Boris hat das böse Wort gesagt

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer steht wieder einmal im Zentrum öffentlicher Empörung. Letzten Freitag geriet er anlässlich einer Konferenz über Migration und Pluralität an der Frankfurter Universität mit einer Gruppe von Studierenden aneinander, welche gegen „Rassismus“ demonstrierte. Heute ja eine beliebte intellektuelle Freizeitbeschäftigung…

Bei der erregten Debatte, die mehr aus einem Anschreien bestand, wurde Palmer daran erinnert, dass er ja schon mal das böse „N-Wort“ benutzt habe. Er bestätigte das, wies aber darauf hin, dass es dabei stets auf den Kontext und nicht auf ein einzelnes Wort ankomme.

Daraufhin wurde Palmer, der als Referent eingeladen war, von den jungen Leuten, auch in Sprechchören, als „Rassist“ und „Nazi“ tituliert. Der ließ sich schließlich zu einer Replik hinreißen, die bei ihm immer mal wieder in die Kategorie „goldene Zitate“ passt:

„Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem Ihr alles andere festmacht. Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man für Euch ein Nazi. Denkt mal drüber nach.“

Ein kurzes Video dazu findet man auf dieser Seite:

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/palmer-judenstern-n-wort-100.html

Offenbar verteidigte er seine Haltung auch in der Konferenz, woraufhin er Polizeischutz benötigte.

Nun sträuben sich natürlich, wie Tucholsky es genannt hätte, „die Katerschnurrbärte“.

In Windeseile erklärte der Präsident der Goethe(!)-Universität Frankfurt, Prof. Enrico Schleiff:

„Jede explizite oder implizite den Holocaust relativierende Aussage ist vollkommen inakzeptabel und wird an und von der Goethe Universität nicht toleriert – dies gilt gleichermaßen für die Verwendung rassistischer Begriffe. Palmers Rechtfertigungsversuche der Verwendung des von ihm gewählten Wortes während der Tagung verurteile ich aufs Schärfste und akzeptiere dies weder persönlich noch als Präsident. Daher erwarte ich nicht nur eine öffentliche Entschuldigung von Herrn Palmer an die von seiner Beleidigung betroffenen Personen, sondern auch an die jüdische Gemeinschaft und gegenüber der Goethe-Universität.“

https://aktuelles.uni-frankfurt.de/mitteilungen-des-praesidiums/stellungnahme-praesidium-der-goethe-universitaet-verurteilt-rassistische-und-holocaust-relativierende-wortwahl/

Der ebenfalls bei der Konferenz aktive hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) verlautbarte:

„Die Wortwahl und die Beiträge von Boris Palmer an der Universität Frankfurt sind indiskutabel. Derartige Provokationen leisten Spaltung, Ausgrenzung und Rassismus Vorschub. Sie schaden in einer Debatte, die mit Sensibilität und Ernsthaftigkeit zu führen ist.“

Die Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Emily Büning, kündigte bereits dunkle Konsequenzen an:

„Das Ruhenlassen einer Parteimitgliedschaft erfolgt nicht ohne Grund. Der neuerliche Tiefpunkt von Boris Palmer kann trotzdem nicht so stehen bleiben. In aller Klarheit: Rassistische Äußerungen & die Relativierung des Leidens von Jüd*innen im 3.Reich verurteilen wir aufs Schärfste.“

Auch sein grüner Anwalt Rezzo Schlauch kündigte Palmer nun Freundschaft, politische Loyalität und sogar juristische Vertretung:

„Keine noch so harte Provokation, keine noch so niederträchtigen Beschimpfungen und Beleidigungen von linksradikalen Provokateuren rechtfertigten, eine historische Parallele zum Judenstern als Symbol der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland herzustellen. Da gibt es nichts mehr zu erklären, zu verteidigen oder zu entschuldigen."

Der arme Boris, von Feind und sogar Freund verlassen – was wird nun aus ihm?

Ich schlage vor: Er ist seit 2007 Tübinger Oberbürgermeister und wird es voraussichtlich noch bis 2030 bleiben. Bei der Wiederwahl 2022 trat er als unabhängiger Kandidat an, da die grüne Partei seine Mitgliedsrechte ruhen ließ. Sein Wahlkampf wurde durch ein Bürgerkomitee unterstützt, das Spenden von Privatleuten sammelte. Er gewann bereits im ersten Wahlgang mit 52,4 Prozent der Stimmen, seine grüne, aber farblose Gegenkandidatin musste mit 22 Prozent eine deftige Schlappe einstecken – und das bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von 62,6 Prozent!

Auch damals gab es bereits heftige Debatten über diverse Palmer-Sprüche, die ihm von seinen Gegnern so negativ wie möglich ausgelegt wurden. Sie haben dem Stadtoberhaupt zu bundespolitischer Bekanntheit verholfen – und natürlich auch die Tatsache, dass die grüne Vorzeigestadt Tübingen – im Gegensatz zu Berlin – 2030 klimaneutral werden dürfte. Die Bürgerinnen und Bürger wissen also, was sie an ihm haben. Auch wenn manche meinen, sie hätten auf die eine oder andere Palmer-Sentenz verzichten können.   

Aber da ist der gute Boris halt sehr der Sohn des „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer, der in der Nazizeit und danach darunter zu leiden hatte, einen jüdischen Vater zu haben. Er kämpfte jahrzehntelang gegen Behördenwillkür und politischen Filz und saß immer mal wieder im Gefängnis. Auf Facebook meint Boris Palmer in einem Offenen Brief an den Präsidenten der Goethe-Universität:

Eine Gruppe von Studierenden Ihrer Universität hat mich gestern Abend in aller Öffentlichkeit und ohne jeden Anlass lautstark beschuldigt, Nazipropaganda zu verbreiten.

Ich erklärte ihnen daraufhin, dass mein jüdischer Großvater vor den Nazis fliehen musste und die Gräber meiner Vorfahren mit Hakenkreuzen beschmiert wurden. Das taten die Studierenden als belanglos ab und setzten ihre Beschimpfungen als ‚Nazi‘ und ‚Rassist‘ fort, weil ich ihrer These widersprach, dass allein die Verwendung bestimmter Begriffe einen Menschen zum Rassisten mache.

Meine Familie konnte sich dem Judenstern durch Flucht gerade noch entziehen. Mein Vater Helmut wurde in der Schule mit dem Namen ‚Moses‘ gerufen und nach dem Krieg mehrfach zu Haftstrafen verurteilt, weil er Nazis Nazis nannte. Durch die Begriffe ‚Rassist‘ und ‚Nazi‘ mit den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte in Verbindung gebracht zu werden, ist für mich schlicht unerträglich. Das habe ich auszudrücken versucht. (…)

Es ist für mich zutiefst enttäuschend, dass Sie kein kritisches Wort für die den Eklat bewusst provozierenden Studierenden finden, die mir in äußerst aggressiver und verletzender Weise begegnet sind, ohne mich zu kennen oder mir auch nur die Chance für eine Begründung meiner Position zu geben. Den starken Polizeischutz empfand ich leider als bitter notwendig für meine Sicherheit.“

https://www.facebook.com/ob.boris.palmer/posts/pfbid032VrUTJLm3m8FuR3sXfoj7W6SgaTdnJYeByy1rJPtdq4dKs4Gry9YCHxKgrD4goMxl

Boris Palmer wird damit keine Einsicht erzeugen – dazu sind die Köpfe ideologisch zu betoniert. Halten wir also fest: Der Oberbürgermeister muss sich als „Rassist“ und „Nazi“ bezeichnen lassen. Das stellt keine relativierende Verharmlosung der braunen Diktatur dar – sein Judenstern-Vergleich aber schon. Darf man die jungen Herrschaften, die den „Vierteljuden“ Boris Palmer anpöbelten, „Antisemiten“ nennen?

Ein wenig erlebe ich das ja auch als Blogger: Mich kann man beschimpfen und herabsetzen – wenn ich darauf (selten einmal) grob reagiere, schreit man sofort Zeter und Mordio. Nein, Leute, so wird das nichts!

Boris Palmer ist (schon aus genetischen Gründen) ein rhetorisches Super-Talent. Und er beherrscht wie wenige auch die Fähigkeit zur pointierten Provokation. Das kann man mögen oder hassen – nur: Leute wie ihn kriegt man nur in „Werkseinstellung“. Er ist ein Politiker mit Ecken und Kanten, der sich stur Denk- und gar Sprechverboten widersetzt. Wem der übliche Typus mit vorgestanzten Patei-Parolen lieber ist, kann das ja per Wahlzettel kundtun.

„Ich weiche niemals“ war der Wahlspruch des „Remstal-Rebellen“. Ich glaube, der Sohn ist da nicht anders gestrickt.

Mit einigem Schmunzeln habe ich darüber nachgedacht, wie sich Vater Helmut in der aktuellen Situation verhalten hätte. Ich glaube, die präpotenten Grünschnäbel hätten froh sein müssen, nur einen der üblichen Palmer senior-Sprüche abzukriegen:

„Ihr eignet euch zur Politik und Demokratie wie der Igel zum Arschputzen.“

Edit (1.5.23): In einer persönlichen Erklärung hat Boris Palmer nun angekündigt, sich eine „Auszeit“ nehmen zu wollen und sich professionelle Hilfe zu holen. Vor allem mit Rücksicht auf sein Umfeld, dem er die ständigen Konflikte nicht mehr zumuten könne:

„Wenn ich mich zu Unrecht angegriffen fühle und spontan reagiere, wehre ich mich in einer Weise, die alles nur schlimmer macht.“

Seinen „Judenstern-Vergleich“ bezeichnete er als falsch.

Weiterhin erklärte er heute seinen sofortigen Austritt aus der grünen Partei.

Bleibt anzumerken, dass Palmer in Tübingen mehr ökologische Ziele verwirklicht hat als viele seiner Parteikollegen – und das in einer Weise, die vom Normalbürger verstanden wird.

Der Politiker wird seit Jahren in einer Weise attackiert, die mich atemlos macht. Dennoch wäre es sinnvoll, wenn er sich nicht durch jede Provokation zu heftigen Gegenreden animieren ließe.

Boris Palmer hat viel mehr erreicht als sein Vater Helmut. Es wäre sehr schade, wenn ihm dasselbe Schicksal bevorstünde.

P.S. Hier noch eine der eindrucksvollsten Reden von Boris Palmer:

https://www.youtube.com/watch?v=cw1B3PF-X-A

Kommentare

  1. "Eins ist mir klar: So geht es nicht weiter." "In seiner Auszeit werde er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen." (dpa).
    Eine gute Entscheidung, m. E.
    Gerhard?
    Beste Gruesse,
    Doris Lennart

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    1. Jedenfalls eine nötige - zu seinem Wohl und dem seines Umfelds.

      Ich hoffe nur, dass sich auch pöbelnde "Studierende" einer Antiaggressions-Therapie unterziehen - oder Leute, die Palmer Morddrohungen schicken.

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  2. Dieses permanente 'ICH-gegen-den-Rest-der-Welt' hat etwas Befremdliches.
    Immerzu provozieren, fuer welche Sache eigentlich? Hier stimmt etwas nicht mehr. Boris Palmer scheint dies fuer sich erkannt zu haben.
    Beste Gruesse, Doris Lennart

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    1. Ich glaube, wenn man mit 52,4 Prozent der Stimmen zum dritten Mal zum Oberbürgermeister gewählt wurde, kämpft man nicht gegen den "Rest der Welt".

      Befremdlich könnte man es auch finden, ständig mit zickigen Kommentaren belästigt zu werden, welche stets nur aus ein, zwei hingerotzen Sprüchen bestehen.

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  3. Boris Palmer sagte in einem Artikel des Süddeutsche Zeitung Magazin am 31. Januar 2019 selbst zu seinem Vater:
    "... er orientiere sich an der Liebe zur Natur und zur Bürger-Demokratie, die sein Vater empfand. Aber der ­Vater sei nicht nur Vorbild für ihn. Auch eine ständige Mahnung. Ein abschreckendes Beispiel. Der Vater habe viele Leute ungerecht behandelt. Und sei am Ende eine tragische Figur gewesen. Weil er sich so sehr im Recht fühlte, verrannte sich Helmut Palmer. Opferte viel. Verlor das meiste. Hasste alles. Sehnte sich doch nach Würdigung und Ruhe.

    Manchmal, sagt Boris Palmer, frage er sich, ob die Flüchtlingsfrage für ihn das sei, was die Apfelbäume für den Vater waren. "
    Das erklärt wahrscheinlich seinen Rückzug.
    Seine Mutter sagte über Ihren Mann, dass er ein schwieriger Mensch gewesen sei. Man kann also davon ausgehen, dass seine Familie auch sehr unter des Vaters Art und Auftreten gelitten hat, auch Boris Palmer.

    Hans-Peter Römer

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    1. Danke, Herr Roemer, der von Ihnen zitierte Artikel sagt viel.
      (Aber warum diskutieren wir Boris Palmer auf einem Tango-Blog?)
      Beste Gruesse, Doris Lennart

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    2. Weil's Ihnen einen Dreck angeht, worüber ich schreibe. Wieso kommentieren Sie dann ein tangofernes Thema?

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    3. Lieber Hans-Peter Römer,

      dass die Familie sehr unter dem Auftreten von Helmut Palmer litt, ist erwiesen. Aber er gilt heute als "Vater der Bürgerinitiativen" und hat ein ökologisches Bewusstsein geschaffen - lange bevor es Parteien wie die Grünen gab. Das sollte man sich ebenfalls ins Gedächtnis rufen.

      Danke und beste Grüße
      Gerhard Riedl

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