Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählen sollte
Unter dem Titel „Das Tango ABC, Tango Argentino Basics“ haben die Berliner Tangolehrer Gaia Pisauro und Thomas Rieser einige Videos für Anfänger veröffentlicht. Als ich den Titel der letzten Produktion sah, konnte ich es kaum glauben: „Die Base“ sei nun dran. Echt? Immer noch? Im Jahr 2021?
Ich wiederhole es auch gerne noch etliche Male: Nach meiner Ansicht hat der Tango keinen „Grundschritt“ – seine Basis ist das Gehen („Caminar“). Und die ersatzweise dann verkaufte „Achterbasse“ beinhaltet für Anfänger eine derartige Kombination an Schwierigkeiten, dass sie nur scheitern können:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/02/grobschlechtig-gefuhrte-kreuze.html
http://milongafuehrer.blogspot.com/2015/04/das-kreuz-mit-der-basse.html
Leichte Schuldgefühle scheinen Thomas Rieser immerhin zu plagen, da er anfangs betont, der „Tango-Grundschritt“ sei „ein bisschen in Verruf“ geraten. Vor langer Zeit (?) habe es Tangounterricht gegeben, der mit dem Grundschritt anfing, was ja auch eine gewisse Berechtigung habe, „weil dann kann man den Grundschritt“.
Allein mit dieser Formulierung hat man es verdient, auf meinem Blog zu landen: Der Tango hat also einen Grundschritt, damit man dann den Grundschritt beherrscht. Eine bestechende Logik!
Aber die Berliner Tangolehrer beabsichtigen ja auch, den Gaul von vorne aufzuzäumen: Die Base bestünde aus Grundelementen – und sie fänden es besser, zunächst diese zu unterrichten und danach den Schritt anzugucken, weil „dann könnt ihr den Schritt sofort improvisieren“. Sonst würde man nur den Schritt tanzen, habe aber gar nicht das Verständnis der Technik dafür.
Es folgt ein Karree, also eine Art Basse ohne Kreuz auf 6 Taktschläge. Was natürlich mit der Achter-Phrasierung des Tango kollidiert, weshalb die beiden – ohne darauf hinzuweisen – beim späteren Vortanzen gelegentlich noch weitere Seit-Schluss-Schritte hineinbasteln. In dem Ablauf wird nun durch eine Oberkörperrotation ein Kreuz geführt, wobei man wieder bei der berüchtigten „Achterbasse“ gelandet wäre. Das sei zwar jetzt ein Schritt, aber trotzdem sei man ja „mental in dem Modus Improvisation“.
Nein, Ihr Lieben: Ein Anfängerpaar ist nun mitnichten im Improvisationsrausch, sondern im Zustand der Verzweiflung, weil der Männe die Scheiß-Kreuz-Führung nicht schafft!
Halten wir also fest: Was da an „Improvisation“ verkauft wird, kriegen Anfängerpaare mit Sicherheit nicht hin. Ersatzweise werden sie dann halt feste Schrittkombinationen abtanzen.
Was mich an Tango-Lehrvideos immer wieder fasziniert: Es wird vorwiegend geredet, teilweise auch während des Tanzens und mit dem Rücken zum Mikrofon. Emanzipatorisch finde ich allerdings, dass hier auch Gaia Pisauro ausführlich zu Wort kommt. Es nützt nur wenig, da die eh schon miese Qualität der Tonaufzeichnung in diesem Fall noch unter ihrem Akzent leidet.
Wenn
ich bedenke, dass man im Tango-Lehrfach gerne den Begriff „professionell“ strapaziert, staune ich schon, warum die beiden zu
den Erklärungen nicht einfach näher ans
Mikrofon gegangen sind und während des Tanzens auf das Gesabbel verzichtet
haben. Nicht mal meine neu erworbenen Hörgeräte versetzten mich in die Lage,
die Erklärungen halbwegs zu verstehen. Abhilfe schufen erst Kopfhörer. Zudem hat das Studio eine grauenhafte Akustik (fällt wohl beim Abspielen historischer Aufnahmen nicht auf).
Musik bleibt auf solchen Videos weiterhin Mangelware. Immerhin fragt Frau Pisauro ihren Partner bei 6:10, ob man zur Musik tanzen wolle. Nein: „Lass uns das kurz tanzen ohne Musik.“ Erst ab 7:35 erklingt dann eine Beschallung – bis 8:50, also für zirka 75 Sekunden tanzen sie dazu. Das entspricht einem Musikanteil von 13 Prozent.
Ausgewählt wurde übrigens Rodolfo Biagis „La marca de fuego". Biagi sei ein „tolles Orchester“, aber „schon schwierig“, wie Thomas Rieser abschließend feststellt. Wie wahr: Beim Vortanzen legt er auf der „7“ los, und auch in der Folge hat er Probleme mit der Phrasierung. Ich hätte daher ausnahmsweise ein einfacheres Stück gewählt.
Und
obwohl ich kein Anhänger der aneinandergepappten Tangohaltung bin: Wie die beiden hier bolzengerade und mit
Sicherheitsabstand ihre Schritte ablaufen, erzeugt bei mir kein wirkliches „Tangogefühl“. Was jedoch positiv auffällt, ist der abschließende Führungswechsel.
Hier das Video:
https://www.youtube.com/watch?v=wsZUIQAFHoI
Ich möchte den beiden sympathischen Tangolehrern vom Berliner „Nou Tango“ wirklich nicht Unrecht tun. Ihr Video ist das fünfte in dieser Reihe, und sie haben sich bei der Strukturierung der Lerninhalte mehr überlegt als viele ihrer Kollegen. Zur Information hier noch die vorhergehende Produktion:
https://www.youtube.com/watch?v=dILWHm_zFHA
Mit Kreuz und Basse setzen sie aber aufs völlig falsche Pferd. Und sorry, die Videos sind laienhaft hergestellt. Unter professionellen Gesichtspunkten gibt es da nur eine Möglichkeit: wegwerfen und neu drehen.
Insofern entbehrt der Hinweis „Keine kommerzielle Verwendung ohne schriftliche Genehmigung von Nou Tango Berlin“ jeglicher Grundlage.
Und vielleicht könnte man sich bei der Gelegenheit dazu entschließen, auch die althergebrachte „Base“ einer würdigen Bestattung zuzuführen. Es gibt einfach Dinge, die man als Tangolehrer nicht erzählen sollte!
Heute erreichte mich dazu ein Kommentar von Manfred Schreiber:
AntwortenLöschenIch fand das ein ganz nettes Video. Und über die Basse mag ich mich auch nicht ereifern. Sie wird hierzulande vielfach gelehrt und getanzt, und damit kann man viele schöne Milongas erleben und die Leute sind glücklich im Tango. Was will man mehr? Wenn die Corona Tanzflaute mal zu Ende wäre, würde ich auch die Basse tanzen, besser dies als gar nichts. Aber wer gern mit spitzer Feder geschriebene Texte zum Tango schreiben möchte und überall im der weiten Welt des Tangonetzes suchen mag, was es da aufzuspießen gibt, der möge das gerne tun, um sich die Zeit zu vertreiben.
Lieber Manfred Schreiber,
LöschenIhre Anmerkungen bestätigen meinen Eindruck, dass es im Tango zwei Fraktionen gibt:
Die einen wollen halt einfach nur tanzen - egal wie und zu welcher Musik. Die anderen legen Wert auf tänzerische und musikalische Herausforderungen.
Mit dem Schreiben ist es ebenso: Die einen bekämpfen ihre Langeweile mit einer Vielzahl von Facebook-Kommentaren, die anderen mit dem Verfassen größerer Artikel.
Ist beides in Ordnung, wenn's denn hilft.
Danke und beste Grüße
Gerhard Riedl
Vielleicht wird die sogenannte einfache Base im argentinischen Tango einfach von der Lehre verkannt bzw. falsch (als Grundschritt) angepriesen. Im Grunde zeigt sie (die Base) doch nur die Aneinanderreihung der Möglichkeiten, die wir mit unseren "Zwei" Beinen haben. 1=Rückschritt mit rechts; 2=Seitschritt nach links mit linkem Bein; 3=Schritt nach vorne mit Rechts; 4=Schritt nach vorne mir dem linken Bein; 5=Seitschritt nach rechts mit rechtem Bein; 6=Schließen, mehr geht einfach nicht mit zwei Beinen oder Füßen.
AntwortenLöschenBei vielen argentinischen Tango-Profis werden diese Zahlen verwendet um in einer einfachen und kurzen Weise zu verdeutlichen welcher Schritt an welcher Stelle (z.Bp. einer bestimmten Figura) eingesetzt wird.
In der Regel wird dieser "Grundschritt" ja nie als solches getanzt, aber gibt es nicht in verschiedenen Bereichen Grundlagen die man sich einverleibt um Vorgänge zu üben, zu hinterlegen ? wenn man eine Profession ernsthaft betreiben möchte ? Beim klassischen Ballett lernt man auch Grundfiguren, die wiederkehrend und schnell abrufbar sein können und müßen. Wenn man ein Instrument lernt, spielt man Tonleitern um Töne kennenzulernen, das Instrument zu beherrschen, usw. die man später beim musizieren als Tonleiter nie braucht. Ohne das vorherige Üben dieser Grundstrukturen kann man zwar hopsen vielleicht auch tanzen, klimpern vielleicht auch musizieren. Ob man dann argentinischen Tango tanzt kann man sich einreden. Ob man dann Noten kennt kann man sich auch einreden.
Abgesehen davon, dass man im Tango glücklicherweise mit zwei Beinen wesentlich mehr machen kann als die Grundbewegungen der Base:
LöschenIch verstehe halt nicht, warum Männer erstmal Rückwärtsschritte oder Belastungswechsel lernen müssen, was sie anfangs überfordert bzw. in Kollisionsgefahr bringt (das berüchtigte Kreuz fehlt glücklicherweise in deiner Beschreibung).
Wenn die Base so verstanden werden soll wie du vorschlägst, müssten das die Tangolehrer aber auch kommunizieren: "Also, wir üben jetzt eine Grundfolge von Schritten, die ihr in der Milonga nie so tanzen werdet."
Ich wäre gespannt, wie viele Schüler dann blieben. Die wollen nämlich einfache Bewegungen, mit denen sie auf der Piste einigermaßen klarkommen.
Warum dann Grundbewegungen nicht in beliebiger Folge üben? So käme man auch dem Improvisations-Charakter des Tango näher.
"Eine Profession ernsthaft betreiben" wollen die allermeisten Tangolernenden jedenfalls nicht. Aber selbst im Musikunterricht, wo deutlich mehr dieses Ziel haben, gilt das sture Üben von Tonleitern inzwischen als überholt. Es soll übrigens berühmte Musiker (wie Carlos Gardel) gegeben haben, die nicht mal Noten lesen konnten.
Und übrigens: Wer dann argentinischen Tango tanzt oder nicht, ist eine müßige Frage. In dessen Entwicklung hat es die unterschiedlichsten Tanzstile gegeben - und immer wieder Zeitgenossen, welche abgestritten haben, dass es sich dabei um Tango handle.
Ich erinnere mich, ich tanze den Grundschritt oft, vor allem zu Anfang des Stückes. Manche Tänzerinnen können oder wollen dann das Kreuz nicht tanzen. Dann entsteht ein Problem, weil die Schrittfolge nicht mehr passt. Mit einem kleinen Reparaturschritt lässt sich das beheben.
LöschenViele Tänzerinnen tanzen aber das Kreuz und auch gerne. Dann macht es Spass.
Aber wir schwelgen hier in Erinnerungen. Was ist von der These zu halten, dass der Tango verschwinden wird? Die Menschheit betritt ein neues Zeitalter der sozialen Distanzierung. Ob wir wollen oder nicht, die Virenwelt wird uns das aufzwingen. Und der paarweise wechselnd eng getanzte Tango hat in dieser Welt keinen Platz mehr.
Lieber Manfred Schreiber,
Löschenich bestreite ja nicht, dass Fortgeschrittene die Base (auch mit Kreuz) tanzen und sogar führen können. Allerdings habe ich halt viele Anfänger erlebt, die damit überhaupt nicht zurecht kamen und deren tänzerische Entwicklung so nachhaltig gebremst wurde.
Was die Zukunft unseres Tanzes betrifft, bin ich optimistisch: Die Spanische Grippe hat in einem Zeitraum von drei Jahren mindestens 20 Millionen Tote gefordert. In den 1920-er Jahren hat man dann wieder getanzt wie verrückt. Und damals gab es noch keine Impfung und eine viel schlechtere medizinische Versorgung.
Man kann das z.B. in einem meiner Artikel nachlesen:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2020/08/die-spanische-grippe-eine-vergessene.html
Beste Grüße
Gerhard Riedl