Zwei Tänze namens Tango

 

Zum Thema „Erfahrung statt Information“ erhielt ich nun einen interessanten Kommentar meines Lesers Ralph Byrszel, der seit fast 20 Jahren Tango tanzt. Er schreibt unter anderem:

„Das meiste habe ich mir selber beigebracht und / oder bei anderen abgeschaut, und natürlich hunderte Stunden auf Milongas getanzt und natürlich auch mit sehr vielen verschiedenen Damen, von Anfängerinnen bis Tanzlehrerinnen.
Entscheidend sind für mich folgende Aspekte:
Musikalität, Kreativität, keine Angst, etwas falsch zu machen, immer wieder etwas ausprobieren, Freude am Experimentieren (…)

Es geht also um den eigenen Ausdruck, den eigenen Stil.
Ich finde inzwischen nichts langweiliger als Damen, die schon lange tanzen, aber immer nach Schema F und von mir als Mann erwarten, dass ich sie über die Tanzfläche schiebe, also Damen ohne die geringste eigene Note, ohne jede Kreativität, halt einfach passiv. Und oft habe ich den Eindruck, dass das Tänzerinnen sind, die schon etliche Kurse gemacht haben, aber immer nur etwas nachmachen und nie etwas Eigenes zum Ausdruck bringen. Aber das ist für mich, was Tanz und insbesondere Tango ausmacht, wenn beide sich einbringen und wenn es dann nur so sprüht und funkt und etwas Gemeinsames in der Kommunikation entsteht.
Und sowas entwickelt sich meiner Meinung nach eher nicht durch viel Unterricht, sondern den Mut zum Experimentieren auf den Milongas, und mit vielen verschieden Tanzpartnern!“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/04/erfahrung-statt-information.html?showComment=1700099432171#c7953412096017253493

Die Gegenposition dazu habe ich neulich von jemandem gehört, der weniger als 10 Jahre tanzt:

„Also, ich muss sagen, ich genieße so manche Parkettregeln auch – es gibt ja so ganz wilde Tänzer, die immer kreuz und quer tanzen. Das stört auch in der Verbindung, muss ich sagen, weil für mich die Verbindung im Tango total wichtig ist, und da stören mich schon Leute, die ständig überholen, die querbeet tanzen, unheimlich schnell durch sind. Das ist natürlich deren Freiheit, aber da finde ich manche Tangoregeln gar nicht so störend.“

https://www.tango-talk.de/podcast/

Ich verbiss mir damals die Antwort: „Dann lern halt navigieren!“

Was mich anschließend ins Grübeln brachte: Zirka 30 Jahre trainierte ich mit meiner Frau Standard- und Lateinamerikanische Tänze. Gemeinsam überlegten wir nun, ob uns mal ein Trainer auf spezielle „Parkettbenutzungs-Regeln“ angesprochen hatte – oder ein Tanzlehrer auf die „korrekte Art des Aufforderns“. Mir fiel dazu nur folgende Situation ein: Einer unserer Lehrmeister machte uns mal darauf aufmerksam, es käme beim Turnier bei den Wertungsrichtern nicht gut an, in ein anderes Paar hineinzurauschen oder es grob zu behindern. Da müsse man mit Punktabzügen rechnen. Ansonsten kannten wir natürlich die Tanzrichtung gegen den Uhrzeigersinn und forderten höflich und freundlich auf. Das war’s dann schon!

Im Tango dagegen nimmt seit mehr als 15 Jahren die oft hitzige Debatte über diese Fragen kein Ende und wird häufig mit Vokabeln wie „Rücksichtslosigkeit“ und „Nötigung“ geführt. Wieso also dieser krasse Unterschied?

Wenn ich solche Fragen mit Leuten diskutiere, die schon 20 und mehr Jahre beim Tango sind, wissen die häufig genau, wovon ich rede. Vor allem, wenn sie sich davor oder parallel dazu mit anderen Bewegungsformen beschäftigten – und das taten viele.

Bei Menschen, die erst 10 oder weniger Jahre beim Tango aktiv sind, ernte ich meist Unverständnis – sie wissen gar nicht, worum es mir dabei geht. Typisch für solche Karrieren ist auch, dass sie erst in mittleren Lebensjahren zu unserem Tanz gestoßen sind und vorher nichts anderes auf dem Parkett unternahmen. Sie glauben daher, die heutige Form des Tango sei die allein „angemessene“.

Daher komme ich immer mehr zu der Überzeugung:

Es handelt sich um zwei Tanzarten, die beide das Etikett „Tango“ beanspruchen.

Die eine, mit der wir es damals zu tun hatten, lebte vor allem von Neugier und Spaß an der Bewegung. Dazu regte uns vor allem eine sehr vielfältige Musik an, die mit durchaus unterschiedlichen Tanzstilen interpretiert wurde. Und die Abwesenheit von Zwängen und Regeln. Tango war „ideologiefrei“. Ziel war nicht, so zu tanzen wie andere, sondern neue Einfälle zu probieren, einen eigenen Stil zu entwickeln. Maßstab war die Reaktion unserer Tanzpartner: Wenn es denen gefiel, war alles in Ordnung. Auf dem Parkett wartete ein Abenteuer.

Heute dagegen wird die Tanzfläche als bedrohliche Umgebung empfunden, auf der man zur Absicherung strenge Gesetzmäßigkeiten benötigt. Die oft sehr ähnliche und austauschbare Musik regt nicht zur kreativen Gestaltung an. Eine Fülle von „Códigos“ überschwemmt die Milongas mit ideologischen Schranken, welche oft die Funktion haben, dass Tänze gar nicht stattfinden, weil man mit dem komplizierten Regelwerk nicht zurechtkommt. Ziel ist es, so zu tanzen wie alle anderen. Abweichungen sind gefährlich und führen häufig zu Ausgrenzungen.

Tango wird mehr als Risiko denn als Spaß empfunden. Eine von den üblichen Rhythmen abweichende Musik gar als illegaler Angriff und Gefährdung der tänzerischen Souveränität.

Lustig finde ich, dass man in der heutigen Szene so viel Wert auf „Traditionen“ legt und dabei ignoriert, dass die alten Milongueras und Milongueros aus den „Goldenen Zeiten“ alles dafür taten, sich von der Konkurrenz mittels eines eigenen Stils abzuheben. Tango wurde also sehr wohl nach „außen“ getanzt, um sich auf den Milongas einen Namen zu machen. Heute dagegen ist es das oberste Ziel, im „Gänsemarsch“ (sic!) hintereinander herzudackeln. Und das natürlich total introvertiert.

Als man vor gut 15 Jahren begann, für den regelbewehrten Tango" zu trommeln, war die Behauptung, man wolle ja nur die authentische" Form zurückhaben  und verkaufte das als Fortschritt". Darauf muss man erstmal kommen!

Ist im Sinne der Dialektik eine Synthese überhaupt noch möglich? Ich glaube, man müsste anerkennen, dass jeder Paartanz ein Ausdruck individueller Freiheit ist, aber natürlich seine Grenzen in der gegenseitigen Rücksichtnahme hat. Man sollte akzeptieren, dass diese Grenzen fließend sind und darf auf Abweichungen nicht panisch reagieren.

Die Berliner Tangolehrerin Vio TangoForge hat eine entsprechende Milonga einmal so beschrieben:

„Wenn Paare einander berührten, war die Haltung generell: ‚Bitte unterbrich mich nicht mit einer Entschuldigung‘.

Wenn man auf dieser Veranstaltung etwas Außergewöhnliches machte, lächelten die Leute dich an. Anstatt einer egozentrischen Haltung zum wahren Besitzstand auf dem Parkett war die Reaktion: ‚Oh, das sieht cool aus. Braucht ihr ein bisschen mehr Platz? Dann gehen wir hier hinüber.‘”

https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/09/was-ihnen-ihr-tangolehrer-nicht-erzahlt_29.html

Weniger konstruktiv ist die Einstellung, welche bestenfalls als Grabstein-Inschrift passt:

„Ich hatte Vorfahrt!“

P.S. Hier noch ein kleiner Tanz von Vio:

https://www.youtube.com/watch?v=mgPE8pWOsQo

Kommentare

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