Rilke-Tango

Neulich schrieb ein ansonsten ganz vernünftiger Tangokollege in einer FB-Einladung unter anderem:

„Codigos: Wir tanzen rücksichtsvoll in der Ronda.“

https://www.facebook.com/events/537174748587468?ref=newsfeed

Auch wenn mir die angebotene neuere Tangomusik dort gefiele, könnte ich eine solche Milonga nicht besuchen. Ich habe keine Lust, 12 Minuten hinter einem Langweiler-Paar her zu dackeln.

Wie das Grauen – noch dazu bei historischer Musikeinspielung – dann aussehen könnte, illustriert ein kürzlich gefundenes Video einer anderen Veranstaltung.  

Meine Recherchen ergaben:

Veranstaltet wird die betreffende Milonga von einer Non Profit-Organisation, welche sich in schönem hispano-denglisch „Frankfurt Tango Society“ nennt. Der gemeinnützige Verein möchte die „argentinische Tangokultur“ in Frankfurt fördern. Er wendet sich ausschließlich an Menschen, die des Englischen mächtig sind.

Jeweils einmal im Monat finden die Milongas „La Tardecita“ und „La Nochecita“  statt. Also abends respektive nachts.

„Sie haben sich zu großen Veranstaltungen entwickelt, die von DJs aus ganz Europa inspiriert werden und an denen Hunderte von Tänzern aus der ganzen Region teilnehmen.“

Merke:

„Bei uns sind alle Tänzer, Stile und Philosophien willkommen. Wir sind die menschliche Verbindung in der Finanzhauptstadt Europas.“

https://frankfurt-tango-society.org/team-fts/

Über den DJ des Abends, Vincent van ‘t Laar, heißt es:

„Er glaubt, dass es als DJ wichtig ist, den Raum zu lesen und einen kohärenten und fließenden Übergang zwischen den Orchestern und Sängern der 30er/40er Jahre zu bieten.“

https://frankfurt-tango-society.org/event/la-tardecita-february/

Ich habe mir die Mühe gemacht, die Beschreibungen der anderen DJs anzusehen. Sie werben weitestgehend damit, „traditionell“ aufzulegen. Wie man damit „alle Tänzer, Stile und Philosophien“ ansprechen will, weiß ich nicht.

Interessanterweise vermeidet man aber, die Veranstaltungen explizit als historisch-konservativ zu bewerben. Sieht halt besser aus – ein Trend, den ich schon seit einiger Zeit beobachte: Man tut so, als sei die angebotene Tangomusik die einzige, welche es überhaupt gebe.

Nach offizieller Lesart soll sich eine Ronda ja im Kreis bewegen. Das tut sie hier kaum. Fast alle Paare kreiseln vorwiegend auf der Stelle, da es vor ihnen ja auch nur wenig weitergeht.

Betrachten wir das Paar mit der Dame im roten Kleid: Von 1:30 bis 2:20 kommen die beiden geschätzte drei Meter vorwärts, was einer Fortbewegungs-Geschwindigkeit von 0,22 km/h entspricht. Und das bei eher flotter Musik! Die normale menschliche Schrittgeschwindigkeit wird in der Literatur mit 3,6 km/h angegeben – also 16 Mal schneller!

Wahrlich: Die Grundbewegung beim Tango ist nicht das Gehen („Caminar“), sondern das Drehen!

Sehen Sie selber:

https://www.youtube.com/watch?v=ZZtt_1fUqfs

Ein Kommentator schreibt dazu auf YouTube:

„So sehen also normale Leute beim Tango aus. Vielleicht streiche ich es von meiner Wunschliste.“

Nachts wird es übrigens nicht schneller, eher im Gegenteil:

https://www.youtube.com/watch?v=7vkA_sWr6Jk

Platz wäre genug – daran liegt es nicht. Sondern an der choreografischen Verarmung. Eigentlich tanzen fast alle das Gleiche. Wie schreibt der Verein? „Verschiedene Stile“… dass ich net lach!

Irgendwie ist man in der tänzerischen Ideologie gefangen – so wie Rilkes „Panther“ im Zoo:

Ihr Blick ist vom Vorübergehn der Takte
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Sie glauben, dass es nur ihre Tangos gäbe
und hinter ihren Tangos eine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig kurzer Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz ohn‘ Kraft um eine Mitte,
in der betäubt kein großer Wille steht.

Bei der Cortina schiebt der Vorhang der Pupillen
sich lautlos auf –. Dann geht ein Ton hinein,
geht durch der Glieder ungespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Kommentare

  1. Warum staendig dieses Herziehen ueber Leute, mit denen Sie nichts zu tun haben moechten? Sie haben doch die richtige Schlussfolgerung gezogen, als Sie sich entschlossen, diese Veranstaltungen zu vermeiden. Warum dann dieses oeffentliche Auskeilen gegen Leute, die Ihnen nichts getan haben? Zur gegenseitigen Akzeptanz der unterschiedlichen Stile tragen Sie so nicht bei. Gruss, Doris Lennart

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    1. Zur Akzeptanz unterschiedlicher Tangostile trägt man vor allem dann nicht bei, wenn man dies zwar behauptet, in der Praxis aber nur ein ideologisch gefiltertes Musikprogramm anbietet.
      Mit einer solchen "Rosstäuscherei" wird man sich weiterhin die Eintrittskarte auf mein Blog verdienen.

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  2. Hallo Gerhard,

    beim ersten Lesen Deines Artikels hatte ich NICHT alle Aspekte korrekt erfasst, eingeordnet und verstanden. Erst nachdem ich mir die beiden verlinkten Videos angeschaut, mir die Homepage der Frankfurt Tango Society angesehen und mir die Einladung zu der von Dir verlinkten Milonga durchgelesen hatte wurde mir klar, dass es sich ja um zwei völlig VERSCHIEDENE Veranstalter handelt.

    : -)
    Offenbar passt mein Erfassungsproblem exakt ins intellektuelle Muster, welches Du fürchtest, auch bei anderen Deiner Leser vorzufinden (Artikel vom 21.04.2023).
    Aber zu meiner Ehrenrettung muss ich anmerken: Der Inhalt Deiner Artikel ist mir beim Lesen nicht Wurst - immerhin.
    : -)

    In der Hoffnung, Deinen Text inzwischen einigermaßen erfasst zu haben, wollte ich gerne anmerken, dass ich mich zwar nicht durch die Warnung ‚Codigos: Wir tanzen rücksichtsvoll in der Ronda.‘ von einem Besuch abhalten ließe – aber durchaus verstehe, wenn andere lieber an Orten Tanzen, an denen es keine rücksichtsvolle Ronda gibt.
    Insofern finde ich es praktisch, dass Carsten Buchholz neue Gäste bereits im Vorfeld vor seinen rücksichtsvollen Stammgästen und vor einer Ronda warnt.

    In den beiden von Dir verlinkten Videos habe ich unterschiedliche Tänzer, Stile und Philosophien wahrgenommen – und dabei niemanden erkannt, der besonderen Anstoß an jenen Gästen genommen hätte, die es mit einer strikten Einhaltung eines Platzes in der Ronda eher à la légère nahmen.
    Aber es stimmt: Was die Frankfurter Tango Society angeht, die könnte natürlich ihren Netzauftritt etwas schärfen. Sie könnte vielleicht folgendes schreiben: „Bei uns sind alle Tänzer, Stile und Philosophien willkommen – auch wenn auf unseren Milongas nicht alle musikalischen Ausprägungen des Tangos aufgelegt werden.“ Und man könnte sicherlich auch dort vor einer Ronda warnen.

    Liebe Grüße in die Ronda,
    Matthias Botzenhardt

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    1. Lieber Matthias,

      die sollen einfach schreiben, dass sie traditionelle Milongas veranstalten. Punkt. Vielleicht befürchtet man doch, einige Besucher könnten wegbleiben, wenn man das so deutlich sagt.

      Ob der Veranstalter der Milonga „La Nochecita“ (14.2.18) ebenfalls die „Frankfurt Tango Society“ ist, wird nicht ganz klar. Ich habe es vermutet, da dieser Verein inzwischen gleichnamige Veranstaltungen ausrichtet. Gleichartig dürfte der Event im zweiten Video allerdings schon sein.

      Was ich als Gast bei einem Tanzabend erwarte, ist Rücksicht – auf eine „rücksichtsvolle Ronda“ verzichte ich gerne, weil sie mir meist einen Schleichtanz aufzwingt.

      Echt, konnte man in den Videos unterschiedliche Stile und gar „Philosophien“ erkennen? Da siehst du mehr als ich! Ich tanze einfach zur Musik – ich wüsste gar nicht, wie ich eine bestimmte „Philosophie“ (selbst wenn ich eine hätte) auf dem Parkett ausdrücken sollte.

      Na ja – und selbst, wenn man es mit der strengen Ronda nicht so ernst nehmen sollte, wird man das kaum in einem Video veröffentlichen. Aber klar – es werden weitestgehend Besucher kommen, denen dieser Tanzstil zusagt.

      Ob und wie man meine Artikel versteht, ist nicht meine Sache. Ich würde nur wünschen, dass man einigermaßen bei dem bleibt, was man für das Thema hält. Und meine Texte nicht vorwiegend als Anlass für persönliche Attacken missbraucht.

      Danke und beste Grüße
      Gerhard

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