Deutschland, einig Nörgelland
Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt
Lass uns dir zum Guten dienen
Deutschland, einig Vaterland
(Johannes R. Becher, 1949)
Seit gut einem Jahr verfolge ich nun die Reaktionen von Volk und Medien auf die täglichen Corona-Sensationen – und bin heilfroh, in unserem Land keine Regierungsverantwortung zu tragen. Weder als Gesundheitsminister noch als Landrat, Bürgermeister oder gar Mitarbeiter im Gesundheitsamt: Arbeitstage bis zu 16 Stunden inklusive Dauerbeschimpfung. Was unsere offiziellen Stellen trieben, so das Fazit in den sozialen Medien, sei ausnahmslos schlecht, ja skandalös!
Die Aussetzung der laufenden Impfungen mit dem Vakzin von Astra Zeneca diese Woche hat die Empöreria wieder einmal auf die Barrikaden getrieben:
„Corona-Schock für Deutschland“ beispielsweise titelte am 15.3. die BILD-Zeitung. Passend dazu lässt sich der täglich grüßende Lauterbach mit der Ansicht zitieren, die Aussetzung der Impfung sei „ein klarer Fehler“ gewesen.
Aus der gegenüberliegenden Ecke und noch heftiger wird natürlich von denen geschossen, die schon immer gegen das Impfen waren. In meiner FB-Lieblingsgruppe für „alternative Medizin“ weiß man kaum noch, wie das Gepöbel noch zu steigern wäre. Kleine Kostproben (Post vom 15.3):
„Nach meiner Meinung ist so was fahrlässige Tötung. Wer übernimmt die Verantwortung? Herstellungsfirma oder die Politiker, die uns dazu zwingen versuchen?“
„Biontech Pfizer und Moderna, also die mRNA Impfstoffe sind noch viel gefährlicher, aber das wird von unseren scheiss Medien ja totgeschwiegen... Die Pandemie ist spätestens an Ostern offiziell zu beenden, sonst laufen wir gradewegs in eine Katastrophe...“
„der Sputnik ist sicher besser. Von Russland kommt besseres“
„glaube ich auch, aber dieser Impfstoff wird beukotiert“
„Stampft diesen Dreck ein – sofort!“
„samt die Hersteller und ihre Handlänger.“
Und dann noch „nRMA Substanzen“ – Gnade, es reicht!
https://www.facebook.com/groups/alternative.medizin.de/
Dabei sind solche Zeitgenossen doch die idealen Kandidaten für den umstrittenen Impfstoff: Schäden durch eine Hirnvenen-Thrombose wären ja nur zu erwarten, wenn es eine arterielle Versorgung des Denkorgans gäbe.
Glücklicherweise gibt es auch im Tangobereich genügend Menschen, die uns im zurückliegenden Jahr mit Lebensfreude beschenkten. So schrieb die Tangolehrerin Melina Sedó, die uns sintemalen mit der Erfindung der „traditionellen Milonga“ erfreute, am 16.3. auf ihrer Facebook-Seite unter anderem:
„Die deutsche Regierung ist super in Versprechungen, aber beschissen, sie einzuhalten. Deutschland ist weitaus weniger effizient als die Welt dachte. (…)
Das Lesen aller kreativen Wege, dieses katastrophale Jahr in eine Zeit produktiver Selbstreflektion und persönliches Wachstum zu verwandeln, wird mich nur wütend machen. Solche blauäugigen Ansichten sind genau der Grund, warum ich aufgegeben habe, als Psychologe zu arbeiten! Geld und die meisten menschlichen Kontakte entzogen zu werden ist schlimm, egal wie viele Blumen man pflanzt. Ein stabiles Einkommen und persönliche Freiheit kann nicht durch Yoga ersetzt werden.“
https://www.facebook.com/melina.sedo/posts/10158934405199323
Durch Tango übrigens auch nicht.
Lobend zu erwähnen sind hier auch Zeitendeuter wie der Münchner Tangofotograf Joachim Beck, der seit einem Jahr auf allen möglichen Tangoseiten den Bonsai-Lauterbach gibt. Meist gestützt auf umfangreiches Zahlenmaterial beweist er uns immer wieder: Es ist alles schlecht und wird noch schlimmer, weil die Repräsentanten des Volkes durchwegs inkompetent bis böswillig agieren.
Bliebe allerdings hinzuzufügen: Wenn solche Kritiker ein öffentliches Amt bekleideten, hätten sie in kürzester Zeit alle um sich herum so aufgebracht, dass effektives Arbeiten unmöglich wäre. Krisenbewältigung ist nämlich Teamarbeit.
Um nochmal auf das zurückzukommen, was man derzeit als „Impfchaos“ oder „Impfdesaster“ bezeichnet: Das wäre es, wenn – wie beispielsweise bei HIV oder Borreliose – kein Impfstoff gefunden worden wäre. Oder erst in zehn Jahren. So wie man bis jetzt kein voll wirksames Medikament gegen Covid-19 entdeckt hat. Dann bliebe nur, das Infektionstempo zu verlangsamen – und das über Jahre, bis irgendwann 60-70 Prozent der deutschen Bevölkerung die Infektion durchgemacht hätten. Eine sechsstellige Zahl weiterer Toter inklusive. Gut – so würde für die restlichen Senioren das Pflegepersonal reichen…
Was wir stattdessen momentan haben, sind vorhersehbare Einzelprobleme beim Impfen. Klar, dass es bei einem knappen Gut wie dem Vakzin weltweite Verteilungskämpfe geben würde! Und dass – wie bei den meisten Impfstoffen – Komplikationen vorkommen. Machen wir uns nichts vor: Diese Substanzen wurden mit heißer Nadel gestrickt. Dass es überhaupt so schnell gehen konnte, ist vor allem dem riesigen Kapitaleinsatz zu verdanken, mit dem man mal eben zehntausende Probanden auf einmal finanzieren konnte.
Daher, liebe Nörgler, haben unsere Behörden völlig richtig reagiert: Das Impfen zunächst einmal zu unterbrechen, bis die notwendigen Untersuchungen stattfinden konnten. Was für ein Geschrei wäre erklungen, wenn man weitergeimpft hätte und sich dann gravierendere Folgeschäden ergeben hätten? Aber gut – Gejammer hätte es auf jeden Fall gesetzt: Will man als Deutscher heute etwas gelten, hat man ausnahmslos „kritisch“ zu sein und nicht etwa ein Minimum an Vertrauen und Zuversicht aufzubringen.
Ich halte die sich entwickelnde Vollkaskomentalität für entsetzlich: Zwar kann mich der Staat mal, aber selbstredend hat er mich vor allen Wechselfällen des Lebens zu schützen. Kann er nicht. Und schon gar nicht vor den Folgen einer weltweiten Pandemie. Merke: Eine Katastrophe zeichnet sich dadurch aus, dass sie katastrophale Auswirkungen hat. Die kann selbst ein ideales Gemeinwesen nur abmildern. Erst recht, wenn viele ausschließlich auf den Staat warten, anstatt (sich) selber zu helfen.
Ein Leser schrieb mir neulich: „Was ist von der These zu halten, dass der Tango verschwinden wird? Die Menschheit betritt ein neues Zeitalter der sozialen Distanzierung. Ob wir wollen oder nicht, die Virenwelt wird uns das aufzwingen. Und der paarweise wechselnd eng getanzte Tango hat in dieser Welt keinen Platz mehr.“
Ich rate dabei zu etwas mehr Geduld. Und in der Zwischenzeit vielleicht einige vergessene Zahlen zur Kenntnis zu nehmen:
Im März 1945 betrugen die wöchentlichen Rationen für „Normalverbraucher“ (Hausfrauen, Angestellte): 1778 g Brot, 222 g Fleisch und 109 g Fett.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lebensmittelmarke
Wer 1945 auf Geheiß der alliierten Besatzungsmächte zu Aufräumungsarbeiten dienstverpflichtet wurde, bekam 70 Pfennig Stundenlohn. Auch Frauen erhielten dann als „Schwerstarbeiterinnen“ täglich zirka 500 g Brot, 100 g Fleisch und 15 g Fett-Zuschlag, wovon sie meist auch die Familie mit zu versorgen hatten.
https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/nachkriegszeit/truemmerfrauen-114.html
Ein Viertel der 16 Millionen Wohnungen in Deutschland war total zerstört, ein weiteres Viertel stark beschädigt. Nicht nutzbar waren 40 Prozent der Verkehrsanlagen sowie die Hälfte aller Schulgebäude. 1946 veranschlagte man in Berlin für die Trümmerbeseitigung eine Dauer von 6-8 Jahren.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%BCmmerfrau
Wer heute bei uns auf Facebook zu jammern imstande ist, verfügt über genügend Nahrungsmittel, sauberes Wasser, eine geheizte Wohnung und Zugang zu einer (im weltweiten Vergleich) hochklassigen medizinischen Versorgung. Wenn er geimpft wird, hat er Anspruch auf ein ärztliches Aufklärungsgespräch und muss nicht nur in einem Footballstadion den Arm aus dem Auto halten. Kann aber etwas dauern…
Gestern erhielten Özlem Türeci und Uğur Şahin, die Gründer von Biontec, das Bundesverdienstkreuz für die Entwicklung ihres Corona-Impfstoffes. Sie hatten bereits im Januar 2020 die Gefahr der neuen Infektion erkannt und ihr Start-Up-Unternehmen von Krebsbekämpfung auf Impfstoffproduktion umgestellt – mit der m-RNA-Technologie, die sie bereits lange vorher entwickelt hatten. In unternehmerischer Eigeninitiative und mit hohem Kostenrisiko: „urdeutsche“ Tugenden…
Die deutsche Öffentlichkeit begleitete diese sensationelle Entwicklung mit Gejammer und Gezeter. Was hätten die beiden denn noch tun sollen? Uns die Impfungen organisieren?
Wahrlich: Was unser Volk derzeit eint, ist ausschließlich das gemeinsame Genörgel – worüber auch immer!
In der Sendung „SWR1 – Leute“ erklärte der deutsche Chefzyniker Harald Schmidt neulich, warum es ihn nicht in die Politik ziehe: „Was mich stört, sind die Wähler“. Er habe überhaupt keine Lust, einen Job zu machen, den er sich sehr, sehr anstrengend vorstelle. Die Meinungsfreiheit sehe er nicht in Gefahr, aber: „Was man vielleicht politisch ein bisschen eindämmen sollte, ist, dass jeder eine Meinung hat. Es sind doch sehr viele Leute, die eine Meinung haben, wo ich sage: Du bist nicht in der Lage, dir eine zu leisten. Lass es!“
https://www.youtube.com/watch?v=JpbiMzOa5Ks
P.S. Beim nächsten Jammeranfall vielleicht diese Bilder vom Juli 1945 einwirken lassen. Stichwort „Auferstanden aus Ruinen“:
Leider ist die Spaltung der Gesellschaft schon so weit fortgeschritten, dass man da machtlos dagegen anschreibt. Egal ob Migrationshintergrund, Chipseinpflanzung, Beschneidung der Freiheitsrechte, Ablehnung des Staatsgedankens, Tanzen zu Neotangos......fast jeder hat seine vorgefasste, fertige Meinung und die sozialen Medien mit ihren Algorithmen tun das notwendige, um diese Meinung zu zementieren. Wo bleibt das Triumvirat These-Antithese-Synthese?
AntwortenLöschenVorsicht... "Triumvirat" - drei Männer? Da schon gar nicht.
LöschenWirkliche Macht hat man als Autor eh kaum. Aber wenn die Kompromisslosen so laut sind, muss man halt auch die Stimme erheben. Und der beste Platz des Satirikers ist eh zwischen den Stühlen.
Aber es hei0t doch eh DIE These/Antithese/Synthese :-)
LöschenStimmt - na, dann kommt hoffentlich kein Shitstorm...
Löschen