Staatlich geprüfter Tango-Unterhalter?

Bei Ankündigungen von Milongas – zum Beispiel auf meiner Facebook-Lieblingsseite „Tango München“, fällt mir mehr und mehr auf: Wenn man die beauftragten DJs überhaupt nennt, sind es immer wieder andere Namen – von denen ich die meisten nicht kenne. Und beim Rest oft zusammenzucke. Genaueres zum Musikangebot liest man kaum. Betont wird höchstens, wie „sensationell“ der betreffende Aufleger sei – und dass er „feinste Tangos“ spiele.

Kein Zweifel – in der Szene beobachtet man eine gewaltige DJ-Schwemme – und das ist ja auch nachvollziehbar: Es muss sich schon toll anfühlen, auf einem Podest an der Stirnseite der Lokalität zu thronen und dem Parkettvolk Beine zu machen. Ein weiteres großes Plus: Selber tanzen muss man nicht – und ich gehe davon aus, dass der durchschnittliche Musiklieferant ein eher mäßiger Tänzer ist. Wie soll ich mir sonst erklären, dass viele ein Zeugs auflegen, das wenig zum Tanzen motiviert? Und: Wenn ich Stücke auflege, welche mir gefallen, bin ich außer Stande, ruhig sitzen zu bleiben.

Vor allem aber ist „Tango-DJ“, ebenso wie „Tangolehrer“, keine staatlich geschützte Berufsbezeichnung. Jeder, der Lust hat, kann sich so nennen und auch gegen Bezahlung arbeiten. Und während man in Zeiten vor dem Internet jahrelang und mühsam CDs oder gar Schallplatten bzw. Musikcassetten sammeln und die Titel archivieren musste, kann man sich heute sehr einfach eine digitale Musikdatei anlegen respektive sie sich in Musikportalen zusammengoogeln.

Meinem Eindruck nach sind viele DJs eher Computer-Nerds denn Musikliebhaber. Und gerade in der konservativen Szene ist ja vorrangig der Sammler mit Telefonbuchwissen zur EdO gefragt, der lückenlos Orchesterdaten und Sängernamen herunterspulen kann. Intuition ist weniger gefragt als Regelkunde zum vorschriftmäßigen Zusammenbau von Tandas.

Wie wäre es, wenn man von DJs, die öffentlich auflegen, eine staatliche Zulassungsprüfung verlangen würde – nach einer ebenso vorgeschriebenen Ausbildung? Utopie?

Nein, das gab es lange Zeit in der DDR. Mit der Kunstfreiheit und der ungehinderten Berufswahl hatte man es ja im Arbeiter- und Bauernstaat eher nicht so – daher mussten nicht nur DJs, sondern ebenso andere künstlerisch Tätige (auch Zauberer!) eine Auftrittslizenz erwerben, die fallweise nur für den eigenen Bezirk oder regional bis landesweit galt.

Natürlich vermied man den englischen Begriff „Discjockey“ oder „DJ“ und sprach daher vom „staatlich geprüften Schallplattenunterhalter“ (SPU).

„Es gab auf Grundlage der Anordnung über Diskothekveranstaltungen vom 15. August 1973 (…) frei- oder nebenberuflich tätige Schallplattenunterhalter. Jeder zukünftige SPU musste dazu einen Eignungstest bestehen und einen einjährigen speziellen Grundlehrgang mit anschließender staatlicher Prüfung bei dem dafür zuständigen Kreis- bzw. Stadtkabinett für Kulturarbeit durchlaufen. Anschließend wurde eine Spielerlaubnis erteilt. Nur der ‚staatlich geprüfte Schallplattenunterhalter‘ durfte Tonträger vor einem größeren Publikum spielen und musste regelmäßig an Weiterbildungsveranstaltungen, sogenannten Monatskonsultationen, teilnehmen. Alle zwei Jahre erfolgte eine Neueinstufung durch die Einstufungskommission.“

https://de.wikipedia.org/wiki/DJ#DJs_in_der_DDR

Ich habe dazu mehrere hervorragende Artikel gefunden, in denen teilweise „Zeitzeugen“ aus der Branche berichten – die Lektüre ist höchst aufschlussreich und humorvoll:

http://dasfilter.com/gesellschaft/djs-in-der-ddr-ohne-pappe-keine-musik-so-verlief-die-ausbildung-zum-schallplattenunterhalter

https://www.bonedo.de/artikel/djs-in-der-ddr-die-diskotheker/

Die Ausbildung erstreckte sich auf verschiedenste Gebiete wie Musikgeschichte, musikalische Stile, Dramaturgie, Sprecherziehung, Programmgestaltung und Technik. „Neben der Moderation war auch die Organisation von Partyspielen, Quizrunden und anderen interaktiven Unterhaltungsangeboten wichtig.“ Ein wenig politische Theorie dürfte ebenfalls im Angebot gewesen sein.

Die Prüfung vor der Einstufungskommission (Kulturfunktionäre und Berufskollegen) bestand aus einem theoretischen und praktischen Teil.

Wichtig war „nicht zuletzt die Befähigung zur Erfüllung des Bildungsauftrags. Die Bürger des Arbeiter- und Bauern-Staates sollten auch in ihrer Freizeit sozialistisch geprägt werden. Und dafür war die ideologisch korrekt vorgetragene politische Gesinnung des Unterhalters nicht unerheblich. Letztlich war den Diskothekern und auch manchem Prüfer in der KGD-Kommission klar, dass es sich beim politischen Teil der Prüfung meist um pures Theater handelte.“

Danach hatte man – meist in einer „echten“ Disco und vor Publikum – ein Abendprogramm zu gestalten.

Nach erfolgreicher Prüfung wurde man als Amateur in die Stufe A (gut), B (sehr gut) oder C (ausgezeichnet) eingruppiert – und bekam seinen SPU-Ausweis, in der Branche auch „Pappe“ geheißen.

„Über die Einstufung wurde auch der Stundenlohn von 5 bis 10,50 Mark für Amateure und bis zu 380,- Mark Abendhonorar für Profis festgelegt. Zuschläge gab es für Fahrtkosten, Nutzung der eigenen Anlage und der eigenen Tonträger. Obwohl das nicht nach viel klingt, verdienten Diskotheker durchaus besser als normale Facharbeiter, die einen durchschnittlichen Monatslohn von 700,- Mark nach Hause brachten.“

Wegen der chronischen Materialknappheit im Paradies der Werktätigen mussten DJs gute Bastler sein und sich ihr Equipment meist im Eigenbau herstellen. Vor Ort gab es selten eine Licht- und Tonanlage – alles musste im eigenen Fahrzeug herangekarrt werden.

Vieles auf diesem Gebiet war für die Praxis untaugliche Theorie. So vor allem die „60/40-Regel“, wonach 60 Prozent der gespielten Titel aus der „SW“ („Sozialistische Welt“) und nur 40 Prozent aus der „NSW“ („Nichtsozialistische Welt“) stammen durften. Dies war nicht nur eine ideologische, sondern auch eine pekuniäre Frage. Die AWA der DDR („Anstalt zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiet der Musik“) musste für Westimporte Tantiemen an ihre Kollegen von der GEMA zahlen.

Zur Verhinderung einer Pleite reduzierte man den kapitalistischen Anteil, was aber in der Praxis kaum eingehalten wurde, obwohl die Playlists zeitweise vorher eingereicht werden mussten. „Natürlich konnte sich kein DJ an diese Regelung halten. Ihm wäre das Publikum weggelaufen“, erinnert sich der Diskotheker Klaus Uhlmann.

http://www.studio89.de/ddr.php#Vorschrift

Ebenso kamen Quiz- und Partyspiele bei den jungen Leuten nur in der Vorstellung von FDJ-Funktionären gut an. Eher akzeptiert wurden Tanzwettbewerbe und Livemusik. Und ein DJ musste gut moderieren können – Sprüche aller Art fanden beim Publikum Gefallen.

In die Nesseln setzen konnte man sich als SPU, wenn bei Tanzveranstaltungen Parteibonzen anwesend waren – insbesondere kamen verbotene Titel wie Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ bei denen äußerst schlecht an. Dann setzte es schon einmal Ordnungsgelder oder den zeitweiligen Entzug der „Pappe“.

Insgesamt ließ man den DJs aber ziemliche Freiräume, weil sie im Sinne der Partei die Jugendlichen ruhigstellten. Allzu viel nach eigenem Geschmack auflegen konnte man nicht – das Publikum verlangte Mainstream, auch wenn der musikalisch minderwertiger war.

Eine Parallele, die ich auch im Tango sehe – mit dem Unterschied: Wie man an alten Aufnahmen sieht, musste die Musik richtig fetzen. Das ist bei unserem Tanz nicht zu befürchten.   

Trotz dieses besonders für sozialistische Staaten typischen Regelungswahns las ich von Zeitzeugen das Lob, dass die damaligen DJs allesamt über eine solide technische und künstlerische Ausbildung verfügten. Und sie mussten gute Moderatoren sein und den Kontakt mit dem Publikum hinbekommen. Das ist beim Tango ebenfalls nicht zu befürchten.

Sie waren halt nicht Computer-Bediener, sondern Entertainer. Daher fände ich die Idee eines „staatlich geprüften Tango-Unterhalters“ gar nicht so schlecht. Mit der Betonung auf Unterhaltung". Und mit Fortbildungen auf dem Gebiet neuer Tangotrends. Typen, welche stundenlang wie ein Hackstock hinter ihrem Apple hocken und die Gäste ignorieren, blieben uns jedenfalls erspart und damit die heutige DJ-Schwemme.

Von Louis Armstrong stammt der schöne Satz:

„Wenn es die Hörer mitreißt, ist es Unterhaltung – wenn nicht, ist es Kunst.“

Recht hat er!

Und hier noch ein zweiteiliges Video aus der Zeit der „Schallplattenunterhalter“:

https://www.youtube.com/watch?v=c_sl55XvOSc

https://www.youtube.com/watch?v=VhECFYf-DyE

Kommentare

  1. Ein spannendes Schlaglicht auf die Jugendkultur in der DDR, danke!

    Zum Tango-DJ - warum schreibst Du vage "Es muss sich schon toll anfühlen"? Du hast doch selbst mal öffentlich aufgelegt und wirst es wissen. Wenn ich mich richtig erinnere klang Deine Begründung, warum Du es nicht mehr tust, allerdings gänzlich anders.

    Aber ja, es ist eine Herausforderung und wenn's gut läuft ist es toll. Ich persönlich finde es allerdings durchaus anstrengend, unter allen Umständen von Anfang bis Ende auf einer Milonga bleiben zu müssen. Ohne die Wirren der Corona-Zeit hätte ich dieses Betätigungsfeld vielleicht nicht reaktiviert.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich weiß nicht, ob andere DJs die gleichen Motive haben wie ich.

      Ich habe vor fast 20 Jahren mit dem Auflegen begonnen, weil ich einfach die Musik propagieren wollte, die mir gefiel. Auf Podesten thronte man damals nicht - DJ war ein eher ungeliebter Job, weil man dann nicht so viel tanzen konnte.

      Meinen Spaß daran, mich vor anderen zu produzieren, konnte ich bei den fast 1100 Auftritten als Zauberer und Moderator genügend ausleben. Wobei mich daran stets reizte, ob ich den Kontakt mit dem Publikum hinbekam.

      Wobei ich mir nie inhaltlich dreinreden ließ. Veranstalter, die das versuchten, erhielten stets eine Absage.

      Löschen
  2. Ich denke eine Milonga sollte man erstmal frei von eigenen Werturteilen anschauen. Also hat sie genügend Teilnehmer, trägt sie ihre Kosten, glaube ich zu verstehen warum. Und dann auch persönlich, also kann ich dort gut tanzen.

    An meiner Stamm-Milonga klebt das Etikett "Tango ausschließlich bis 1960" - und die funktioniert seit Jahren. Das braucht mehrere Randbedingungen, aber auch "ausschließlich" ist da ein Baustein, das schafft eine gewisse Ruhe und Verlässlichkeit. Als DJs wechseln sich im wesentlichen lokale Routiniers ab, auch mal ein Durchreisender, mal ich, große Überraschungen sind nicht zu erwarten, auch kein Personenkult. Wer es anders möchte, kommt halt an einem anderen Tag oder geht anderswo tanzen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das ist für ältere Menschen, die darauf Wert legen, dass sich nichts ändert, sicherlich ein gutes Format.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.