Im Tango-Tal der Ahnungslosen
Tal der Ahnungslosen lautete der sarkastische DDR-Ausdruck für solche Gebiete, in denen Westfernsehen und der westliche UKW-Rundfunk nur schwer oder gar nicht zu empfangen waren. Ursprünglich wurde damit das Dresdner Elbtal bezeichnet, sukzessive weitete sich dieser Begriff auch auf jene Gebiete aus, in denen dies ebenfalls der Fall war. (…)
Die Bewohner dieser Gebiete galten in der DDR als schlecht informiert, weil sie nur über freie Informationen der Lang-, Mittel- und Kurzwellensender sowie der zensierten DDR-Medien verfügen konnten: Das betraf etwa 15 % der Bevölkerung der DDR.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tal_der_Ahnungslosen
Ich meine, dies ist auch der Wohnort eines beträchtlichen Teils der heutigen Tangoszene bei uns. Immer wieder lese ich, DJs müssten „mehrheitstauglich“ auflegen, die Besucher wünschten das Format der „traditionellen Milongas“.
Leider stimmt das sogar. Ebenso, wie sich in der früheren DDR immer wieder Mehrheiten für die Kandidaten der „Nationalen Front“ ergaben – nur an den Manipulationen bei den Wahlen kann es wohl nicht gelegen haben. Solche Phänomene sind stets eine Kombination von gesellschaftlichem Druck und mangelnder Information.
Wer es heute im Tango wagt, Partner verbal aufzufordern, etwas exzessiver zu tanzen, die vorgeschriebenen Spuren der Ronda zu missachten, sich seine Aktivität nicht durch Cortina-Grenzen einengen zu lassen oder sich gar zu „konzertanten Klängen“ zu bewegen, hat einen schweren Stand. Er oder sie wird zum Außenseiter in der Bussi-Bussi-Gesellschaft – ebenso wenig von Bruderküssen traktiert wie früher im Reich des irrealen Sozialismus.
Erst recht natürlich, wenn es ein Blogger wagt, lästerlich-liberale Texte zu veröffentlichen, gar den ideologisch gefärbten Wust ins Lächerliche zu ziehen. Selbst von ansonsten dem Kuscheljournalismus verschriebenen Podcastern wird er dann hochnotpeinlich befragt – oder von den Wichtigen der „gesellschaftlichen Kräfte“ gleich ganz ignoriert. Wo nicht, muss er sich heftiger persönlicher Anfeindungen erwehren, bekommt von altgedienten Bewahrern der Tangoriten seine völlige Ahnungslosigkeit attestiert – und im Hintergrund versucht die „Tango-Stasi“, ihm Verstöße gegen das Urheberrecht zu unterstellen, ihn der Steuerhinterziehung zu bezichtigen oder ihm strafbare Beleidigungen vorzuwerfen.
So, wie man halt in autoritären Regimen mit Abweichlern umgeht, um sie irgendwann „ganz legal“ vor Gericht stellen zu können.
Bevor nun in gewissen Kreisen die Schnappatmung einsetzt: Ich beurteile hier nicht den Grad der Repression, sondern ihre Mechanismen. Einstweilen schützt ja noch unser Grundgesetz Blogger davor, juristisch verfolgt, eingesperrt oder umgebracht zu werden. Ich fürchte aber, dies betrachten inzwischen manche als übertriebene Schonung…
Bevor man also im Tango von „Mehrheiten“ faselt, sollte man bedenken, wie diese zustande kommen: Ich kenne Dutzende von Tangofreundinnen und Freunden, die weniger oder gar nicht mehr tanzen gehen, weil man sie mit langweiliger Musik, hierarischem Getue sowie steifen Reglements vertrieben hat. Wären die geblieben, hätten wir im Tango eine andere personelle Zusammensetzung.
Vor allem aber ist heute die Generation am Ruder, die nicht viel länger (meist deutlich kürzer) als zehn Jahre in der Szene aktiv ist. Die haben nie eine andere Musik gehört als die dogmatischen Zusammenstellungen der jetzigen DJs. Und jene legen bekanntlich die Titel auf, welche „zum Tanzen gedacht“ waren. Wer da denkt, bleibt offen.
Sollte der eine oder die andere schon mal was von Astor Piazzolla gehört haben, ist spätestens bei Namen wie Eduardo Rovira oder Omar Valente Schluss – und endgültig nur das Testbild erscheint bei Musikschaffenden wie Raúl Garello, Leopoldo Federico, Anja Stöhr, María Graña, Maria Volonté, Adriana Varela, Ariel Ardit, Luis und Lidia Borda, Susana Rinaldi und vielen anderen.
Wen’s interessiert – zum Nachlesen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/08/der-club-der-toten-tangos.html
Und was man nicht kennt, vermisst man auch nicht.
Daher hat man derzeit im Tango fast nur die Wahl zwischen dem altbekannten Museumsprogramm oder – in weniger häufiger Ausgabe – der Berieselung mit irrtümlich „Neotango“ genannter Popmusik. Die riesige Welt dazwischen findet praktisch nicht statt – so wie früher die „Tagesschau“ im Elbtal: beides eine Informations- und Kulturvernichtung größten Ausmaßes.
Neulich war ich auf einer der bei uns höchst seltenen Veranstaltungen, welche ein wahrhaft vielfältiges Musikprogramm bieten. Immer wieder stelle ich dabei fest: Man tanzt dort wesentlich besser als auf den üblichen Events. Warum? Weil es der DJ oft wagt, nicht nur „schwierigere“ Musik aufzulegen, sondern auch den Charakter der Stücke unmittelbar hintereinander zu ändern. Da kann man nicht die ersten dreißig Sekunden verquatschen, sondern muss aufmerksam zuhören, um sich den veränderten Klängen neu anzupassen: Hochspannung statt gepflegter Langeweile.
Wenn ein altgedienter Tangolehrer mir immer wieder versichert, gute Tanzende fielen nicht vom Himmel, hat er im Prinzip recht. Häufig entstehen sie durch ein vielfältiges und anspruchsvolles Musikprogramm.
Klar kann man über die Tanda- und Cortinastruktur unterschiedlicher Auffassung sein – nur: Wer von den heutigen Besuchern hatte überhaupt die Chance, öfters zu einer anders aufgebauten Playlist zu tanzen und so zu beurteilen, wie er damit zurechtkommt? Und dass kein Blitz vom Himmel fährt, wenn nach einer Milonga mal ein Vals kommt – vielleicht sogar von einem anderen Orchester?
Und wer hat noch erlebt, wie entspannt es auf einer Milonga zugehen kann, wenn es sowohl Männern als auch Frauen erlaubt ist, einfach auf einen Wunschpartner zuzugehen und ihn oder sie um einen Tanz zu bitten? Dass es dabei nur in verkalkten Tangohirnen zu einer sexuellen Nötigung kommt? Dafür aber zu interessanten neuen Begegnungen und jeder Menge Spaß?
Wer hat schon einmal probiert, auf dem Parkett einfach dorthin zu tanzen, wo Platz ist, die Augen auf die Umgebung und nicht die Füße zu richten, sich rücksichtsvoll statt vorschriftsmäßig zu bewegen? Und das ohne die geringsten seelischen oder gar physischen Schäden aller Beteiligten – falls man in der Kunst des Navigierens geübt ist! Dass es besser ist, anderen Raum zu geben statt Recht zu haben?
Dass man sogar in Jeans und Sneakers hervorragend tanzen kann? Im Extremfall selbst einem Tangolehrer widersprechen darf?
Der heutigen Tangogeneration fehlt die Erfahrung, wie locker es im Tango zugehen könnte, wenn man auf Schubladen, Ausgrenzung und Hierachie verzichtet und zugesteht, dass andere anders spinnen dürfen als man selber?
Auf meinem Blog habe ich eine dreistellige Zahl von Musikaufnahmen veröffentlicht, mit denen ich zeigen will, welche Schätze sich im Tango verbergen, wenn man nur nach ihnen suchen würde. Von konservativer Seite ernte ich dazu donnerndes Schweigen. Ich fürchte, die hören da lediglich undefinierbare Geräusche. Stattdessen ernte ich Hohn und Spott, wenn ich mal die Phrasierungen simpel erkläre oder gar ein eigenes Tanzvideo verlinke. Hauptsache Krawall!
In meinem Alter sollte man sich
nicht mehr aufregen. Schließlich habe ich den Tango noch von einer schöneren
Seite erlebt und kann immer noch da und dort – vor allem auf dem heimischen Parkett –
meine Minderheits-Leidenschaften ausleben. Vergleichbar mit den
DDR-Bürgern, die noch eine wahre Demokratie – vor 1933 – erlebt hatten. Der
große Rest hielt die Volkskammer für ein richtiges Parlament. Oder traute sich
jedenfalls nicht, dies anzuzweifeln. Und es verschaftt ein unvergleichliches Wohlgefühl, mit vielen anderen gemeinsam zu irren.
In dem Fall gilt halt der Wahlspruch der Ahnungslosen:
„Die EdO in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“
Kommentare
Kommentar veröffentlichen