Silly Walks
Auf dem Facebook-Tangoforum, aus dem man nicht zitieren darf, herrscht seit einiger Zeit ziemlich tote Hose. Aber immerhin hat vor fast einem Monat ein Kommentator eine Frage gestellt, die allgemeines Interesse erregte:
„Wer war denn schon mal auf Tango Encruentos? Welche waren gut? Ich erlebe diese Veranstaltungen so: Hohe Kosten (100 Euro für die Buchung, 100 Euro Hotel, 100 Euro Anreise), wenig Spaß (schlechte TänzerInnen) – aber alle fühlen sich wohl... oder?“
Ich würde schon mal empfehlen, es zuerst richtig schreiben zu lernen und sich erst dann anzumelden. Zudem scheinen mir die aufzuwendenden Gelder am unteren Rand des Wahren zu rangieren.
Leider verzettelt sich die Debatte teilweise in finanzielle Betrachtungen über die ökonomischen Probleme der Veranstalter. Diese scheinen mir aber nicht unüberwindbar, da Formate wie Encuentros, Marathons und Festivals derzeit offenbar schwer angesagt sind – jedenfalls, wenn man die viele Werbung dazu verfolgt.
Jedenfalls handelte sich der Kollege für seine tendenziöse Anfrage schon mal einen heftigen Rüffel ein:
„Mit dieser destruktiven und verzerrenden Sichtweise bleibst du am besten einfach zu Hause, damit die anderen sich weiter wohlfühlen können.“
Inzwischen ist jedoch an diesem Ort die gepflegte Schreibe Vorschrift, so dass der Autor sich gleich eine Ermahnung eines Moderators einfing.
Also versuchte es der Kritiker nun sachlich:
„Du hast eine polemische Formulierung gewählt, die eine Sachdiskussion schwer macht. Die bezweifelst implizit, ob irgendwelche Encuetros gut sind/waren, und stellst aus deiner Sicht negative Aspekte in den Vordergrund. Es ist in diesem Kontext nicht mal klar ob selbst dein Tippfehler (Encruento statt Encuentro) abwertend gemeint ist.
Du stellst unrealistische Forderungen an den Preis (100 Euro für eine Veranstaltung von Freitag bis Sonntag) ist in Anbetracht der Kosten für den Veranstalter nicht teuer, waren selbst vor Corona nicht teuer. Die Anreisekosten und Unterkunftskosten hast du selbst in der Hand, die sind bei einem Encuentro nicht höher als bei einem Marathon oder Festival.
Du wertest pauschal die Tänzerinnen dort ab, indem du sie als schlecht bewertest. Die Tänzerinnen sind übrigens nicht dazu da, dich zu bespaßen, da gehören beide Seiten dazu. Worauf basiert deine Aussage zur Tanzqualität? Welchen Einfluss haben die Führenden auf die Qualität und was ist dein Anteil daran?
Bist du bereit, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass Encuentros sehr gute Veranstaltungen sind?“
Himmel… nächste Schreibweise: „Encuetros“… na gut.
Die Antwort des Gescholtenen:
„Danke. Ich gehe zuerst auf Deine Fragen ein.
‚Worauf basiert deine Aussage zur Tanzqualität?
Die Aussage basiert auf eigene Erfahrungen der letzten Veranstaltung. 75% der Täzerinnen waren nicht in der Lage grundlegende Kriterien zu erfüllen.
‚Welchen Einfluss haben die Führenden auf die Qualität und was ist dein Anteil daran?‘
Führende und insbesondere > Ich wir haben einen großen Einfluß.
‚Bist du bereit, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass Encuentros sehr gute Veranstaltungen sind?‘
Ja, ich warte noch auf gute Vorschläge! Ob diese Veranstaltung in der Regel sehr gut sind, bezweifele ich. Dazu habe ich leider viele schlechte Veranstatungen besucht.“
Ja, was auch immer er besucht haben mag…
Ein anderer Schreiber berichtet, bei
einem Encuentro zugelassen worden zu sein, nachdem er zunächst eine „Aufnahmeprüfung“ zu absolvieren
hatte, ob er und seine Begleitung „regelkonform“ tanzen konnten. Da wäre ich natürlich gerne dabeigewesen...
Von der Qualität des Events war er aber enttäuscht:
„Letztlich waren die Rondagestalter nicht halb so achtsam wie von mir erwartet. Auch dort die üblichen Narzissten (vielleicht etwas weniger als sonst, aber es reichen ja wenige, um eine Ronda zu zermurksen), die nur um sich und ihre Partnerin kreiseln und null achtsam mit den umgebenden Tanzpaaren sind. Das fand ich sehr schade. Diesbezüglich hatte ich mir wesentlich mehr Rücksicht und ‚gemeinsames‘ Tanzen versprochen.“
(Bei Begriffen wie „Rondagestalter“ könnte ich niederknien…)
Weiterhin vermisste er rollenwechselnde Teilnehmer. Wahrscheinlich waren nicht mal Wolpertinger anwesend…
Neben vielen Nebensächlichkeiten fiel mir dann doch der längere Kommentar einer Tänzerin auf, der mir zu denken gab:
„Ich kann gerne von meiner persönlichen Erfahrung berichten. Ich bevorzuge eindeutig reguläre Milongas und finde, es ist ein nicht leugbares Problem für die lokalen Szenen, dass die Leute, die auf hohem und sehr hohem Niveau tanzen, sich z.T. fast nur noch bei Encuentros einfinden. Sie fehlen einfach auf den Milongas. Bzw. sie fehlen MIR. Ich war vor kurzem in Wien bei einer regulären Milonga und war überrascht, in einer so großen Stadt so wenig sehr gute Tänzer*innen zu treffen. Dann erzählte mir jemand, dass es die schon gäbe, aber sie gingen halt nach Ungarn, nach Italien usw. Warum ist das so? Darüber könnte man mal nachdenken.
Für mich ist die Lösung im Moment, dass ich in vollen Zügen auch mal ein Encuentro, aber max. einmal im Jahr, genieße, denn ich möchte mich auch einfach mal fordern und die Höhen des Tangohimmels erleben. Sorry für die etwas pathetische Ausdrucksweise, aber es ist tatsächlich so: Da, wo ich hingehe, habe ich so viel Spaß und Wow-Tandas am laufenden Band, davon zehre ich wochenlang. Nur da werde ich auch mal gefordert, und mein Körper hat so viel gelernt nach 3 Tagen stundenlangem Tanzen. Es ist einfach genial. Liebe Menschen, tolle Musik usw., es stimmt einfach für mich. Aber ich würde nie meine lokalen Milongas verlassen dafür, weil es auch noch andere Werte gibt, als toll zu tanzen, z.B. Freunde zu treffen, zu DJen und vieles andere.
Worüber man wirklich nachdenken sollte ist, wie wir mal zu einem besseren Tanzniveau gelangen könnten, und damit meine ich nicht nur technisches Können, aber auch. Dazu gehört vieles, die Musik, die Ronda etc. Ich tanze seit über 20 Jahren und ich kenne so viele total nette Leute, die sich einfach in dieser Zeit nicht oder kaum tänzerisch entwickelt haben, weil sie nichts dafür tun (warum auch immer). Und dann werden sie älter und das ist besonders für die Frauen ein riesiges Problem, weil die Kombination ‚mittelmäßig tanzen‘ und ‚ältere Frau‘ leider oft dazu führt, dass sie dann bei der Milonga sitzenbleiben. Ich sehe es jede Woche. Natürlich spielen da auch noch andere Aspekte mit hinein – aber vielleicht müssten nicht so viele Menschen zu Encuentros ‚abwandern‘, wenn wir dafür sorgen könnten (Ideen dazu gibt es reichlich), dass die Leute Spaß daran kriegen ihren Tanz weiterzuentwickeln.“
Quelle:
https://www.facebook.com/groups/tangoforum/permalink/2622432851257502
Ich mag die Aussagen der Schreiberin nicht einfach abtun. Und das Tanzniveau auf durchschnittlichen lokalen Milongas ist, da stimme ich ihr zu, ziemlich lausig.
Doch liegt das am Wegbleiben der Encuentro-Fans? Ich glaube nicht. Klar, wer ein paarmal im Jahr solche Events besucht und dort ganze Wochenenden von vormittags bis nach Mitternacht tanzt, noch dazu zu einer immer wieder ähnlichen Musik, erwirbt eine hohe Geläufigkeit in dieser Disziplin. Sprich: Auf engstem Raum reduzierte Choreografie abzuspulen. Das kann sich ziemlich perfekt anfühlen, schöpft aber nur einen kleinen Teil der tänzerischen Optionen aus. Der Rest ist mehr oder weniger verboten.
Zudem steigt der subjektive Erlebniswert, wenn man als Gast akzeptiert werden muss und hohe Gebühren zu entrichten hat. Jeder Künstler weiß: Was wenig bis gar nichts kostet, wird auch weniger geschätzt.
Weiterhin bin ich nicht sicher, ob es den meisten Besuchern
wirklich vorwiegend ums Tanzen geht. Das Gefühl, bei etwas Exklusivem
mittun zu dürfen, spielt sicherlich eine wichtige Rolle. Außerdem wird immer
wieder die „Verbindung“ beschworen (zum Tanzpartner, der „Ronda“ und zu allen
Gästen), der Eindruck, an etwas Großem und Hehren beteiligt zu sein – in Harmonie
mit einer sich bewegenden Masse, einer Art „Gruppenmeditation“. Und natürlich herrscht das Gefühl, unter Gleichgesinnten zu weilen.
Die Faszination kollektiv gleichartiger Bewegungen kennen wir ja auch vom Militär oder den Karnevals-Tanzgarden.
Auf den „normalen“ Milongas treffen sich dagegen eher Hobbytänzer, die weder Zeit noch Geld für solche Tourneen haben. Vielleicht nicht mal Lust. Leider ist die Musik dort oft ganz ähnlich wie die auf Encuentros. Eine Herausforderung, sich tänzerisch weiterzuentwickeln, ist somit nicht gegeben – da ändern gelegentliche Kurse und „Workshops“ nur wenig. Zudem wird auch dort oft genug die Beachtung tänzerischer „Regeln“ vorausgesetzt, welche Fantasie und Kreativität weiter einschränken.
Daher wäre ich auf die Vorschläge der Schreiberin gespannt, wie die Leute Spaß daran haben könnten, ihren Tanz weiterzuentwickeln! Für mich steht und fällt das Problem mit der angebotenen Musik.
Aber es muss sich ja keiner verbessern – Tango ist kein Leistungssport, sondern für viele nur ein nettes Hobby. Und natürlich habe ich nichts dagegen, wenn Leute fasziniert von Encuentros sind. Für mich wäre es – nicht nur altersbedingt – ein Horror, ein ganzes Wochenende lang zu „EdO-Druckbetankung“ (so nannte es Kollege Kröter einmal) vorschriftmäßig im Gegenuhrzeigersinn fürbass zu schreiten. Auch deshalb, weil ich mich als Gourmet und nicht als Gourmand sehe.
Da käme ich mir ähnlich bescheuert vor wie bei Monty Pythons „Ministry of Silly Walks“ – eine hinreißende Satire:
https://www.youtube.com/watch?v=iV2ViNJFZC8
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Ministry_of_Silly_Walks
Hah - die KoKo-Gruppe - lang ist's her, mächtig "retro" wie das längst untergegangene TanzMitMir-Forum.
AntwortenLöschenIch war noch dieses Jahr auf einem kreuztraditionellen Encuentro, bei dem der Organisator z.B. keine führenden Frauen wünschte. Und man muss sich schwer davor hüten, daraus Rückschlüsse auf andere Aspekte abzuleiten. Ich habe dort von zwei DJs einiges über moderne Milonga-Tandas gelernt. Ebenso gaben sich die Anwesenden "ganz normal", hatten viel Erfahrung und konnten alle auf engem Raum gut tanzen. Die (dort also nicht) excellent führende Frau, welche ich dorthin begleitet habe, hatte offenkundig gute Gründe teilnehmen zu wollen.
Letztendlich ist es ebenso "retro" und "silly" einer derartigen Veranstaltung beizuwohnen, wie auf privaten Milongas der ausgelassenen Stimmung in einem Augsburger Tangoverein während der Anfangszeit des vergangenen Tango-Booms nachzuhängen.
Lieber Martin,
Löschennach wie vor bewundere ich deine Fähigkeit, beim Kommentieren von Artikeln deren Inhalt höchstens zu streifen.
Was sollen wir nun aus deinem anekdotischen Beweis ableiten? Dass es offensichtlich eine Frau gab, die an einem Encuentro teilnehmen wollte, obwohl sie dort nicht führen durfte? Und dass es dort auch mal DJs gibt, die etwas vom modernen Tango wissen? Dass es auf Encuentros Gäste gibt, die „ganz normal“ erscheinen und sogar tanzen können?
All das mag sein, und es gibt sicher sehr unterschiedliche Gründe, an solchen Events teilzunehmen. Ich habe einige davon angesprochen. Das alles widerlegt aber nicht meine Ansicht, dass dort eine musikalisch und tänzerisch stark reduzierte Form von Tango geboten wird, die 95 Prozent der Tangokultur ignoriert.
Meine Artikel mögen durchaus „retro und silly“ erscheinen – aber immerhin hänge ich einer Art des Tangos nach, die es vor 20 Jahren gab – und nicht vor 80.
Beste Grüße
Gerhard
Hallo Gerhard,
Löschenok - ich sehe das empirisch so:
Die Teilnehmer von Encuentros liegen nach meiner Einschätzung - bei der Tanzerfahrung - im oberen Quartil einer mit überwiegend traditioneller Musik bestückten Milonga, wie sie wohl jeder kennt. Dazu passend sind sie auch etwas älter als der Durchschnitt. Und sie haben anscheinend die finanziellen Mittel für Wochenendreisen.
Daraus - wie eingangs geschildert - ableiten zu wollen, dass die Teilnehmer hervorragende Tänzer sein müssten, finde ich gewagt. Das hat mir noch kein Veranstalter zugesagt und letztendlich tanzen nicht viele im Alter von 65 besser als sie es mit 55 Jahren taten. Also sowas kann einem ein gutes Wochenende bescheren, muss es aber nicht. Auch andere Rückschlüsse halte ich für Kopfkino.
Selbstverständlich deckt jede kulturelle Veranstaltung nur einen Teilbereich der Kultur ab, ein anderer Anspruch wird auch kaum erhoben. Und ich bezweifele einfach mal, dass es vor 80 Jahren Veranstaltungsformen gab, die einem Encuentro ähnelten - allein schon das Format eines organisierten Tangowochenendes wird es noch nicht länger als 25 Jahre geben.
Und wer an einer Veranstaltung teilnimmt, fehlt möglicherweise auf einer anderen, logisch. Bei einer kleineren Gruppe wohl eher als bei einer größeren, auch logisch.
Tanzfreudige Grüße, Martin
Lieber Martin,
Löschenich glaube ebenfalls nicht, dass es sich bei den Gästen von Encuentros um besonders gute Tänzerinnen und Tänzer handelt – eher um Spezialisten einer sehr reduzierten Tanzform. Aber das Argument von der „Abwanderung der Eliten“ liest man halt immer wieder. Daher bin ich darauf eingegangen.
Und klar, dieses Veranstaltungsformat wurde in Europa erfunden, nicht in Argentinien. Daher ist die Verwenung des Begriffs „traditionell" sehr fragwürdig.
Ferner bezweifle ich, dass man ein Event, bei dem Leute zu historischen Musikkonserven tanzen, als „kulturelle Veranstaltung“ bezeichnen kann. Es handelt sich eher um Freizeittreffen mit einer sehr verengten Musikauswahl. Man sollte dann aber aufhören, sich als „Bewahrer des Tango-Weltkulturerbes“ zu gerieren. Dazu würde viel, viel mehr gehören.
Beste Grüße
Gerhard