Astor Piazzolla zum Hundertsten

 

Am 11.3.1921 wurde im argentinischen Mar del Plata der wohl größte Tangokomponist aller Zeiten, Astor Piazzolla, geboren. Er würde also heute seinen 100. Geburtstag feiern. Tatsächlich starb er schon 1992 in Buenos Aires an den Folgen eines Schlaganfalls.

Im Tango-Internet wird man seit Tagen nicht müde, zu diesem Termin allerlei Jubiläumskonzerte mit seiner Musik anzukündigen. Einerseits freut mich das natürlich, andererseits kann ich mich in etlichen Fällen des Eindrucks der Heuchelei nicht erwehren:

Ich kämpfe nun seit über zehn Jahren dagegen, dass man Piazzolla in der deutschen Tangoszene weitestgehend ignoriert. Schlimmer noch: Die Urteile gingen von „dissonant“ über „gar kein Tango“ bis zu dem jahrelang verbreiteten Schwachsinn, diese Musik sei insgesamt „nicht tanzbar“.

Lange Zeit half es wenig, wenn ich dann auf Hunderte von Tanzvideos verwies, welche das Gegenteil belegen. Wie bei den Anhängern von Verschwörungstheorien oder wissenschaftlichen Unsinns wie der Botschaft von der flachen Erde weigerte man sich schlicht, Realitäten anzuerkennen.

Inzwischen liest man nun doch etliche Äußerungen, zu gewissen Stücken wie „Oblivion“ könne man im Extremfall schon tanzen – oder man ersetzt „nicht tanzbar“ durch „nicht zum Tanzen motivierend“.

Dabei haben die Anhänger Piazzollas in der deutschen Tangoszene nie behauptet, man könne oder müsse gar auf jede Komposition des Meisters tanzen. Es allerdings völlig auszuschließen und diese Musik Tangotänzern generell vorzuenthalten, ist ein künstlerischer Offenbarungseid.

2014 schon hat der Blogger Thomas Kröter einen Beitrag für die „Tangodanza“ geschrieben, den er vor zwei Jahren in überarbeiteter Form auf seiner Seite veröffentlichte: Wieso sollte man zu Piazzolla nicht tanzen? Ich halte seine Argumentation für grundvernünftig:

http://kroestango.de/aktuelles/zu-piazzolla-tanzen-warum-nicht/

Die Einstellung der – sagen wir mal – aufgeklärteren Betonköpfe hat der Münchner DJ Jochen Lüders hier niedergelegt:

https://jochenlueders.de/?p=13894

Wie dem auch sei: Die Milongas, wo wenigstens gelegentlich mal ein einfacheres Piazzolla-Stück wie „Vuelvo al Sur“ erklingt, kann man an einer Hand abzählen. Es bleibt also dabei: Diese Aufnahmen sind in der hiesigen Tangoszene kaum zu hören – so wie die von Carlos Gardel. Damit ignoriert man die beiden größten Künstler, welche der (argentinische!) Tango jemals hervorgebracht hat. 

Den Titel „Decarisimo“, eine Hommage auf den Musiker und Komponisten Julio de Caro (1899-1980), hat Piazzolla schon in den 1950-er Jahren komponiert. Inzwischen doch eine „Tradition“? Nein, natürlich nicht… 


https://www.youtube.com/watch?v=k9b-Nz8Pi7c

Meine frühen Begegnungen mit Astor Piazzolla sind untrennbar mit einem seiner Meisterwerke verbunden: „Balada para un loco“. Vor mehr als 15 Jahren hörten wir es von dem kolumbianischen Sänger Jaime Liemann, der mit seinem Ensemble „Youkali“ beim Tango auf der Münchner Praterinsel gastierte. In einer lauen Sommernacht war es das letzte Stück – und wir tanzten dazu keine drei Meter von den Musikern entfernt. Dieses Erlebnis werden wir nie vergessen.

Unserer Tangofreundin Manuela Bößel ging es in dieser Zeit wohl ähnlich. Ein Konzert mit diesem Sänger beeinflusste sie so nachdrücklich, dass sie es in einem Kapitel ihres Buches „So kann man das nicht sehen“ schilderte. Beim Erklingen der „Balada“ beschreibt sie ihre Gefühle so:

„ Ich setze mich verzweifelt auf meine Hände und knote die Füße um die Stuhlbeine. Geht es nur mir so? Ich will tanzen! Jaimes Tango und jeder folgende perlen mir direkt in die Seele, Gänsehaut an Herz und Armen. (…) Jaime singt mir derweil eine Maske nach der anderen vom Gesicht.“

Den gesamten Text kann man in ihrem Lesungsvideo (von 18:13 bis 22:43) hören:


https://www.youtube.com/watch?v=pP1RtdkE4Jw&t=1254s

Ich habe allein diesem Stück zwei Artikel gewidmet. In einem stelle ich die Originalversion der Sängerin Amelita Baltar sowie die Interpretation des Tanzpaars Hugo Mastrolorenzo und Agustina Vignou bei der Tango-Weltmeisterschaft vor.

http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/11/balada-para-un-loco.html

Und nachdem man mir dann vorhielt, der Text von Horacio Ferrer sei unverständlich, habe ich mich an seiner Deutung versucht:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/11/gedichtinterpretation-balada-para-un.html

Aber ich fürchte, auch dies wird nicht allen helfen. Wer jahrelang mit EdO-Gleichschritt sozialisiert wurde, dem wird das Empfinden für die Schöpfungen Piazzollas und Ferrers verloren gehen (falls er es je hatte).

Allen anderen kann ich nur raten, die momentane tangoarme Zeit zu nutzen und sich mit dem Komponisten und seinen Werken eingehender zu befassen. Ich habe die Vielfalt seines Schaffens in einem Artikel zusammenzustellen versucht – und dazu wichtige Interpreten aufgelistet. Hörbeispiele sollte man so in Hülle und Fülle finden!

http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/jede-menge-piazzolla.html

Und es wäre auch kein Fehler, einmal etliche Fakten zu Piazzollas Leben kennenzulernen. Damit es nicht langweilig wird, habe ich dazu ein Quiz erstellt:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/was-wissen-sie-uber-piazzolla.html

Einer meiner Leser hat mich dankenswerterweise auf eine aktuelle Rundfunksendung aufmerksam gemacht. Ich finde es höchst eindrucksvoll, wie man darin in 23 Minuten Leben und Werk Piazzollas vorstellt:

https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/astor-piazzolla-der-koenig-des-tangos/1820154

Wird die Missachtung Piazzollas zurückgehen, wenn die Milongas nach Corona wieder öffnen? Ich fürchte nicht – im Gegenteil: Die bis zum Abwinken gespielten EdO-Titel hat man ja ein Jahr oder länger nicht mehr gehört und wird es nun umso lieber wieder tun.

Eins steht aber fest: In Pörnbach werden wir zu Musik wie der folgenden auf jeden Fall wieder tanzen. Und der Titel des Stücks, das Piazzolla hier mit Gerry Mulligan interpretiert, passt ja irgendwie auch zum Thema…


https://www.youtube.com/watch?v=4GwK7jKW5B4

Kommentare

  1. eine ungeheuchelte sendung zu seinem 100. geburtstag kannst du heute ab 21 uhr auf neotango tv sehen.

    https://www.neotango.it/live/

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.