankündigungstext der Veranstaltung (heute nachgeschaut) heißt es – sowohl auf der Seite der Veranstalterin als auch auf der des Komponisten – ausdrücklich: „20:00 Uhr Konzert von BRAVO BUENOSAYRES zum Zuhören – es darf aber auch getanzt werden – Kompositionen von Facundo Barreyra und Astor Piazzolla […] 21:00 Uhr Livemusik mit BRAVO BUENOSAYRES zum Tanzen (langes Set)"

https://www.tangomuenchen.de/de/tanzen/termin-details/event/event/show/kirchen-milonga-bravo-buenosayres-21-11-2023.html

Also: Wer sich vorher informiert hätte/hatte, konnte das wissen.

Lieber Gerhard, ich habe manchmal deine scharfen Artikel gegen bestimmte (nicht nur traditionelle) Meinungshengste der Tango Szene für etwas übertrieben, bzw. für ein Nischenphänomen gehalten. Jetzt habe ich in München selbst erlebt, wie hart dort vermeintliches „Fehlverhalten" angegangen wird – auch gegen die erklärte Absicht der Veranstalter:innen. Wenn ich etwas empfindlicher wäre, würde ich mich von sowas sicher einschüchtern lassen.

Deshalb hier meine Bestätigung für deine Arbeit: Deine Artikel sind richtig und wichtig. Danke!

An einem Punkt möchte ich dir jedoch widersprechen: Du hattest neulich geäußert, dass du oft das Feedback erhältst, dass es an anderen Orten besser sei, aber dass du (sinngemäß) glaubst, dass vielfach die Tango Szene durch die rosa Brille gesehen wird. Damals hatte ich mich schon gefragt, ob ich in all meiner Begeisterung für den Tango hier doch blinde Flecken habe oder gar meine eigene Sicht des Tango so durchsetze.

Jetzt kann ich sagen: Nein, anderswo ist es tatsächlich besser. In Darmstadt wäre – trotz deutlich kleinerer Tango Szene – die Veranstaltung voll gewesen. Und spätestens zum zweiten Lied wären die TänzerInnen auf die Tanzfläche geströmt. Und auch in der Fremde (national wie international) habe ich – nicht mal auf tatsächliches Fehlverhalten – so scharfe und massive Kritik erhalten. Natürlich ist meine Sicht nicht repräsentativ – aber in acht Jahren Tango habe ich sowas noch nicht erlebt. Erwäge tatsächlich, zur nächsten Veranstaltung (La Máquina Invisible, 6.2.2024) wieder nach München zu kommen. Um die Veranstalter zu unterstützen – und natürlich, um zu tanzen. Liebe Grüße von der Fahrt zurück nach Norden,

Carsten

***

Lieber Carsten,

ja, hier im Süden gehen die Tangouhren offenbar anders – Milongas, auf denen mal Piazzolla gespielt wird, sind äußerst rar. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich vom Eingreifen dortiger „Ordnungshüter“ höre. Und deren „Empathie“ verhindert es nicht, andere Gäste dumm von der Seite anzulabern.

Wir waren früher oft in München tanzen – inzwischen kaum noch. Langweilige Musik kann ich auch in meiner näheren Umgebung kriegen, ohne 80 Kilometer zu fahren und mir dann mühsam einen Parkplatz zu suchen.

Wenn es nördlich der Mainlinie besser aussieht, soll mich das freuen. Ich werde das aufmerksam verfolgen – aber auch in nördlicheren Regionen habe ich schon Veranstaltungen besprochen, die Lichtjahre von modernem Tango entfernt waren.

Wir wurden auch mal wegen unseres „Schlurfens“ kritisiert, und zwar von einem Paar, bei dem wir vor Urzeiten Tangounterricht hatten. Man bezichtigte uns seinerzeit des „Rassismus“, weil sintemalen in Argentinien die Weißen den Tanz der Schwarzen in dieser Weise persifliert hätten. Darauf muss man erstmal kommen! Es war damals für uns der Anlass, diese Tangoschule zu verlassen und Alternativen zu suchen. Wir fanden sie vor allem in… München. Tempi passati!

Auf einem großen Tangoball erlebten wir einmal, dass man plötzlich zum ersten Set eines Live-Ensembles nicht tanzen durfte, obwohl dies anders angekündigt war. Ich schrieb dazu einen meiner giftigsten Artikel:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/07/tanzverbot-fur-piazzolla.html

Und siehe da: Die Veranstalter hatten ein Einsehen und lassen seither die Leute schon zum ersten Set tanzen (selbst wenn dann einige murren…). Auch darüber habe ich berichtet:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/01/getanztes-konzert.html

Das sind so die kleinen Erfolge… Auf jeden Fall freut es mich, dass ihr euch getraut habt, „aus der Reihe zu tanzen“. Und man kriegt dafür auch so manche Zustimmung.

Gästen aus nördlichen Gefilden rate ich stets: Wenn ihr zum Tanzen nach München fahren wollt, macht Station in Pörnbach! Bei uns ist nicht nur die Musik besser, sondern auch das Sozialverhalten.

Danke und liebe Grüße

Gerhard

So eine langweilige Musik!

Kommentare

  1. lieber Carsten Buchholz, lieber Gerhard Riedl,

    mein Name ist Facundo Barreyra. Ich bin der Komponist, Arrangeur und Bandoneonist der Tango-Kammermusik und der Argentinischen Kammermusik, die wir letzten Dienstag in München gespielt haben.
    Zuallererst möchte ich die Situation von Herrn Carsten bedauern, denn von der Ankündigung bis zu meinem Willen haben wir immer gehofft, dass diejenigen, die die Musik fühlen und tanzen wollen, dies auch tun können.
    In diesem Sinne danke ich Ihnen, dass Sie dies respektvoll und leise getan haben, denn das Schöne an der von Daniela und Andreas organisierten Milonga ist, dass die Musik live und völlig akustisch ist. Keine Verstärkung. So erzeugt jeder Atemzug, jede Bewegung einen Klang, der sich in der Musik wiederfindet. Und das ist, für diejenigen, die es zu schätzen wissen, wunderbar.
    Ein Teil meiner Idee als Komponist und Arrangeur ist es, neue Musik und Erfahrungen zu bringen, zum Tanzen oder zum Zuhören, aber vor allem zum Teilen.
    MUSIC IS TO SHARE, NOT TO SHOW...
    Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und danke Ihnen, dass Sie da waren, für Ihre wunderbare Energie und für diesen Raum zum Teilen.
    Wir stehen Ihnen weiterhin zur Verfügung, um argentinische Kammermusik und Tango-Kammermusik an jeden Ort zu bringen, an dem Sie sie teilen möchten.
    Mit freundlichen Grüßen, Facundo Barreyra.
    www.bandoneon-music.com / argentinischemusik@gmail.com

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    1. Lieber Facundo Barreyra,

      danke für den freundlichen Kommentar. Was Sie über Ihre Kammermusik schreiben, kann ich absolut nachvollziehen. Mir ist auch das Leise, Filigrane lieber als das Gegenteil.
      Vielleicht ergibt sich einmal eine Gelegenheit, Ihre Musik persönlich zu erleben. Es würde mich freuen.

      Herzliche Grüße
      Gerhard Riedl

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  2. Lieber Carsten,
    es tut mir leid, dass Euch das auf unserer Milonga passiert ist. Um so mehr freut es mich, dass es Euch sonst gut gefallen hat und Ihr überlegt auf das nächste Konzert wieder zu kommen.
    Ich werde es das nächste mal am Anfang ansagen und vielleicht können wir auch was an den Stuhlreihen ändern. Wir machen das ja erst seit kurzem (das war das dritte Konzert) und lernen ständig dazu.
    Wir veranstalten die Konzerte um Musiker:innen eine Platform zu geben, wo sie ihre Werke präsentieren können. Wir decken nur unsere Kosten mit den Einnahmen, den Großteil bekommen die Künstler:innen. Übrigens: wenn ich auflege fehlt Piazzolla nie. Ich freu mich auf das nächste Mal!
    Herzliche Grüße
    Daniela

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    1. Liebe Daniela Groß,

      vielen Dank für den Kommentar - ich werde Carsten darauf aufmerksam machen.
      Schön, dass ihr zu eurer Ankündigung steht und Carsten sowie seine Partnerin in Schutz nehmt.
      Falls es meine Termine erlauben, werde ich an eurer nächsten Veranstaltung teilnehmen und auch ein wenig Werbung dafür machen.

      Beste Grüße
      Gerhard Riedl

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  3. Herzlichen Dank, lieber Gerhard!
    Ich freu mich dich eventuell am 6.2.24 kennen zu lernen.
    Liebe Grüße
    Daniela

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