Gedichtinterpretation: Balada para un loco


An dem folgenden Text ist meine Frau schuld! Als ich ihr von der Klage einer Leserin berichtete, sie verstünde Horacios Ferrers Text der „Balada para un loco“ nicht (weder auf Deutsch noch im Spanischen), meinte sie: Na, dann schreib doch mal eine Gedichtinterpretation!

Ach, du meine Güte! Damals, einige Wochen vor der Reifeprüfung, fing unser Deutschlehrer hektisch an, uns diese Aufsatzart zu erklären. Der Grund: Kurzfristig hatte er erfahren, dass es im Abitur auch ein entsprechendes Thema geben würde. Tragischerweise nahm er als Beispiel ein Gedicht von Gottfried Benn. Nach der ersten Doppelstunde war sich die gesamte Klasse einig: Das würde für uns keine Option sein!

Jetzt also, nach etwa 50 Jahren, doch noch ein solcher Aufsatz? Und wer von uns beiden hat denn nun Germanistik studiert – sie oder ich? Aber meine Gattin kannte keine Gnade: Die „Ballade für einen Verrückten“ sei nun einmal „mein“ Tango. Nun denn:

Der uruguayische Autor Horacio Ferrer (1933-2014) war ungeheuer produktiv: Neben dem Libretto zu Astor Piazzollas einziger Oper („María de Buenos Aires“) schrieb er die Texte zu über 60 Tangos dieses Komponisten – und noch mehr für andere Kollegen. Und dazu noch eine Reihe von Tangobüchern.

Ferrers Dichtungen haben wenig gemein mit den traditionellen Tangothemen wie Sehnsucht, Nostalgie, Eifersucht, Enttäuschung und Gewalt. Sie sind geistreich, aktuell, surreal – und ziemlich lang. Ein Versmaß ist nicht erkennbar, der Rhythmus passend zu einem zarten Walzer, aber auch triumphaler Gestik.

Das umfangreiche Rezitativ, das der Musik vorangestellt ist entführt uns in eine zauberhafte Abendstimmung in Buenos Aires.

Der Sprecher ist ein ziemlich schräger Vogel:

„Eine Melone auf dem Kopf, die Streifen meines Hemdes auf die Haut gemalt, zwei halbe Sohlen an die Füße genagelt und ein ‚Taxi-Frei‘-Fähnchen hocherhoben in jeder Hand.“

Die Anspielung auf Mond und Sterne beweist: Er ist ein „Lunatic“, ein Verrückter, was er auch immer wieder bekennt. Seine Ansprechpartnerin ist ein weibliches Wesen, dessen Interesse er gewinnen, dessen Trauer und Einsamkeit er beseitigen will:

„Und Dich, Dich seh’ ich so traurig! (…)
Wenn es Nacht wird in Deiner Einsamkeit in Buenos Aires
Komm’ ich an den Saum Deiner Decke
Mit einem Gedicht und einer Posaune
Dein Herz zu wecken!“

Dazu verwendet er eine Menge surrealer Motive, die sich um Tanz und Schwerelosigkeit drehen:

„Und ein Engelchen und ein Soldat und ein Mädchen
tanzen uns einen kleinen Walzer (…)
Und wir fliegen um die Dächer
Mit einer Schwalbe als Motor“

Das Ganze sind Traumbilder, wie er auch der Angesprochenen erklärt:

„Du lachst so!... Aber nur Du siehst mich...“

Für mich stehen im Zentrum von Ferrers Gedicht Schwerelosigkeit und Befreiung, wie sie nur die Macht der Gefühle, der Liebe hervorbringen kann.

„Ein romantisches Thema in einer Welt der Geschäftsleute“ hat er seinen Text genannt. Irgendwie erinnert mich das Ganze an die „grauen Herren“ aus Michael Endes „Momo“, die den Menschen ihre Zeit stehlen – Zeit zum Träumen, für Gefühle und Fantasie. Die „Verrückten“ aber haben die Liebe erfunden!

Muss man diese Ballade „verstehen? Sicher nicht mit dem kühlen Intellekt. Genau dagegen wendet sich ja der Autor. Zusammen mit Piazzollas Musik kann man aber – so man es fühlt – abheben:

„Häng’ dich an die Zärtlichkeit der Verrückten, die Du in mir hast!
Leg die Federn der Lärche an – und flieg!
Jetzt! – flieg mit mir! Komm! Flieg! Komm!“

Hier die Texte zum Nachlesen:

Und hier das Ganze nochmal getanzt:

Kommentare

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