Multiples Tatsachen-Ignorieren
Nie musste Angela Merkel mehr weg als derzeit. Die bundesdeutsche Journaille übertrumpft sich gegenseitig mit Vokabeln von „Skandal“ bis „Chaos“.
Im „Spiegel“ beispielsweise diagnostiziert der talkshowerprobte Markus Feldenkirchen unter dem Titel „Multiples Politikversagen“:
„Die deutsche Politik taumelt von Coronagipfel zu Coronagipfel. Sie agiert kaum, sie reagiert nur noch. Und ihre Prioritätensetzung ist ein Skandal. (…)
Natürlich wollte kein deutscher Politiker dem Land und seinen Bürgern absichtlich schaden. Getan haben sie es trotzdem. In der Medizin würde man von multiplem Organversagen sprechen. Es wirkt daher höchst problematisch, wenn die Politik den Bürgern nun weitere Zumutungen abverlangt, obwohl sie selbst ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen ist.“
Aha. Welchen Verpflichtungen eigentlich? Dem Virus jegliche weiteren Ansteckungen zu untersagen? Oder was?
Klar kann man über viele Corona-Maßnahmen der Regierenden streiten. Auch über die Tendenz von Landesregierungen, mühsam zustande gekommene Absprachen am Morgen danach wieder in Frage zu stellen. Andere europäische Staaten, beispielsweise Frankreich, haben Zentralregierungen. Haben die es besser hinbekommen? Wie lief es denn in den letzten 12 Monaten in anderen Ländern?
Die Tatsachen kann man sich mit einigen Mausklicks besorgen:
Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus seit Dezember 2019 (Stand: 24.3.21)
USA 543849
Brasilien 298676
Mexiko 199048
Indien 160441
Ver. Königreich 126523
Italien 105879
Russland 94624
Frankreich 93065
Deutschland 75269
Spanien 73744
weltweit: 2736452
Das sieht schon bedrohlich aus: Deutschland auf dem 9. Platz. Allerdings muss man diese Zahlen in Relation zur Einwohnerzahl sehen, was dann einen anderen Eindruck ergibt:
Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus je Million Einwohner
Tschechien 2355
Belgien 1958
Ver. Königreich 1853
Italien 1753
USA 1675
Spanien 1577
Mexiko 1532
Peru 1516
Frankreich 1421
Brasilien 1399
Schweden 1317
Argentinien 1205
Chile 1164
Bolivien 1026
Deutschland 902
So gesehen nimmt Deutschland einen hinteren Platz ein. Weit schlechter steht das einst gepriesene Schweden da, gar nicht zu reden von einer Vielzahl anderer Länder. Schon vergessen, was da Leute wie Johnson, Trump, Bolsonaro und andere angerichtet haben?
Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Auslastung der Krankenhäuser. Mein Tipp: Googeln Sie mal „Intensivstationen überfüllt“ und ein Land Ihrer Wahl! Sie kriegen dann eine große Auswahl:
Portugals Kliniken im Ausnahmezustand
Medizinische Versorgung in Madrid steht vor dem Zusammenbruch
Corona-Krise in Frankreich: Die Situation ist dramatisch
https://www.tagesschau.de/ausland/corona-krise-frankreich-101.html
https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-belgien-101.html
Griechenland: Sorge um überfüllte Intensivstationen
Polens Gesundheitswesen vor dem Kollaps
https://www.dw.com/de/polens-gesundheitswesen-vor-dem-kollaps/a-55446648
Intensivstationen sind ausgelastet: Stockholm ruft um Hilfe
Für mich ein entscheidendes Argument, dass unsere Regierenden doch nicht alles falsch gemacht haben: In Deutschland konnten solche Krisen bislang vermieden werden. Im Gegenteil nahm unser Land wiederholt Patienten aus dem Ausland auf.
Natürlich auch deshalb, weil unser Land weltweit führend in der Versorgung mit Intensivbetten ist:
Aktuell konnte die Zahl der betreibbaren für Covid-19-Patienten geeigneten Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit auf mehr als 28.000 gesteigert werden. Zusätzlich steht eine Reserve bereit, die innerhalb einer Woche aktiviert werden kann. Diese Reserve schwankt je nach Personalsituation zwischen 10.000 und 12.000 Betten. Sie wird erst durch weiteres Rückfahren der Regelversorgung und weitere Maßnahmen verfügbar.
https://www.dkgev.de/dkg/coronavirus-fakten-und-infos/
Zahl der Intensivbetten pro 100000 Einwohner (Werte von 2016 bis 2020)
Deutschland (2017) 33,9
Österreich (2018) 28,9
USA (2018) 25,8
Frankreich (2018) 16,3
England (2020) 10,5
Spanien (2017) 9,7
Italien (2020) 8,6
Irland (2016) 5,0
Wie gesagt: Das kann keine Entschuldigung für falsche oder zu zögerliche Entscheidungen unserer Regierenden sein. Insbesondere bei den Impfstoffen hätte man die globalisierte Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus viel früher ahnen können. Oder dass die deutsche Überbürokratisierung nicht zur Problemlösung beiträgt.
Noch schlimmer finde ich es jedoch, dass unsere Medien ihre Kundschaft täglich mit einem neuen Aufreger versorgen, ohne den Blick – zumindest mal zwischendurch – auf das Große und Ganze zu richten. Die Abkehr vom multiplen Tatsachen-Ignorieren ergäbe ein etwas anderes Bild.
Die Bundeskanzlerin hat sich gestern für eine Einzelentscheidung entschuldigt. Nicht, weil sie sinnlos gewesen wäre, sondern, da sie in der kurzen Zeit nicht rechtssicher hätte durchgesetzt werden können. Dennoch steht doch für alle halbwegs Verständigen fest: Wer diese Ostern das große Reise, Shopping- oder Familienevent plant, hat einen an der Waffel.
Nicht zu erwarten ist freilich, dass sich nun alle entschuldigen, die ihren Urlaub auf Mallorca gebucht haben oder letzthin in Kassel für neue Ansteckungen gesorgt haben. Daher fürchte ich: Regierungsentscheidungen können sich nicht völlig vom Intelligenzgrad des Wahlvolkes abkoppeln. Und leider haben Politiker in einer Demokratie ein großes Problem: Sie müssen wiedergewählt werden…
https://www.youtube.com/watch?v=akusFhRhCNc
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