Tanzen mit der Kinderseele

 

Um noch einmal auf meinen letzten Artikel zurückzukommen: Muss man im fortgeschrittenen Alter wirklich so sterbenslangweilig tanzen?

Per Zufall stieß ich auf ein Video, das mich atemlos machte: Auf der Straße ist ein älterer Herr mit einem deutlich jüngeren Energiebündel zugange. Zum fordernden Rhythmus der „Milonga de Buenos Aires“ (Francisco Canaro, 1939) zieht vor allem die Partnerin eine riesige Show ab. Und der Tanguero akzentuiert die Impulse und lässt sie machen. Wie schön!

Danach zeigen die beiden, was man aus der tausendfach abgenudelten Cumparsita herausholen kann. Und die Tänzerin bietet eine ordentliche Portion Leidenschaft, während er für die rhythmische Basis dieses Tanzes sorgt.

Viel Vergnügen beim Zusehen!

https://www.youtube.com/watch?v=SGl3o1rzK74

Über das Tanzpaar habe ich wenig herausgefunden: Der Mann heißt wohl Alfredo di Marco und ist leider vor drei Jahren verstorben – seine Partnerin wird in einem Kommentar „Lourdes“ genannt. Offenbar verdienten sie ihr Geld bei Straßen-Auftritten.

Das Video wurde vor 13 Jahren ins Netz gestellt und erzielte unglaubliche 2,5 Millionen Aufrufe. In den meisten der über 600 Kommentare werden die beiden hymnisch gelobt – meist in spanischer Sprache. Deutsche Beiträge habe ich keine entdeckt.

Zu kritischen Anmerkungen finden sich Texte wie diese:

„Welche Technik? Warum beschweren sie sich über die Technik? Das ist ein schöner Tango; er ist fröhlich, lustig, spontan. Ich glaube nicht, dass sie sich in den Vorstädten zu viele Gedanken über die Technik gemacht haben. Tanz ist Leben, und das sollte in einer Aufführung gezeigt werden, unabhängig davon, ob es Technik gibt oder nicht. Das Paar erfüllt diese Erwartung. Man sieht ihnen an, dass sie Spaß an dem haben, was sie tun.“

Ein anderer Schreiber nennt Alfredo di Marco „ein großes Kind“, welches ihn mit seiner „Verrücktheit zum Lachen gebracht“ habe.

Ich finde, der Vergleich trifft es sehr gut: Wenn man sich nicht seine Kinderseele, den unbändigen Spaß am Tanzen bis ins hohe Alter bewahrt hat, sollte man lieber mit dem Tango aufhören – oder gar nicht erst anfangen.

Mir fällt dazu ein anderes Tanzpaar ein, das ich neulich in meiner Facebook-Gruppe vorgestellt habe. Speziell mit Tango haben die beiden Blues-Tänzer nichts zu tun. Dennoch könnten wir uns eine Scheibe davon abschneiden, was Adamo über sich und seine Partnerin Vicci sagt:

Für uns geht es beim Führen und Folgen darum, auf die Energie des anderen zu hören und darauf zu reagieren. Beide Partner sind gleichermaßen für den Tanz verantwortlich. Beide Partner sind für ihre eigene Bewegung und Flow verantwortlich. Der Leader ‚bewegt' den Follower nicht, sondern schlägt stattdessen einen Weg vor, damit der Follower sich selbst bewegen kann. Auf seine eigene, einzigartige Weise.“

Wir glauben daran, uns selbst treu zu sein, wenn wir tanzen, und bevor wir irgendeine Demo oder Aufführung starten, schauen wir uns immer an und sagen: ‚Lass uns zusammen sein und Spaß haben‘. Für uns nimmt das den Druck weg. Wir fühlen uns nicht gestresst davon, beeindrucken zu müssen. Wir wollen nur wir sein. "

https://www.facebook.com/groups/709302360797483

https://www.facebook.com/watch/?ref=saved&v=109684085510949

Das waren ungefähr die Worte, welche Karin und ich vor jedem Turnierstart zueinander sagten: „Egal, wie es ausgeht – Hauptsache, wir haben Spaß dabei. Und nur dann können wir unsere Freude dem Publikum übermitteln.“

Ich muss bei diesem Thema immer wieder an die Frage denken, die uns einmal eine heftig übende Anfängerin stellte: Wie lange es bei uns im Tango gedauert habe, bis wir dabei Spaß empfunden hätten?

Ohne den hätten wir gar nicht erst angefangen! Und dieses Gefühl begleitet uns immer noch. Auf jeder Milonga – oder zu Hause im Wohnzimmer.

Tango wird nach meinem Eindruck immer verkopfter. „Experten“ liefern gehirnkribbelnde Urteile, wie gut oder schlecht ein Tanz zu bewerten sei. Mit der Betonung auf „Ex“…

Leute, dimmt die Birne und geht aufs Parkett! Nur dort werdet ihr fühlen, was euch bewegt. Und wenn sich da nichts tut: Lasst es lieber!

Und der Tango kommt von der Straße – und nicht aus den Ballsälen. Lassen wir daher noch einmal zwei „große Kinder“ tanzen:

https://www.youtube.com/watch?v=EQNJfWiAS28

Kommentare

  1. Ich habe die Beiden bereits 2002 anlässlich des Tangofestivals „CITA 2000“ in demselben Kaufhaus tanzen sehen und war von der überschwänglichen Tanzfreude beeindruckt

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    1. Ja, schade - ich hätte die beiden auch gerne mal live gesehen. Ich finde, sie zeigten, was beim Tangotanzen wichtig ist: unbändige Lebensfreude. Und nicht automatenhaftes Abspulen von Figuren.

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