Tango und Schlaraffen
Langweilige Milongas ertrage ich oft in der Hoffnung auf eine Idee für einen neuen Artikel. So war es auch neulich, als die Musik sowie die automatisierten Bewegungen auf dem Parkett mich so überhaupt nicht motivierten.
Eine Tangofreundin, welcher es wohl ähnlich erging, fragte mich angesichts des optischen und akustischen Elends:
„Tanzen ist doch eigentlich ein Ausdruck persönlicher und künstlerischer Freiheit. Warum sieht man davon so wenig? Wieso tanzen die immer wieder das Gleiche zu derselben Musik?“
Ich antwortete ihr:
„Ich glaube, es geht hier nicht wirklich um einen Tanz, sondern um ein Ritual. Ziel ist nicht die Umsetzung individueller Ideen, sondern das Zelebrieren einer stets gleichen Form, der ‚traditionellen Milonga‘. Hierfür gibt es einen Kodex von Vorschriften, welche genau einzuhalten sind. Dazu gehören halt auch tänzerische Bewegungen auf dem Parkett – als Ritual, für das es ebenfalls genaue Handlungsanweisungen gibt. Würden die wirklich die Musik hören und dazu tanzen, müsste ihnen das stets ähnliche Geplürre nach Jahren ellenlang zum Hals heraushängen.“
Wir hielten uns dann nicht sehr lange auf und beschlossen, uns lieber auf den Heimweg zu machen. Bei solchen Eindrücken werden mir die Beine schwer, und die Sinnfrage lähmt mich zusätzlich.
Auf der Fahrt nach Hause fiel mir die Geschichte mit den Schlaraffen ein:
Es muss wohl an die zwanzig Jahre her sein, als mich eine sehr lieber Berufskollege, mit dem ich in der Lehrer-Teeküche so manchen kabarettreifen Dialog führte, zu einer Veranstaltung der „Schlaraffia“ einlud. Er meinte, dies sei die passende Umgebung für mich.
Was ich dort erlebte, war wirklich ein Ritual vom Feinsten:
Diese Gruppierung wurde 1859 vom einem Prager Theaterdirektor und einer Gruppe junger Schauspieler und Intellektueller gegründet. Anlass war, dass einem von ihnen die Aufnahme in eine Künstlervereinigung wegen seiner „proletarischen Herkunft“ verweigert wurde. Daher entstand eine eigene Bruderschaft, in der man sich mit erfundenen Ritter-Riten über den Standesdünkel der besseren Kreise lustig machte.
Rasch bildeten sich im deutschsprachigen Raum weitere Gruppierungen der „Schlaraffen“ – heute zählt diese Vereinigung über 9000 Mitglieder in vielen Teilen der Welt. Amtssprache ist jedoch Deutsch.
Die „Allmutter Praha“ ist längst untergegangen – dennoch verehrt man sie, ähnlich wie im Tango Buenos Aires, bis heute. Ziel ist die Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor. Daher sind auf den Veranstaltungen („Sippungen“) Debatten über Beruf, Politik und Religion verboten.
Der Wahlspruch lautet: „In arte voluptas“ („In der Kunst liegt das Vergnügen“). Wappentier ist der (mit einem Auge zwinkernde) Uhu als Vogel der Weisheit. Die Zeitrechnung der Schlaraffen beginnt mit der Gründung 1859 – folglich schreibt man 2023 als „anno Uhui“ („a.U.“) 164.
Der Name leitet sich von dem mittelhochdeutschen Wort „slur affe“ („sorgloser
Genießer“) ab – im Gegensatz zu den „Schlurf-Affen“ unseres Tanzes.
Die Schlaraffen unterscheiden streng zwischen der internen Welt („Uhuversum“) und dem Leben außerhalb („Profanei“). Mit der Gleichberechtigung hat man wie im Tango Probleme: Aufgenommen werden nur Männer, welche „unbescholten“ sein müssen und „in gesicherter Position“ leben. Zu einzelnen Treffen werden aber auch die Lebenspartnerinnen eingeladen.
Auch die Hierarchie ist – ähnlich dem Tango – durchaus fühlbar. Interessenten dürfen zunächst als Gast bzw. „Pilger“ teilnehmen, bei ernsthafter Absicht durchlaufen sie die Phasen des „Knappen“ und „Junkers“, bevor sie mit Mehrheitsentscheid zum „Ritter“ geschlagen werden. Dann tragen sie als Zeichen ein Ornat aus buntem Stoff, ein Holzschwert und eine Art Faschingskappe („Helm“) mit ihrem Bruderschafts-Namen. Wie mir mein Kollege erklärte, ist diese Kopfbedeckung während der „Sippungen“ unbedingt zu tragen, denn: „Ein Schlaraffe ohne Helm ist unsichtbar.“ Übrigens ist er auch unhörbar, wenn der einen Diskussionsbeitrag nicht mit den Worten „Schlaraffen hört“ beginnt! Ähnlich dem Cabeceo…
Der Versammlungsleiter („Oberschlaraffe“, Anrede: „Eure Herrlichkeit“) ist während der Sippungen „erleuchtet“ und daher „unfehlbar“. Da denkt man doch sofort an Tangolehrer…
Die wöchentlichen Zusammenkünfte eines Ortsvereins („Reych“) bestehen aus zwei Teilen. Zunächst der formelle Abschnitt („Ambtshandlungen“) mit Begrüßung der Gäste („Einreiten“ externer Ritter) und der Verlesung des Protokolls. Nach der „Atzung und Labung“ (Essen und Trinken) gibt es dann die „Fechsungen“ – eine bunte Folge von Beiträgen einzelner Ritter. Jeder darf eigene Texte oder auch die anderer Autoren vortragen bzw. Musikbeiträge liefern. Humor ist erwünscht, Sarkasmus oder Schlüpfrigkeiten sind dagegen verpönt. Oberste Ziele sind das Vergnügen an der Kunst und die Pflege der Freundschaft.
Applaus ist unüblich, stattdessen wird Gelungenes mit dem Ausruf „Lulu“ („ludum ludite“ - „spielt das Spiel") gefeiert, Unerwünschtes mit „Ul ul“.
Besonders possierlich und durchaus mit dem Tango vergleichbar ist ein eigenes „Schlaraffenlatein“ mit rittertümlichen Spezialausdrücken: „Burgfrau“ nennt man die Gattin, „Burgschreck“ die Schwiegermutter. Ein Auto wird als „Benzinross“ bezeichnet, als „Seufzerholz“ eine Geige, als „Kniewinsel“ ein Cello – und „Minneholz“ lautet der Name für eine Gitarre. Klingt ganz nach „Mirada“, Ronda“ oder „Códigos"…
https://de.wikipedia.org/wiki/Schlaraffia
Wahrlich ein seltsames Völkchen! Die Idee einer Persiflage
des Obrigkeitsdenkens fand ich allerdings genial – ob manchen Schlaraffen immer
noch klar ist, dass es sich dabei um bestes Kabarett und nicht die Wirklichkeit
handelt, steht freilich dahin. Aber vielen dürfte im Gegensatz zum Tango schon bewusst sein, dass sie Quatsch machen.
Nach meinem Besuch damals hatte ich mich aber entschieden, doch lieber dem Tango den Vorzug zu geben. Nicht nur, weil mir die viele Sitzerei nicht behagte – es war mir denn doch zu viel Ritus und Formalität. Der Tango versprach mehr Freiheiten.
Leider bin ich dadurch in weit schlimmere Rituale geraten – man könnte die üblichen Tanzaufführungen durchaus als „Ambtshandlungen" bezeichnen. Und wöchentlich neue „Fechsungen“ darf ich selber schreiben…
Wenn ich die vielen Zwänge im heutigen Tango
bedenke, kann ich verstehen, dass der Uhu mit einem Auge zwinkert. Inzwischen könnte ich „Ritter" sein!
Blöder Vogel…
P.S. Hier noch ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit einem „Oberschlaraffen“:
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