Nur keine Eile, Carablanca!
Über den international bekannten und erfolgreichen Tangolehrer Murat Erdemsel habe ich schon mehrfach berichtet:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/10/guter-murat-ist-teuer.html
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/10/murat-der-musikal-clown.html
Klar, er ist ein sehr guter Tänzer und vor allem ein begnadeter Entertainer, der sein Publikum begeistert. Dank Thomas Kröter bin ich auf ein Video von ihm und seiner derzeitigen Partnerin Silvina Tse gestoßen. Kürzlich beglückten sie die Gäste beim „Rhein Ruhr Tango Festival“ in Witten mit einem Showtanz.
Die beiden interpretieren einen Tango aus dem Jahr 1942 (Musik: Roberto Garza, Text: Carlos Bahr): „No te apures, Carablanca“. Die historischen Versionen stammen von Lucio Demare und Aníbal Troilo aus demselben Jahr. Hier darf das Sexteto Cristal live spielen. Immerhin!
Das Stück stammt aus der „Muy depresivo“-Abteilung mit majestätisch-schleppendem Tempo. Der Text beschreibt tangotypisch eine unglückliche Liebe aus männlicher Sicht:
No te apures, Carablanca...
Que no tengo quién me espere...
Nadie extraña mi retardo,
Para mí siempre es temprano
Para llegar.
https://www.todotango.com/musica/tema/340/No-te-apures-Carablanca/
Nur keine Eile, Carablanca...
Ich habe niemanden, der auf mich wartet...
Keiner vermisst meine Verspätung,
Für mich ist es immer zu früh
Um
anzukommen.
„Keine Eile“ scheint auch das Motto der beiden Tanzenden zu sein. Im Video sieht man zunächst im Zeitraffer eine nicht vorhandene Ronda, aus der sich im Lichtkegel das Showpaar herauskristallisiert. Die Anhängerschaft schart sich außen herum und blickt zu den Stars auf. Wenn das keine Inszenierung ist…
Die Musik erklingt, und es passiert erstmal für 20 Sekunden gar nichts. Anschließend kommt doch eine leichte Bewegung in die Vortragenden, die sich jedoch erst nach weiteren 15 Sekunden entschließen, ihren Standort allmählich im Zeitlupentempo zu verlassen. In der Folge gibt es dann ein paar Basics zu bewundern, wobei Murat seine Vorwärtsschritte auf der Ferse ansetzt. Macht man das jetzt so? Egal!
Nach 1:45 ist man dann doch vom Energieverbrauch etwas ermattet und baut bis zirka 2:10 erneut ein Standbild. Ab etwa 2:25 kommen überraschenderweise einige Globuli Dynamik dazu, man darf eine Reihe von Drehungen und Fußspielereien bewundern. Gegen 3:45 endet das Ganze in einer etwas hölzernen Pose. Mäßiger Applaus.
Ich weiß, dass nun viele Anhänger von Murat Erdemsel wieder mal beleidigt sein dürften. Schließlich kann ein Maestro nichts falsch machen. Bilden Sie sich also Ihr eigenes Urteil:
https://www.youtube.com/watch?v=EysgwaITuMs
Ich finde, der Trend ist unverkennbar: Viele Vortanzende suchen sich als Musik nun wirklich das Tranigste heraus, was der klassische Tango zu bieten hat. Und interpretieren das noch in einer Weise, dass einem wachsendes Gras geradezu hektisch erscheint. Oft (erstaunlicherweise nicht hier) quittiert das Publikum ein solches Posen-Gehubere dann mit frenetischem Beifall.
Ich warte nur noch auf einen Showtanz, bei dem das Paar sich lediglich innigst umarmt, ohne einen Meter vorwärts zu kommen. Man könnte einander ja ersatzweise etwas streicheln oder sonst wie liebkosen. Und natürlich bedeutend gucken. Manche würden das sicher sehr romantisch finden…
Klar, für Profis lautet der Grundsatz: Wieso sich nach vielen Workshops und anderen Aktivitäten nachts um 23 Uhr nochmal anstrengen, wenn’s auch einfacher geht? So lange das Publikum während der Vorführung nicht scharenweise den Saal verlässt, kommt man damit durch. Dann serviert man halt weiterhin Brombeermarmelade und tut so, es sei es Kaviar!
Zu allem Überfluss wird der gespielte Titel im Video noch falsch bezeichnet. Klar: Auf die Musik kommt es im Tango nicht wirklich an.
Von Curt Goetz stammt die herrliche Anekdote über einen sächsischen Kurkonzert-Dirigenten, der die Probe der „Tannhäuser-Overtüre“ mit den Worten einleitete: „Ich gloobe, meine Herrn, wir spielen’s erst emol ohne Vorzeichen!“
P.S. Und ja – man kann auch zu langsamer Tangomusik technisch hochstehend und mit Leidenschaft tanzen:
https://www.youtube.com/watch?v=uxGB6WUPJog
Ich verstehe Ihre Kritik an diesem Tanzvortrag von Murat Erdemsel & Silvina Tse nicht, und das muss ich auch nicht. Die Musik wurde hervorragend interpretiert, alle rhythmischen Nuancen mit kleinen Akzenten umgesetzt, die langsamen, gesungenen Passagen mit Pausen "getanzt". Ja, Herr Riedl, passend gesetzte Pausen gehören bei einem gut getanzten Tango dazu. Noch nie gehört?
AntwortenLöschenVermute aber, dass Sie diese Umsetzung dank Ihres eigenen musikalisch eingeschränkten Blickfeldes nicht erkennen können. Nicht jedes Tanzpaar muss Ihrer geschmacklichen Tendenz zum "Apachen-Tango" entsprechen. Für mich leben Sie in Bezug auf Musikalität im Tango in einer Parallelwelt. Und das lässt sich auch nicht mit der Floskel "Geschmäcker sind eben verschieden" entschuldigen, denn eine gut erarbeitete Kritik sollte über den einfachen Blickwinkel "gefällt mir nicht, wo ist hier die Action!" hinausgehen.
Mit freundlichen Grüßen
Uli Heilbronn, Aachen
Lieber Herr Heilbronn,
Löschenvöllig richtig: Sie müssen meine Kritik nicht verstehen.
Sollten Sie aber Wert darauf legen, hier weiterhin zu kommentieren, dann lassen Sie bitte diesen anmaßenden Tonfall und sparen Sie sich Bemerkungen über „musikalisch eingeschränktes Blickfeld“. Auf meinem Blog gibt es eine dreistellige Zahl von Artikeln, die sich mit Tangomusik aller Epochen befassen. Und nicht ich lebe in einer „Parallelwelt“, sondern eher diejenigen, welche den Tango auf ein historisch umschriebenes Segment reduzieren wollen.
Über „Pausen“ habe ich sogar mal einen Gastbeitrag veröffentlicht:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/09/was-ihnen-ihr-tangolehrer-nicht-erzahlt_27.html
Dass meine Kritik subjektiv ist, betone ich immer wieder. Allerdings meine ich schon, auf den beschriebenen Showtanz detailliert eingegangen zu sein. Jedenfalls detaillierter als Sie.
Dass manchen meine Sichtweise auf berühmte „Maestros“ (wer verleiht eigentlich diese Titel?) nicht passt, weiß ich. Darüber kann man diskutieren. Anpflaumen lassen muss ich mich jedoch nicht.
Mit besten Grüßen
Gerhard Riedl
AntwortenLöschenSehr geehrter Herr Riedl,
es ist schon seltsam, dass sie oftmals ihre eigenen Artikel als Referenz heranziehen. Aber die Anzahl Ihrer Artikel über Musik ist nicht unbedingt ein Beleg für den Faktengehalt ihrer Beiträge, denn man kann auch in hoher Anzahl von Artikeln irren. (Es ist einem Kommentator auch nicht zuzumuten, sich vor einer Kritik Ihrer Aussagen durch alle Beiträge wühlen zu müssen.) Aber trotzdem, erlaube ich mir, Sie anhand Ihrer bisherigen Artikel und Videos über Tangomusik zu kritisieren. In meiner Eigenschaft als studierter Musiker und Musikpädagoge (und langjähriger Tangotänzer) glaube ich doch über die entsprechende Expertise zu verfügen. Und ich schreibe ja auch keine Fachartikel über Chemie oder Biologie. Aber im Fachbereich Tango scheinen sich ja viele nach ein paar Jahren als Musik- und Tanzexperte zu fühlen.
Ja, und? Kommt da noch was oder war's das schon?
LöschenOkay, dann Faktencheck:
LöschenIn meinen Artikeln finden sich häufig zahlreiche Links auf Quellen außerhalb meines Blogs.
Der zitierte Beitrag stammt nicht von mir, sondern von Peter Ripota.
Klar kann man sich auch irren, wenn man viele Artikel schreibt. Nur falls man gar keine verfasst, ist man vor Irrtümern gefeit. Nebenbei: Wo kann man Ihre Veröffentlichungen zum Tango nachlesen? Meine Internet-Recherchen zu Ihrem Namen im Zusammenhang mit Musik bzw. Tango waren leider ergebnislos.
Ihre Expertise zum Tanz von Murat und Silvina umfasst knapp zwei Zeilen. War's das schon?
Mein Blog hat eine Suchfunktion. Wenn man also wissen will, ob ich zum Beispiel etwas über das Vertanzen von Pausen publiziert habe, wird man in wenigen Sekunden fündig.
Mag sein, dass sich manche nach ein paar Jahren im Tango als „Musik- und Tanzexperte“ fühlen. Ich habe das für mich nie in Anspruch genommen, im Gegenteil. Allerdings kommen in zirka 23 Jahren Tango und insgesamt 55 Jahren Tanzen schon einige Erfahrungen zusammen.