Meine Milonga-Códigos
Meine beiden letzten Artikel enthalten jeweils Aussagen von Tangolehrerinnen, denen es wohl ein Anliegen ist, Gäste zu belehren, wie man sich auf den Milongas zu verhalten habe. Was mich dabei besonders fasziniert: Sie verkünden Regularien, die ich in Varianten schon hundertmal gehört habe.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/07/die-schopfung-der-kron.html
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/07/mittendrin-ist-auch-daneben.html (im Video ab 2:57)
Ich frage mich, ob solche Aussagen wirklich auf der Basis eigenen Nachdenkens erfolgen oder nicht doch auf das zurückgehen, was Leute wie der Blogger Cassiel seiner Glaubensgemeinde vor vielen Jahren eingetrichtert haben – und das seitdem die eine dem anderen nachplappert.
Seltsam: Bei sonstigen Anlässen sozialer Art – ob nun Theaterbesuchen, Geburtstagsfeiern oder Beerdigungen – habe ich nie das Bedürfnis bemerkt, den Beteiligten exakt zu erklären, was sie zu tun oder lassen hätten.
Dabei dürfte es doch unbestritten sein, dass man Bühnenaufführungen nicht durch laute Gespräche stören sollte. Ebenso kommt es nicht gut an, bei einem Wiegenfest ohne Geschenk zu erscheinen oder bei einer Beerdigung herzlich zu lachen (selbst wenn die Predigt des Pfarrers dazu Anlass geben sollte).
In all diesen Fällen scheint es einen unausgesprochenen Comment zu geben, was als „unschicklich“ oder „geschmacklos“ gilt. 99 Prozent der Menschen halten sich auch ohne strenge Belehrungen daran – und das restliche Hundertstel wird man auch durch Veröffentlichung von Gesetzlein nicht davon abhalten können, sich danebenzubenehmen. So ist halt das Leben…
Nur im Tango halten es einige offenbar für nötig, den lieben Mitmenschen mit seltsamen Anweisungen (gerne ergänzt durch Schemazeichnungen mit Tanzspur-Pfeilen) auf den Geist zu gehen. Und was mich noch mehr rätseln lässt: Viele lassen sich davon beeindrucken und messen dem Ganzen eine Bedeutung zu, welche mit dem Gedöns über hehre „Traditionen“ noch überhöht wird.
Wer daran zweifelt, bekommt (wie ich) dann gerne attestiert, er lehne im Tango „alle Regeln“ ab – oder, wie mir einmal ein Kommentator beschied: Wegen „Quertreibern“ wie mir habe man diese überhaupt erst einführen müssen! Na immerhin…
Ignoriere ich tatsächlich im Tango alle Vorschriften? Nun orientiere ich mich auch im restlichen Leben schon mal an den Zehn Geboten und den über 350 Paragrafen des Strafgesetzbuchs – eine Menge Holz, wie ich finde.
Dennoch habe ich einmal versucht, meine „Tango-Códigos“ zu beschreiben – aber Achtung: Das sind meine – ich versuche nicht, sie anderen aufzudrängen. Schließlich bin ich kein „traditioneller Tänzer“!
Ball flach halten
Wenn ich auf einer Milonga erscheine, halte ich das nicht für ein bemerkenswertes Ereignis. Natürlich freue ich mich, wenn der Veranstalter mich kurz begrüßt – und ich werde dies auch mit mir bekannten Gästen so halten. Ich sehe jedoch keinen Anlass zu riesigem Getue oder zum gegenseitigen Austausch unserer Biografien der letzten Jahre.
Weiterhin werde ich mich von Gruppen fernhalten, die mit lautem Gegacker die Musik übertönen. Und alle Gäste haben das Recht, mich als privaten Besucher und nicht als Tangoautor kennenzulernen. Meine literarischen Ideen kann man nachlesen. Live-Debatten zu Tangothemen halte ich für absolut unnötig.
Ich meine, als Gast sollte man generell dezent und unauffällig auftreten. Einen „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ lehne ich ab.
Vor allem der Musik zuhören
Früher dachte ich, dies sei das Hauptinteresse von Teilnehmern einer Milonga. Inzwischen weiß ich: weit gefehlt! Für viele scheint die Musik lediglich ein nicht weiter interessanter Bestandteil zu sein – damit man im Fall des Falles was zum Tanzen hat. Was dann im Einzelnen gespielt wird, ist eigentlich egal – es darf nur nicht zu sehr von den bisherigen Hörgewohnheiten abweichen.
Vor diesem Hintergrund finde ich es bizarr, dass es haufenweise Auflege-Experten gibt, die sich in kilometerlange Diskussionen darüber begeben, wie denn ein „vorschriftmäßiges“ Musikprogramm auszusehen habe – obwohl es de Facto keine Sau interessiert.
Mich und einige wenige ausgenommen. Ich höre aufmerksam zu und mache mir meine Gedanken, die ich jedoch nicht laut äußere. Dann weiß ich nach einiger Zeit, ob ich an dem Abend viel oder wenig tanzen werde. Aber in über 3000 Milonga-Besuchen habe ich noch nie einen DJ wegen seiner Auswahl angemotzt. Obwohl es Anlässe genug gegeben hätte.
Erstmal gucken
Je nach Besucherzahl weiß ich nach zehn bis dreißig Minuten, wer alles mit wem da ist und wie die einzelnen Gäste tanzen. Das ergibt eine Liste von Kandidatinnen, mit denen ich es gerne einmal auf dem Parkett probieren möchte.
Voraussetzung ist aber, dass eine Frau mich überhaupt bemerkt. Die Damen verfügen oft über subtile Mittel, einem das zu signalisieren. Das Risiko, jemanden aufzufordern, der mich bislang ignoriert hat, gehe ich meist nicht ein. Daher hole ich mir auch fast nie einen Korb.
Wie ich dann auffordere, hängt von der genauen Situation ab. Erfahrungsgemäß ist es das Einfachste, hinzugehen und zu fragen. Da ich in der Regel ahne, dass die Betreffende eh nichts dagegen hat, treten so gut wie nie Probleme auf.
Dann möglichst fühlen
Beim Tanz mit einer Unbekannten achte ich zunächst ausschließlich darauf, wie sie sich gerne bewegen möchte. Dem passe ich mich an – auch wenn es mir nicht gefällt. Machtspiele („der Mann führt“) erzeugen nur Missmut und Verkrampfung. Und ich bin nicht dazu da, der Frau den Abend zu versauen! In vielen Fällen schaffe ich eine ausreichende Harmonie und kann sogar einige meiner Ideen einbringen.
Im Endeffekt weiß ich nach drei Stücken ziemlich genau, ob es mit uns beiden funktioniert oder nicht. Wenn wir das nicht hinbekamen, ist die Dame zukünftig vor weiteren meiner Aufforderungen sicher. Und wenn ich mich mal getäuscht haben sollte, kann sie ja mich zu einem Tanz bitten. Körbe gebe ich keine.
Navigieren statt dirigieren
Irgendwelche Direktiven, wie ich die Tanzfläche genau zu benutzen hätte, lehne ich ab. Klar passe ich mich den üblichen Bewegungsrichtungen an und versuche, niemanden zu behindern oder schlimmer noch: im Weg zu stehen. Ich setze allerdings voraus, dass auch die anderen Tanzenden ein wenig auf ihre Umgebung achten und halbwegs navigieren können. Man spielt auch nicht lange in einer Fußballmannschaft, wenn man nie den Ball trifft oder die Pässe zum Gegner spielt. Und verletzt sich eher.
Wenn die Piste zu voll ist, bleibe ich lieber sitzen. Dann wird es mir zu gefährlich – und Spaß macht es eh keinen.
Tanzen ist Privatsache
Ich versuche, mich als Gast dezent und rücksichtsvoll zu benehmen – weigere mich aber strikt, mich von selbsternannten Expertinnen und Experten mit einem künstlichen Regelwerk überziehen zu lassen oder gesagt zu bekommen, wann ich einen Chiropraktiker oder Osteopathen brauche. Wir sind weder in einer Klinik noch auf einem Kasernenhof! Tanz ist für mich ein völlig individueller Ausdruck, welcher exakt zwei Personen berührt: meine Partnerin und mich.
Zusammengefasst lauten also meine Milonga-Códigos:
· Augen auf
· Ohren auf
· Klappe zu
· Fühlen statt führen
· Selber machen
Ein international bekannter Tangostar bestellte vor Jahren eines meiner Bücher und sandte es mir mit einem heftigen Verriss zurück. Darin schrieb er unter anderem:
„Tango ist Freiheit, wussten Sie das?“
Ich antwortete darauf:
„Doch, Herr …, ich schon!“
In diesem Video kann man das gut erkennen:
https://www.youtube.com/watch?v=u4QeWsmrTmU&t=190s
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